Mündliche Soziologie Diplomprüfung
Bourdieu - Feldtheorie - Kapitalien
Verfasser: Nicolai Großherr
Stand: 27. März 2012
Inhaltsverzeichnis
1
Kapitalien
1
1.1
Die Wiederentdeckung des Kapitals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
1.2
Das Kapital als strukturierende Kraft
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2
1.3
Die Kapitalsorten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
1.3.1
Ökonomisches Kapital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4
1.3.2
Kulturelles Kapital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5
1.3.2.1
Inkorporiertes Kulturkapital
. . . . . . . . . . . . . . . . .
6
1.3.2.2
Objektiviertes Kulturkapital
. . . . . . . . . . . . . . . . .
7
1.3.2.3
Institutionalisiertes Kulturkapital
. . . . . . . . . . . . . .
8
1.3.2.4
Modi der Aneignung von Kulturkapital
. . . . . . . . . . .
9
1.3.3
Soziales Kapital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
12
1.3.4
Symbolisches Kapital
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
1.3.5
Kapitalumwandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
1.4
Verknüpfung des Kapitals mit Feld und Habitus
. . . . . . . . . . . . . . . .
19
2
Feldtheorie
21
2.1
Felder sind relationale Räume
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
2.2
Spezifizierung des Feldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26
3
Habitus
30
3.1
Habitus - Inkorporation und Generativität
. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
3.1.1
Inkorporation
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
3.1.2
Generativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
35
3.2
Wirkungsweise des Habitus
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37
Fußnoten
a
Literatur
b
1 Kapitalien
1 Kapitalien
1.1 Die Wiederentdeckung des Kapitals
Bourdieu lag, wie er selbst sagt, daran, „den Kapitalbegriff
wieder einzuführen, und mit ihm das Konzept der Kapitalak-
kumulation mit allen seinen Implikationen“1
Dies kann insbesondere als Anschluss an bzw. Fortfüh-
rung der marxistischen Tradition kapitalorientierter Gesell-
schaftstheorie verstanden werden.
→ „Allgemein ist Kapital »soziale Energie«, die »Energie der sozialen Physik«,
»a form of power«.“2
Mit diesen Umschreibungen wird schlicht zum
Ausdruck gebracht, dass es das Kapital ist das der Gesellschaft ihre Form
gibt.
→ „Auf das Kapital ist es zurückzuführen, daß die Wechselspiele des gesell-
schaftlichen Lebens (. . .) nicht wie einfache Glücksspiele verlaufen (. . .).“3
Weiterhin führt die Einteilung durch das Kapital also dazu, dass die Ge-
sellschaft keine beliebige, sondern eine gemäß der Kaptialien geordnete
Struktur besitzt.
„Das Kapital ist eine der Objektivität der Dinge innewohnen-
de Kraft, die dafür sorgt, daß nicht alles gleich möglich oder
unmöglich ist.“4
1
1 Kapitalien
1.2 Das Kapital als strukturierende Kraft
„Die zu einem bestimmten Zeitpunkt gegebene Verteilungs-
struktur verschiedener Arten und Unterarten von Kapital ent-
spricht der immanenten Struktur der gesellschaftlichen Welt
(. . .).“5
→ Das heißt nicht nur die Klassen, sondern auch die Gesellschaftsstruk-
tur an sich, bedingt durch die sie konstituierenden Klassen, ergibt sich
daraus, wie Kapital zwischen einzelnen Gesellschaftsmitgliedern und
Gesellschaftsgruppen verteilt ist.
„Die Gesellschaft selbst versteht Bourdieu als Klassengesell-
schaft. Die Klassen unterscheiden sich nach der Struktur ihres
Kapitals.“6
Kap. 1.3, S. 3
→ „Die Klassen unterscheiden sich vielmehr nach der Verfügung über drei Die 3 Sorten sind:
Kapitalsorten.“7
Insofern können Klassen anhand der Kapitalverteilung,
(1) ökonomisches,
(2) kulturelles,
(3) soziales
d.h. in welchem Maße sie auf die verschiedenen Kapitalien Zugriff haben,
Kapital.
bestimmt werden.
→ „(. . .) Die Akkumulation von Kapital, ob nun in objektivierter oder verin-
nerlichter Form, braucht Zeit.“8 Hierbei kann Akkumulation als habi-
Kap. 1.3, S. 3
tuelle Aneignung von gesellschaftlichem Kapital verstanden werden. bzgl. Habitus
Dieser Akkumulationsprozess geschieht auf einer Zeitschiene und ist von
konstanten Schritten geprägt. Gesellschaftliche Veränderung verläuft
spiegelbildlich dazu, die Felder entwickeln sich demnach parallel.
Kapital strukturiert somit sowohl die Felder als auch den Ha-
bitus der Individuen. Die Klassen wiederum zeichnen sich
durch einen spezifisch zuschreibbaren Kanon an inkorpo-
rierten und strukturellen Bedingungen aus. Dieser Kanon
kann auf das Kapital zurückgeführt werden.
2
1 Kapitalien
1.3 Die Kapitalsorten
„Das Kapital kann auf drei grundlegende Arten auftreten.“9
→ „Neben den drei zentralen Kapitalsorten erwähnt B. [unter anderem, N.G.] Kap. 1.3.4, S. 15
noch das symbolische Kapital.“10
Es ist aber keine zentrale Kapitalsorte,
ausführliche Ausfüh-
rungen bezüglich des
symbolischen Kapitals
sondern vielmehr die Form in der die anderen Kapitalsorten auftreten.
Oder anders gesagt, dass symbolische Kapital verleiht den anderen Kapi-
talsorten einen - gewissermaßen übergeordneten - (Sinn-)Inhalt.
→ „Im Einzelnen verwendet Bourdieu die Begriffe für die Kapitalsorten nicht
immer konsistent (. . .).“11 Insbesondere im Rahmen seiner empirischen
Studien tendiert er dazu verschiedene andere Kapitalien anzudenken,
allerdings ohne das er damit die zentrale Bedeutung der drei Grundkapi-
talarten prinzipiell in Frage stellen würde.
→ „Verschiedentlich erwähnt Bourdieu beiläufig weitere Kapitalformen, die
nicht eindeutig als Unterarten eines der o.g. Kapitalsorten subsummiert
werden können, so das physische bzw. Körperkapital als eine offensicht-
lich biosozial verstandene Kategorie: Stärke, Gesundheit; Schönheit nach
den jewiligen kulturellen Standards.“12
„Bourdieu bezeichnet sie [die drei zentralen Kapitalsorten,
N.G.] als ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital.“13
3
1 Kapitalien
1.3.1 Ökonomisches Kapital
„Das ökonomische Kapital bezeichnet das Kapital, das im en-
geren Sinne bislang als solches verstanden wurde, also etwa
Eigentum und Vermögen. Es ist relativ direkt in Geld konver-
tierbar.“14
→ „Das ökonomische Kapital ist unmittelbar und direkt in Geld konvertier-
bar und eignet sich besonders zur Institutionalisierung in der Form des
Eigentumsrechts.“15
→ „Selbstverständlich hat es [das ökonomische Kapital; N.G.] eine hohe Bedeu-
tung für die Differenzierung nach Klassen, indem man sich gesellschaftliche
Güter leisten kann oder nicht.“16
→ „Zum ökonomischen Kapital zählen alle Formen des materiellen Besitzes
(. . .).“17
Ökonomisches Kapital kann im allgemeinen als materieller
Besitz angesehen werden. Weiterhin ist ökonomisches Kapi-
tal direkt in Geld konvertierbar und gesellschaftlich mittels
des Eigentumsrechts institutionalisiert.
Bourdieu „bezeichnet (. . .) das ökonomische Kapital als pri-
mär, das ökonomische Feld als tendenziell dominat.“18
4
1 Kapitalien
1.3.2 Kulturelles Kapital
„(. . .) Für den Kampf um gesellschaftliche Macht ist ein weite-
res Kapital entscheidend, das kulturelle Kapital.“19
→ „Darunter versteht B. Wissen, Qualifikationen und Bildungstitel, aber auch
Einstellungen und Handlungsformen, die in der Familie und in Ausbil-
dungssystemen erworben werden.“20
→ „Vor allem über das kulturelle Kapital wird eine für jede Klasse typische Art
zu denken und zu handeln geformt.“21 Kulturelles Kapital ist demnach
maßgeblich für die Entwicklung des Habitus - sei es des individuellen
oder des kollektiven, wobei letzterer auch als Klassenhabitus verstanden
werden kann.
„Bourdieu differenziert drei Formen kulturellen Kapitals.“22
Die drei Formen kulturellen Kapitals
→ „Das kulturelle Kapital tritt in drei Kristallisierungsformen auf23; Das
kulturelle Kapital nimmt drei Formen an24; Das kulturelle Kapital kann in
drei Formen existieren25.“
→ Die drei Formen des kulturellen Kapitals sind:
– „objektivierte Form des kulturellen Kapitals, inkorporierter Zustand
des kulturellen Kapitals, institutionalisierte Form des kulturellen Kapi-
tals“26
– „inkorporiertes Kulturkapital, objektiviertes Kulturkapital, institutio-
nalisiertes Kulturkapital“27
1. „in verinnerlichtem, inkorporierten Zustand , in Form von dauerhaften
Dispositionen des Organismus,
2. in objektiviertem Zustand , in Form von kulturellen Gütern (. . .),
3. in institutionalisiertem Zustand , einer Form von Objektivation (. . .).“28
5
1 Kapitalien
1.3.2.1 Inkorporiertes Kulturkapital
Kulturkapital als Inkorporation kann als dauerhafte Disposi-
tion des Körpers aufgefasst werden.
→ „Die meisten Eigenschaften des kulturellen Kapitals lassen sich aus der
Tatsache herleiten, dass es grundsätzlich körpergebunden ist und Verin-
nerlichung (incorporation) voraussetzt.“29
→ „Inkorporiertes Kapital ist ein Besitztum, das zu einem festen Bestandteil der
»Person«, zum Habitus geworden ist; aus »Haben« ist »Sein« geworden.“30
→ „Seine Verinnerlichung, d. h. Einverleibung, kostet Zeit (Unterrichts-, Lern-
zeit), die ‚vom Investor persönlich investiert werden‘ muss (1983a, S. 186).“31;
Inkorporiertes Kulturkapital „(. . .) setzt einen Verinnerlichungsprozess
voraus, der in dem Maße, wie er Unterrichts- und Lernzeit erfordert, Zeit
kostet“32
Inkorporation von Kulturkapital ist nur über die Investition
von Zeit möglich. In dieser Zeit wird vorhandenes ökono-
misches und soziales Kapital in kulturelles Kapital transfor-
miert - Besitz von Kapital wird zu Habitus.
6
1 Kapitalien
1.3.2.2 Objektiviertes Kulturkapital
Objektiviertes Kulturkapital zeichnet sich dadurch aus, dass
es sich in materiellen kulturellen Gütern festmachen lässt.
→ Kulturkapital ist, in seinem objektivierten Zustand, in Form von kulturel-
len Gütern - Bilder, Bücher, Instrumente, Maschinen etc. - „(. . .) materiell
übertragbar, allerdings nur als juristisches Eigentum. Die eigentliche An-
eignung erfordert die (nicht oder nicht notwendigerweise übertragbare)
‚Verfügung über kulturelle Fähigkeiten, die den Genuß eines Gemäldes
oder den Gebrauch einer Maschine erst ermöglichen‘ (1983a, S. 188) – also
inkorporiertes Kulturkapital.“33
→ „Kulturelle Güter können somit entweder zum Gegenstand materieller An-
eignung werden; dies setzt ökonomisches Kapital voraus. Oder sie können
symbolisch angeeignet werden, was inkorporiertes Kulturkapital voaus-
setzt.“34
→ „Dabei darf freilich nicht vergessen werden, dass das objektivierte Kultur-
kapital als materiell und symbolisch aktives und handelndes Kapital nur
fortbesteht, sofern es von Handelnden angeeignet und in Auseinanderset-
zung als Waffe und Einsatz verwendet wird.“35
In Bezug auf objektiviertes Kulturkapital ist weiterhin fest-
zuhalten, dass die materielle Übertragung nur einen Aspekt
ausmacht. Der darüber hinaus gehende Aspekt ist, dass die
kulturellen Güter symbolisch angeeignet werden müssen,
um sie im Kampf um die gesellschaftliche Ordnung einset-
zen zu können.
7
1 Kapitalien
1.3.2.3 Institutionalisiertes Kulturkapital
Institutionalisiertes Kulturkapital wurde mittels Objektivati-
on institutionalisiert, also als eigenständige gesellschaftliche
Größe definiert.
→ „Institutionalisiertes Kulturkapital in Form von (Bildungs-)Titeln ist
schulisch sanktioniert und rechtlich garantiert. Es ist ‚nicht nur relativ
unabhängig von der Person seines Trägers . . . , sondern auch von dem
kulturellen Kapital, das dieser tatsächlich zu einem gegebenen Zeitpunkt
besitzt‘ (1983a, S. 190).“36
→ „Inkorporiertes Kulturkapital ist den gleichen biologischen Grenzen unter-
worfen wie seine jeweiligen Inhaber. Die Objektivierung von inkorporiertem
Kulturkapital in Form von Titeln ist ein Verfahren, mit dem dieser Mangel
ausgeglichen wird (. . .).“37
→ „Die Alchemie des gesellschaftlichen Lebens hat daraus eine Form von kul-
turellem Kapital geschaffen, dessen Geltung nicht nur relativ unabhängig
von der Person seines Trägers ist, sondern auch von dem kulturellen Kapital,
das dieser tatsächlich zu einem gegebenen Zeitpunkt besitzt (. . .).“38
→ „In diesem Fall [der Selektion durch Prüfungen; N.G.] sieht man deutlich,
welche schöpferische Magie sich mit dieser institutionalisierten Macht
verbindet, der Macht, Menschen zu veranlassen, etwas zu sehen und zu
glauben oder mit einem Wort, etwas anzuerkennen.“39
Dabei zeichnet sich institutionalisiertes Kulturkapital durch
seine relative Unabhängigkeit vom Individuum und seiner
momentanen Kapitalausstattung aus. Es ist Institution, also
Wert an sich, geworden. Dies wird durch den gemeinsamen
Glauben an diesen Wert sowie die gegenseitige Anerken-
nung dessen verstärkt.
8
1 Kapitalien
1.3.2.4 Modi der Aneignung von Kulturkapital
→ „Die Inkorporierung von kulturellem Kapital kann sich – je nach Epoche,
Gesellschaft und sozialer Klasse in unterschiedlich starkem Maße – ohne
ausdrücklich geplante Erziehungsmaßnahmen, also völlig unbewußt voll-
ziehen. Verkörpertes Kulturkapital bleibt immer von den Umständen seiner
ersten Aneignung geprägt.“40
→ „Weil die sozialen Bedingungen der Weitergabe und des Erwerbs von kultu-
rellem Kapital viel verborgener sind, als dies beim ökonomischen Kapital
der Fall ist, wird es leicht als bloßes symbolisches Kapital aufgefaßt (. . .).
Des weiteren ergibt sich aus dieser wahrhaft »symbolischen Logik«, daß der
Besitz eines großen kulturellen Kapitals als »etwas besonderes« aufgefaßt
wird und deshalb zur Basis für weitere materielle und symbolische Profite
wird (. . .).“41
Kulturelles Kapital wird anerzogen, d.h. allerdings nicht,
dass diese Erziehung geplant ist, vielmehr geschieht ein
Großteil der Inkorporation ohne übergeordneten Plan. Die
damit verbundene (soziale) Übertragung von kulturellem Ka-
pital ist relativ verborgen. Daraus resultiert auch, dass es
leicht als symbolisches Kapital aufgefasst wird.
→ „Die stärkste Grundlage für die symbolische Wirksamkeit von kulturellem
Kapital ergibt sich aber zweifellos aus der Logik seiner Übertragung: Einer-
seits ist der Prozeß der Aneignung von objektiviertem kulturellem Kapital
(also: die dafür erforderliche Zeit) bekanntlich in erster Linie von dem in der
gesamten Familie verkörperten kulturellen Kapital abhängig; andererseits
ist aber auch bekannt, daß die Akkumulation kulturellen Kapitals von
frühester Kindheit an - die Voraussetzung zur schnellen und mühelosen
Aneignung jeglicher Art von nützlichen Fähigkeiten - ohne Verzögerung
und Zeitverlust nur in Familien stattfindet, die über ein so starkes Kultur-
kapital verfügen, daß die gesamte Zeit der Sozialisation zugleich eine Zeit
der Akkumulation ist. Daraus folgt, daß die Übertragung von Kulturkapi-
tal zweifellos die am besten verschleierte Form erblicher Übertragung von
Kapital ist. Deshalb gewinnt sie in dem System der Reproduktionsstrategien
von Kapital um so mehr an Gewicht, je mehr die direkten und sichtbaren
Formen der Übertragung sozial mißbilligt und kontrolliert werden.“42
9
1 Kapitalien
Die Übertragung kulturellen Kapitals ist abhängig von:
1. dem im sozialen Umfeld, speziell der Familie, vorhande-
nen kulturellen Kapital
2. der reibungs- und mühelosen Weitergabe, die am leich-
testen im Verlauf der Sozialisation, also ab der frühesten
Kindheit, umgesetzt werden kann – speziell in Bezug
auf die für die Verinnerlichung notwendige Zeit ist das
entscheidend
Die Übertragung von Kulturkapital ist die am besten ver-
schleierte Form erblicher Übertragung von Kapital.
→ „In engem Zusammenhang damit steht außerdem die Tatsache, daß ein
Individuum die Zeit für die Akkumulation von kulturellem Kapital nur
so lange ausdehnen kann, wie ihm seine Familie freie, von ökonomischen
Zwängen befreite Zeit garantieren kann.“43
→ „Es ist unmittelbar ersichtlich, daß die zum Erwerb erforderliche Zeit das
Bindeglied zwischen ökonomischem und kulturellem Kapital darstellt.“44
Zeit ist insofern als verbindendes Element zwischen ökono-
mischen und kulturellem Kapital anzusehen als ökonomi-
sche Sicherheit gesicherte Zeit der Aneignung kulturellen
Kapitals gewährleistet.
→ „Dabei darf freilich nicht vergessen werden, dass das objektivierte Kultur-
kapital als materiell und symbolisch aktives und handelndes Kapital nur
fortbesteht, sofern es von Handelnden angeeignet und in Auseinanderset-
zung als Waffe und Einsatz verwendet wird. Ort dieser Auseinandersetzung
ist das Feld der kulturellen Produktion (Kunst, Wissenschaft usw.) und,
darüber hinaus, das Feld der sozialen Klassen. Dort setzen die Handeln-
den ihre Kräfte ein und erhalten Profite, die dem Grad ihrer Fähigkeiten
zur Beherrschung objektivierten Kulturkapitals (also: ihrem inkorporierten
Kulturkapital) entsprechen.“45
10
1 Kapitalien
Kämpfe um gesellschaftliche Macht werden in den Feldern
des kulturellen Kapitals ausgetragen. Hierbei kommt es dar-
auf an, dass das Individuum in der Lage seinem objektivier-
ten Kulturkapital symbolische Wirksamkeit zu verschaffen -
Kampf um die symbolische Ordnung. Dafür braucht das In-
dividuum wiederum inkorporiertes Kulturkapital, da dieses
die Befähigung zum Umgang mit objektiviertem Kulturkapi-
tal ermöglicht.
11
1 Kapitalien
1.3.3 Soziales Kapital
Als eine Kapitalform „(. . .) nennt Bourdieu das soziale Kapital.
Darunter kann man im weitesten Sinne die sozialen Beziehun-
gen verstehen, über die eine Person verfügt.“46
→ „Das Sozialkapital ist die Gesamtheit der aktuellen und potenziellen Res-
sourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger
institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens
verbunden sind; oder, anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Res-
sourcen, die auf Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen.“47
→ „Das soziale Kapital besteht aus Möglichkeiten, andere um Hilfe, Rat der
Informationen zu bitten sowie aus den mit Gruppenzugehörigkeit verbunde-
nen Chancen, sich durchzusetzen. Substrat dieser Kapitalsorte ist das Netz
der sozialen Beziehungen (. . .).“48
→ „Mit sozialem Kapital meint Bourdieu Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit
zu einer Gruppe beruhen (. . .), man hat ein Netzwerk von Beziehungen.
Dieses Kapital ist erheblich von der familiären Herkunft abhängig, es
bedarf aber auch einer dauerhaften Beziehungsarbeit, um dieses Kapital
aufrechtzuerhalten..“49
Sozialkapital kann als Netz sozialer Beziehungen verstanden
werden. Dabei können Ressourcen, d.h. die Möglichkeiten
zu materiellen und/oder symbolischen Tauschbeziehungen,
die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen nutzbar
gemacht werden.
→ „Sozialkapitalbeziehungen können nur in der Praxis auf der Grundlage von
materiellen und/oder symbolischen Tauschbeziehungen existieren, zu deren
Aufrechterhaltung sie beitragen.“50
→ „Der Umfang des Sozialkapitals, das der einzelne besitzt, hängt demnach
sowohl von der Ausdehnung des Netzes von Beziehungen ab, die er tat-
sächlich mobilisieren kann, als auch von dem Umfang des (ökonomischen,
kulturellen und symbolischen) Kapitals, das diejenigen besitzen, mit denen
er in Beziehung steht. Obwohl also das Sozialkapital nicht unmittelbar auf
12
1 Kapitalien
das ökonomische und kulturelle Kapital eines bestimmten Individuums oder
auch der Gesamtheit derer, die mit ihm verbunden sind, reduziert werden
kann, ist es doch niemals völlig unabhängig davon; denn die in den Aus-
tauschbeziehungen institutionalisierte gegenseitige Anerkennung setzt das
Anerkennen eines Minimums von »objektiver« Homogenität unter den Be-
teiligten voraus; außerdem übt das Sozialkapital einen Multiplikatoreffekt
auf das tatsächlich verfügbare Kapital aus.“51
Der Umfang des Sozialkapitals hängt einerseits von der Grö-
ße des sozialen Netzwerkes, insbesondere der Fähigkeit die-
ses zu mobilisieren, ab und steht andererseits damit im Zu-
sammenhang welchen Umfang an Kapital diejenigen die
durch die Mobilisation erreicht werden können zur Ver-
fügung haben. Daraus folgt, dass Sozialkapital, obwohl es
nicht auf das ökonomische und kulturelle Kapital im Netz
der Beziehungen verkürzt werden darf, doch in engem Zu-
sammenhang mit dem ökonomischen und kulturellen Kapi-
tals des Netzwerkes steht.
→ „Die Existenz eines Beziehungsnetzes ist weder eine natürliche noch eine
soziale »Gegebenheit« (. . .). Sie ist vielmehr das Produkt einer fortlaufenden
Institutionalisierungsarbeit.“52
→ „Diese Institutionalisierungsarbeit ist notwendig für die Produktion und
Reproduktion der dauerhaften und nützlichen Verbindungen, die Zugang zu
materiellen und symbolischen Profiten verschaffen. Anders ausgedrückt, das
Beziehungsnetz ist das Produkt individueller oder kollektiver Investitionss-
trategien, die bewußt oder unbewußt auf die Schaffung und Erhaltung von
Sozialbeziehungen gerichtet sind, die früher oder später einen unmittelbaren
Nutzen versprechen.“53
→ „Für die Reproduktion von Sozialkapital ist eine unaufhörliche Bezie-
hungsarbeit in Form von ständigen Austauschakten erforderlich, durch
die sich die gegenseitige Anerkennung immer wieder neu bestätigt.“54
Zur Aufrechterhaltung von Sozialkapital ist Beziehungsar-
beit notwendig. Ziel ist dabei die Schaffung quasi institutio-
13
1 Kapitalien
nalisierter sozialer Beziehungen, weswegen dies auch als In-
stitutionalisierungsarbeit bezeichnet werden kann. Nur die
fortgesetzte Investition in Form dieser Arbeit gewährleistet
die Reproduktion von Sozialkapital.
14
1 Kapitalien
1.3.4 Symbolisches Kapital
„Neben den drei zentralen Kapitalsorten erwähnt B. noch das
symbolische Kapital.“55
→ „Es ist im Grunde keine eigene Kapitalform, sondern der symbolische Effekt
der Kapitalsorten. Es geht um die gesellschaftliche Einschätzung eines
bestimmten Kapitals.“56
→ „Das symbolische Kapital sei im Grunde »die Form«, in der eine der drei
Kapitalgrundarten (ökonomisch, kulturell, sozial) auftritt (. . .).“57
„Das symbolische Kapital besteht aus den Chancen, soziale An-
erkennung und soziales Prestige zu gewinnen und zu erhal-
ten.“58
→ „(. . .) das symbolische Kapital bezeichnet das Prestige oder Renommee einer
Person, es ist die ’wahrgenommene und als legitim anerkannte Form der
drei vorgenannten Kapitalien’ (Bourdieu1989, 11)“59
→ „Symbolisches Kapital gründet auf Bekanntheit und Anerkennung (1992a,
37) und ist mehr oder minder synonym mit: Ansehen, guter Ruf, Ehre,
Prestige, Reputation, Renommee. Es ist die, wahrgenommene und als legitim
anerkannte Form des ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapitals
(1985a, 11).“60
Das symbolische Kapital ist die Anerkennung des symbo-
lisch Wertes des ökonomischen, kulturellen und sozialen Ka-
pitals. Es wird letztlich mehr oder weniger direkt dem Indi-
viduum zugeschrieben, oder anders gesagt, Individuen mit
einer bestimmten Kapitalausstattung erhalten zugleich die
damit verbundene symbolische Anerkennung.
→ „An anderer Stelle wird soziales und symbolisches Kapital letztlich gleich-
gesetzt: Das Sozialkapital bewege sich, so ausschließlich in der Logik des
Kennes und Anerkennens, daß es immer als symbolisches Kapital funktio-
niert (1983a, 195).“61
15
1 Kapitalien
→ „Der Art nach, wie symbolisches Kapital entsteht, unterscheidet es sich vom
ökonomischen und vom kulturellen Kapital.“62
Symbolisches und soziales Kapital weisen in ihrer Entste-
hung, aufgrund der Tatsache, dass beide auf dem Punkt des
Anerkennens beruhen, starke Ähnlichkeiten auf. Wohinge-
gen sich die Entstehung von der des ökonomischen und kul-
turellen Kapitals unterscheidet.
→ „Das symbolische Kapital steht nicht fest, sondern hängt von den Regeln
der Gruppe ab, die es anerkennt oder ablehnt. Insofern gibt es auch einen
ständigen Kampf um die symbolische Ordnung, in die man sich selbst
einordnet und von anderen eingeordnet wird. Eine symbolische Ordnung
beinhaltet immer Bewertungen, bringt also zum Ausdruck, was wichtiger
oder weniger wichtig, richtig oder falsch, gut oder schlecht ist. Das soziale
Leben ist ein Kampf um die symbolische Ordnung, und insofern stellt sich
auch die Ordnung der Gesellschaft als ein Prozess, als ein Kampf um die
symbolische Ordnung dar!“63
Das symbolische Kapital wird durch die Anerkennungsre-
geln der für es bestimmenden Gruppe definiert. Dabei wird
in der Gruppe und der Gesellschaft ständig um die Ausge-
staltung der symbolischen Ordnung gerungen.
Das soziale Leben ist ein Kampf um die symbolische Ord-
nung, und insofern stellt sich auch die Ordnung der Gesell-
schaft als ein Prozess, als ein Kampf um die symbolische
Ordnung dar!
16
1 Kapitalien
1.3.5 Kapitalumwandlung
„Die verschiedenen Kapitalarten sind gegenseitig konvertier-
bar, ihre Übertragbarkeit ist allerdings unterschiedlich auf-
wendig.“64
→ „Die verschiedenen Kapitalsorten sind Bourdieu zufolge mehr oder weniger
gegenseitig konvertibel (. . .).“65 Dabei ist allerdings zu berücksichtigen,
dass die Konvertierung von einer Kapitalsorte in die andere immer mit
Verlusten verbunden ist. Es ist also von Vorteil, wenn man nicht kon-
vertieren muss, sondern schon die richtige, also für das Feld passende,
Kapitalsorte in ausreichender Menge zur Verfügung hat.
Die Konvertierung der verschiedenen Kapitalsorten ineinan-
der ist möglich.
→ „Die anderen Kapitalarten können mit Hilfe von ökonomischem Kapital
erworben werden, aber nur um den Preis eines mehr oder weniger großen
Aufwandes an Transformationsarbeit, die notwendig ist, um die in dem
jeweiligen Bereich wirksame Form der Macht zu produzieren“66
→ „So kann kulturelles und soziales Kapital mit Hilfe ökonomischen Kapitals
erworben werden, aber nur um den Preis von ‚Transformationsarbeit‘ (1983a,
S. 195).“67
→ „Kultur- bzw. Sozialkapital können umgekehrt untergewissen Voraussetzun-
gen in ökonomisches Kapital umgewandelt werden. Dabei können Verluste
(Schwund) auftreten. Gewinne auf einem Gebiet werden notwendigerweise
mit Kosten auf einem anderen Gebiet bezahlt.“68
Ökonomisches Kapital kann in die anderen Kapitalarten um-
gewandelt werden; ebenso ist es möglich kulturelles und so-
ziales Kapital in ökonomisches Kapital zu überführen. Dabei
gilt allerdings immer, dass die Transformation von Kapital
mit Verlusten einher geht.
17
1 Kapitalien
→ „Die Tatsache der gegenseitigen Konvertierbarkeit der verschiedenen Kapi-
talarten ist der Ausgangspunkt für Strategien, die die Reprodunktion des
Kapitals (un der Position im sozialen Raum) mit Hilfe möglichst geringer
Kapitalumwandlungskosten (Umwandlungsarbeit und inhärente Umwand-
lungsverluste) erreichen möchten.“69
→ „Der arbiträre Charakter der Aneignung [von Macht; N.G.] zeigt sich
nirgends deutlicher als bei der Übertragung von Kapital, vor allem bei der
Sukzession, einem kritischen Moment für jede Macht. Jede Reproduktionss-
trategie ist deshalb unausweichlich auch eine Legitimationsstrategie, die
darauf abzielt, sowohl die exklusive Aneignung wie auch ihre Reproduktion
sakrosant zu machen.“70
Die Konvertierbarkeit der Kapitalarten ist Ausgangspunkt
der Entwicklung von Strategien. Dabei ist das Ziel immer
mit geringst möglichen Verlusten den größtmöglichen Ge-
winn zu erzielen. Einerseits bezüglich der bei der Umwand-
lung erhaltenen Kapitalausbeute und andererseits in Bezug
auf die mit der Strategie angestrebte Veränderung der sozia-
len, gesellschaftlichen Position.
18
1 Kapitalien
1.4 Verknüpfung des Kapitals mit Feld und Habitus
„Begriffe wie Habitus, Feld und Kapital lassen sich durchaus
definieren, aber eben nur innerhalb des theoretischen Systems,
das sie bilden, und niemals für sich allein.“71
vgl. auch mit den
Ausführungen zur Ver-
bindung der Begriffe
→ „(. . .) Mit der Verfügung oder Nichtverfügung über Kapital [sind] typische, am Ende der anderen
Kapitel
klassenspezifische Formen des Denkens und Handeln verbunden (. . .).“72
Diese manifestieren sich im Einzelnen mittels des Habitus. Dabei hat der
Kap. 3.2, S. 37
Habitus
Habitus die Rolle zwischen individuellen und kollektiven kapitalbedingt-
strukturellen Erscheinungen eine vermittelnde, überbrückende Aufgabe
zu übernehmen.
Die Struktur des Kapitals bedingt klassenspezifische Denk-
und Handlungsmuster, als den (Klassen-)Habitus.
→ „Die Unterscheidung verschiedener Kapitalsorten (ökonomisch, kulturell,
sozial, symbolisch usw.) hängt mit dem Feldbegriff zusammen. Die einzel-
nen Kapitalien bilden Abgrenzungsmöglichkeiten der Felder (Spiel-Räume)
voneinander.“73
Das Kapital hängt zudem unmittelbar mit den Feldern
Kap. 2.2, S. 28
Feldtheorie
zusammen, da diese sich durch die Bestimmung welche Kapitalien in
ihnen eine wichtige Rolle spielen voneinander abgrenzen lassen.
Die Wichtigkeit eines Kapitals verweist auf die Spezifika des
Feldes.
→ „Eine soziale Position ist dann abhängig vom Kapitalvolumen, der Kapital-
struktur und schließlich einem zeitlichen Faktor, der sozialen Laufbahn.“74
Die Positionierung der einzelnen Individuums innerhalb einer bestimm-
tenen Klasse, aber auch der Gesellschaft im Allgemeinen, lässt mittels
des strukturellen Potentials der Verfügbarkeit über Kapitalien sowie über
die zeitliche Betrachtung der tatsächlichen Umsetzung dieses Potentials
des Individuums näher bestimmen.
→ „Alle drei Kapitalsorten zusammen bestimmen die Platzierung des Indivi-
duums in der gesellschaftlichen Hierarchie der Felder und im Raum seiner
19
1 Kapitalien
sozialen Praxis.“75 Allein die Betrachtung der Verfügbarkeit über - zu-
mindest - die drei genannten Kapialien lässt eine zutreffende Beurteilung
der Position innerhalb der Felder und im Raum der sozialen Praxis zu.
Das heißt im Umkehrschluss, dass die Betrachtung der Verteilung von
Einzelkapitalien nur wenig bzw. geringe Aussagekraft hat.
→ „Die ungleiche Verteilung von Kapital, also die Struktur des gesamten
Feldes, bildet somit die Grundlage für die spezifischen Wirkungen von
Kapital, nämlich die Fähigkeit zur Aneignung von Profiten und zur Durch-
setzung von Spielregeln, die für das Kapital und seine Reproduktion so
günstig wie möglich sind.“76
Kapital ist weiterhin wichtig für die soziale Position. Zum
einen hängt diese vom Kapitalvolumen ab, zum anderen ist
für sie die Kapitalstruktur wichtig und zu Letzt spielt die
vorhandene Zeit für Kapitalerwerb und -umwandlung eine
wichtige Rolle. Insofern lässt sich sagen, dass über das Ka-
pital die Position des Individuums in den Feldern bestimmt
werden kann.
20
2 Feldtheorie
2 Feldtheorie
„Die Theorie der Felder basiert auf der Vorstellung, dass in mo-
dernen Gesellschaften ein fortschreitender Differenzierungs-
prozess stattfindet und die arbeitsteilige Organisation in sozia-
len Feldern nach je spezifischen Prinzipien funktioniert.“77
→ „Mit der Theorie der sozialen Felder trägt Bourdieu der arbeitsteiligen Or-
ganisation moderner Gesellschaften Rechnung (. . .) und bezieht sich auf
das in der Moderne auffällige Phänomen der relativen Autonomie oder,
anders formuliert, der Eigenlogik abgegrenzter sozialer Sektoren.“78 Auch
B. folgt der für Theorien moderner Gesellschaften typischen Auffassung,
dass diese geliedert, differenziert, oder anders gesagt, in Teilbereiche
zerstückelt ist. Hiernei kommt er zu dem Schluss, dass diese Einzelbe-
reiche der Gesellschaft autonome, d.h. nicht direkt in andere Bereiche
übertragbare, Regeln haben, sowie, dass sie unterschiedliche Seinsberei-
che des Daseins abdecken, also relativ überschenidungsfrei in den sie
bestimmden Thematiken sind.
Die Theorie der Felder kann als Beschreibung moderner Ge-
sellschaft angesehen werden.
→ „Die soziale Welt stellt Bourdieu in Form eines mehrdimensionalen
Raumes dar (. . .). Dieser Raum lässt sich auch als Kräftefeld beschreiben,
d.h. ‚als ein Ensemble objektiver Kräfteverhältnisse, die allen in das Feld
Eintretenden gegenüber sich als Zwang auferlegen‘ (1985a, S. 10)“79 Das
heißt im Endeffekt, dass durch die den Feldern zuzuordnenden Regeln
innerhalb dieser schon spezifische Anforderungen, Zwänge, oder an-
dersherum betrachtet, Möglichkeiten, Potentiale, insgesamt allerdings
spezifische Kräfte, bestehen, die dazu führen, dass eine Kräftefeld zwi-
chen ihnen aufgespannt wird.
→ „Die Dynamik in sozialen Feldern [entsteht] aus der gemeinsamen sozialen
Praxis der AkteurInnen, die unterschiedliche soziale Positionen einnehmen
und die Eigenschaften besitzen, die notwendig sind, um im Feld Effekte zu
produzieren.“80 Bei diesen erzeugten Effekten handelt es sich kurz gefasst
um Kräfte, folgerichtig ist also die Einschätzung, dass sich die Regeln der
21
2 Feldtheorie
Felder und die in ihnen wirkenden Kräfte nicht von selbst, wie aus dem
Nichts, bilden, sondern das sie bestimmt werden von den Aktionen der
Akteure. Hierbei ist von entscheidender Bedeutung, dass Felder nicht
statisch sind, sondern sich vielmehr im Zeitverlauf entwickeln.
→ „Der soziale Raum besteht aus Teil-Räumen, Feldern; diese sind ‚historisch
konstituierte Spielräume mit ihren spezifischen Institutionen und je eige-
nen Funktionsgesetzen‘ (1992a, S. 111). Diese einzelnen Felder des sozialen
Raumes sind nicht nur Kraft- bzw. ‚Gravitationsfelder‘ (1985a, S. 72), son-
dern auch ‚Kampffelder, auf denen um Wahrung oder Veränderung der
Kräfteverhältnisse gerungen wird.‘ (1985a, S. 74)“81 Die sich historisch,
also in der Zeit, entwickelnden Felder - Spielräume - erfahren ihren
Impuls zur Entwicklung durch die Veränderung der Kräfteverhältnisse.
Um diese Veränderung wird ein, durch die Regeln des Feldes detiminier-
ter, sozialer, durch die im Feld aktiven Akteure, Kampf ausgefochten.
Bei diesem Kampf geht es um die Durchsetzung eigener Vorstellungen
- zu den Regeln, was soviel heißt wie, zur Bewertung der für das Feld
wichtiger Kapitalien - gegen die Vorstellungen der Anderen.
Dabei gibt es verschiedene (Teil-)Felder für verschiedene Be-
reiche der Gesellschaft. Es gelten in den Feldern unterschied-
liche Regeln und es werden unterschiedliche Kapitalien als
wichtig angesehen.
22
2 Feldtheorie
2.1 Felder sind relationale Räume
„In Feldbegriffen denken heißt relational denken.“82
→ „In Feldbegriffen denken heißt relational denken.“83 „Dazu heißt es erläu-
ternd in B. 1985a, S. 71: »Das Denken in Feldbegriffen erfordert eine Umkeh-
rung der gesamten Alltagssicht von sozialer Welt, die sich ausschließlich
an sichtbaren Dingen festmacht. (. . .) So setzt der (. . .) Feld-Begriff einen
Bruch mit der realistischen Vorstellung voraus, die den Effekt des Milieus
auf den der direkten, in einer Interaktion sich vollziehenden Handlung
reduziert“84 Was B. hier eine Umkehrung der Alltagssicht nennt, kann
genauso gut als Abkehr von dieser Sicht, oder vielleicht noch besser, als
eine spezifische wissenschaftliche Sicht auf die soziale Welt und die in
ihr existierende soziale Realität angesehen werden. Diese Sicht legt zu
Grunde, dass das Soziale mittels des Feldbegriffes betrachtet wird und
dass dabei Relationen im Fokus der Betrachtung stehen.
→ „Was in sozialen Feldern existiert, sind Relationen zwischen den Akteu-
rInnen, die unterschiedliche soziale Positionen einnehmen.“85 Relationen
existieren dabei zwischen verschiedenen Akteuren und ihren unter-
schiedlichen Positionen im sozialen Raum. Maßgeblich für das Verständ-
nis des Feldes sind aber eben weder allein die Akteure noch allein deren
Positionen im Feld, sondern die sich aus den Positionen ergebenden
objektivierten Relationen.
Die Theorie der Felder hat zur Folge, dass nicht mehr Indi-
viduen und ihre Interkationen, sondern die Relationen die
zwischen den sozialen Positionen bestehen betrachtet wer-
den.
→ Bourdieu bringt die Wichtigkeit von Relationen nochmals zum Ausdruck,
„das Wirkliche ist relational: Was in der sozialen Welt existiert, sind
Relationen - nicht Interaktionen oder intersubjektive Beziehungen zwischen
Akteuren, sondern objektive Relationen die »unabhängig vom Bewusstsein
und Willen der Individuen« bestehen (. . .).“86 In Anschluss an Hegel stellt
Bourdieu fest, Wirklichkeit, also soziale Realität, ist, in den Bezug auf
die Betrachtung mittels der Felder, Relation - oder besser gesagt, da die
Einzahl den Feldbegriff sonst unterkomplex erscheinen ließe, Relationen.
Dabei weist B. nochmal ausdrücklich darauf hin, das ‚Interaktionen oder
23
2 Feldtheorie
intersubjektive Beziehungen zwischen Akteuren‘ nicht mit Relationen
gleichgesetzt werden können. Vielmehr zeichnen sich die Relationen die
er im Sinn hat durch Objektivität, und speziell durch Unabhängigkeit
vom Individuum, aus. Der Rückschluss daraus ist, die Relationen werden
allein dadurch determiniert, dass die Individuen bestimmte soziale Posi-
tionen in einem Feld einnehmen. Die sich zwischen diesen Positionen,
nicht zwischen den individuellen Akteuren, spannenden Kräfteverhält-
nisse sind die objektivierten und entindividualisierten Relationen eines
Feldes.
„Analytisch gesprochen wäre ein Feld als ein Netz oder eine
Konfiguration von objektiven Relationen zwischen Positionen
zu definieren“87
→ „Diese Positionen sind in ihrer Existenz und auch in den Determinierungen,
denen die auf ihnen befindlichen Akteure oder Institutionen unterliegen,
objektiv definiert, und zwar durch ihre aktuelle und potentielle Situation
(situs) in der Struktur der Distribution der verschiedenen Arten von Macht
(oder Kapital), deren Besitz über den Zugang zu den in diesem Feld auf dem
Spiel stehenden spezifischen Profiten entscheidet, und damit auch durch
ihre objektiven Relationen zu anderen Positionen (herrschend, anhängig,
homolog usw.).“88
Soziale Positionen sind durch Struktur und Umfang des ver-
fügbaren Kapitals sowie durch die für den Erwerb und die
Umwandlung verfügbare Zeit definiert.
→ „In hochdifferenzierten Gesellschaften besteht der soziale Kosmos aus der
Gesamtheit dieser relativ autonomen sozialen Mikrokosmen, dieser Räume
der objektiven Relationen, dieser Orte einer jeweils spezifischen Logik und
Notwendikeit, die sich nicht auf die für andere Felder geltenden reduzie-
ren lassen.“89 In der Moderne bilden demnach alle Felder gemeinsam
die soziale Wirklichkeit ab. Dabei verfügt jedes Feld über spezifische
objektivierte Relationen - oder anders gesagt, eine Eigenlogik. Weiterhin
lassen sich diese je spezifischen Relationssätze nicht - oder zumindest
nur bedingt und teilweise - auf andere Felder übertragen. So gesehen
besteht keine Möglichkeit, zumindest nicht ohne eine Veränderung der
24
2 Feldtheorie
Gesellschaftsstruktur, die Differenziertheit der modernen Gesellschaft
aufzuheben - sei der tatsächlichen Gesellschaft oder, wie es eben hier der
Fall ist, der Betrachtung der Gesellschaft.
Hierbei gilt es zu berücksichtigen, dass die Gesellschaft in
Unterbereiche - Teilfelder - unterteilt ist und sich somit die
Position eines Akteurs je nach Teilfeld unterscheidet. Da
sich die Bestimmung der Position - die Kapitalausstattung
eines Akteurs bleibt gleich - nach der je spezifischen Logik
des Feldes richtet.
25
2 Feldtheorie
2.2 Spezifizierung des Feldes
„In der Tat lässt sich das Feld mit einem Spiel vergleichen
(. . .).“90
→ „So gibt es Einsätze bei diesem Spiel, Interessenobjekte, die im wesent-
lichen das Produkt der Konkurrenz der Spieler untereinander sind; eine
Investition in das Spiel, eine Besetzung (im psychoanalytischen Sinn) des
Spiels, die illusio (von ludus, Spiel): Die Spieler sind im Spiel befangen,
sie spielen, wie brutal auch immer, nur deshalb gegeneinander, weil sie alle
den Glauben (doxa) an das Spiel und den entsprechenden Einsatz, die nict
weiter zuhinterfragende Anerkennung teilen (. . .), und dieses heimliche
Einverständnis ist der Ursprung ihrer Konkurrenz und ihrer Konflikte.“91
→ „So wie der relative Wert der Karten je nach Spiel ein anderer ist, so variiert
auch die Hierarchie der verschiedenen Kapitalsorten (ökonomisch, kulturell,
sozial, symbolisch) in den verschiedenen Feldern.“92
In der Analogie des Spiels ist es so, dass jeder Spieler sich
persönlich Investiert - illusio - und alle Spieler gemeinsame
den Glauben - doxa - an das Spiel und den Einsatz des Spieles
teilen. Der Einsatz und sein Wert bestimmen sich über die
Bedeutung der Kapitalarten im spezifischen Feld.
Das sich daraus ergebende Einverständnis ist der Ursprung
ihrer Konkurrenz und ihrer Konflikte.
→ „Die Struktur des Feldes wird in jedem Augenblick vom Stand der Machtver-
hältnisse zwischen den Spielern bestimmt: (. . .)“93 dabei ist jeder Spieler
mit einer entsprechenden Menge an verfügbaren Kapitalsorten ausgestat-
tet „seine realtive Stärke in Spiel, seine Position im Raum des Spiels und
auch seine Spielstrategien, also das, was man sein »Spiel« nennt“94 hän-
gen vom „Gesamtumfang und der Struktur seines Kapitals“95 ab, „wobei
sich zwei Personen mit einem etwa gleichen Kapital[-umfang; N.G.] sowohl
den von ihnen eingenommenen als auch den von ihnen bezogenen Positio-
nen (. . .) nach dadurch unterscheiden können“96, dass sich die Struktur
ihres Kapitals unterscheidet.
26
2 Feldtheorie
Die Struktur des Feldes wird durch die momentan herschen-
den Machtverhältnisse festgelegt, d.h. allerdings auch, dass
die Struktur sich jeden Moment, also bei jeder Veränderung
der Machtverhältnisse, wieder ändern kann - es ist eben nur
eine Momentaufnahme.
→ „Genau genommen hängen nämlich die Strategien eines »Spielers« und
alles, was sein »Spiel« ausmacht, nicht nur von Umfang und Struktur seines
Kapitals zum betreffenden Zeitpunkt ab sowie von den Chancen, die
sie ihm im Spiel verschaffen (. . .), sondern auch von der Entwicklung des
Umfangs und der Struktur seines Kapitals in der Zeit, das heißt von seinem
sozialen Lebenslauf und von seinen Dispositionen (Habitus), die sich in der
dauerhaften Beziehung zu einer bestimmten objektiven Chancenstruktur
herausgebildet haben.“97
Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass die Strategie des Ak-
teurs nicht nur von den gegebenen Bedingungen abhängig
ist, sondern auch von den Möglichkeiten und Chancen die
er für die zukünftige Entwicklung seines Kapitals sieht. Die-
se potenzielle Entwicklung wird er von seinen Erwartungen
bezüglich seiner sozialen Laufbahn und seines Habitus ab-
hängig machen.
„Die Frage nach den Grenzen des Feldes wird immer im Feld
selber gestellt und lässt folglich keine Antwort a priori zu.“98
→ „Es mag gefährlich nach einer Tautologie klingen, aber ich kann nur sagen,
dass man ein Feld als einen Raum bezeichnen kann, in dem ein Feldeffekt
wirksam ist, so dass sich das, was einem Objekt widerfährt, das durch
diesen Raum hindurchgeht, nicht vollständig durch seine intrinsischen
Eigenschaften erklären lässt. Die Grenzen des Feldes liegen dort, wo die
Feldeffekte aufhören.“99
→ „Erst wenn man diese Universen im einzelnen untersucht, kann man ermit-
teln, wie sie konkret beschaffen sind, wo sie aufhören, wer zu ihnen gehört
und wer nicht, und ob sie wirklich ein Feld bilden.“100
27
2 Feldtheorie
Felder reichen soweit wie ihre Feldeffekte. Dabei sind die
Feldeffekt an die in dem Feld wichtige Kapitalsorte gebun-
den, sodass das Kapital bei der Bestimmung des Feldes ei-
ne wichtige Rolle spielt. Darüber hinaus ist allerdings fest-
zustellen, dass die letzte Bestimmung von Feldern allein im
Anwendungsfall, also empirisch geschehen kann.
Verknüpfung des Feldes mit Kapital und Habitus
„Begriffe wie Habitus, Feld und Kapital lassen sich durchaus
definieren, aber eben nur innerhalb des theoretischen Systems,
das sie bilden, und niemals für sich allein.“101
→ „Der Feld-Begriff (. . .) bildet das Pendant zum Habitus-Begriff: Den Disposi-
tionen der Individuen korrespondieren im sozialen Feld wirkende objekti-
vierte dingliche und strukturelle Bedingungen.“102
→ „Es geht Bourdieu gerade um das über den Habitus vermittelte Zusammen-
wirken von Handelnden Subjekten und sozialen Feldern.“103
Inkorporierte und objektivierte Gesellschaft - Habitus und
Feld - können nicht getrennt voneinander betrachtet wer-
den. Das Verständnis des einen ist ohne das andere nicht
möglich.
→ „Innerhalb der einzelnen Felder sind jeweils verschiedene Sorten von Kapital
in Kurs. Kapital stellt ‚Verfügungsmacht im Rahmen eines Feldes‘ (1985a, S.
10) dar (. . .). Eine bestimmte Kapitalsorte bestimmt die Gewinnchancen im
jeweiligen Feld.“104
→ „In der empirischen Arbeit ist die Bestimmung eines Feldes und seiner
Grenzen und die Bestimmung der in ihm wirksamen Kapitalsorten und
der Grenzen ihrer Wirkungen usw. ein und dasselbe. Zwischen den Be-
griffen Kapital und Feld besteht, wie man sieht, eine enge wechselseitige
Abhängigkeit.“105
28
2 Feldtheorie
Feld und Kapital stehen in unmittelbarem und engem Zu-
sammenhang. Felder lassen sich nach der in ihnen wichtigen
Kapitalsorte näher bestimmen. Die Bestimmung der wichti-
gen Kapitalsorte und die Bestimmung des Feldes und seiner
Grenzen sind quasi identisch.
Zwischen den Begriffen Kapital und Feld besteht, wie man
sieht, eine enge wechselseitige Abhängigkeit.
29
3 Habitus
3 Habitus
„Der Schlüsselbegriff (. . .) für die Sozialtheorie Bourdieus ist
das Konzept des ‚Habitus‘.“106
→ Die Verbindung der (Einzel-)Begriffe der von Bourdieu ausgearbeiteten
theoretischen Systematik wird im Speziellen durch das Konzept des
Habitus ermöglicht.
„Schließlich - und damit kommen wir zu der wohl wichtigsten
Erklärung der Praxis unter gegebenen, objektiven Strukturen
- unterscheiden sich soziale Räume auch durch eine klassen-
spezifische ‚allgemeine Grundhaltung, eine Disposition gegen-
über der Welt‘(B. 1983a, 132), die Bourdieu als Habitus bezeich-
net.“107
→ Der Habitus ist „(. . .) ein System von kognitiven und motivierenden Struk-
turen, d.h. ein System dauerhafter Dispositionen, die seit der frühesten
Kindheit eingeprägt werden und die die Möglichkeiten und Unmöglichkei-
ten, die Chancen und Verwehrungen, die Freiheiten und Grenzen gemäß den
objektiven Bedingungen vorbilden.“108 Geboren in eine soziale Position,
mit der damit verbundenen Kapitalausstattung, vermittelt sich - wird
ihm anerzogen - dem Individuum der diesen objektiven Bedingungen
entsprechende Habitus. Der Habitus verweist das Individuum auf seine
Potentialität an Handlungen, Wahrnehmnungen und Beurteilungen.
„Der Habitus ist also zunächst dadurch gekennzeichnet, dass
aus ihm Handlungen, Wahrnehmnungen, Beurteilungen ent-
springen. Er erzeugt sie.“109
→ „Der Habitus ist gewissermaßen eine unbewusste Theorie der Praxis: Er
ist die Verinnerlichung der durch eine spezifische Klassenlage erzwungenen
bzw. ermöglichten Handlungsformen und erzeugt als Schema selbst wie-
derum spezifische Praxisformen.“110 Insofern ermöglicht der Habitus die
Freisetzung von Potential mittels Handlungsformen und bildet zugleich
den Rahmen, also das Schema, zukünftiger Praxis, also Handlungsfor-
men.
30
3 Habitus
B. versteht seine Theorie als Theorie der Praxis.
Der Habitus ist gewissermaßen das Bindeglied und ist zugleich selber Ein-
zelelement der Theorie. Die von ihm hergestellt Verbindung ist die zwischen
den strukturellen Bedingungen, also den Kapitalien sowie Feldern, und den
individuellen - personen-, akteursgebunden - Veranlagungen.
Die - zu einem bestimmten Zeitpunkt - vorgegebenen Bedingungen lassen
sich erstens, anhand der Kapitalien, insbesondere mittels Bestimmung des
Kapitalumfangs - über den ein einzelner Akteur verfügen kann - sowie die
Verfügbarkeit über die einzelnen, speziellen Kapitalsorten - für ein einzelnes
Individuum - in einem spezifischen Feld, bestimmen. Zweitens können die
immanenten Bedingungen mittels der Felder betrachtet werden, insbesondere
da diese sich über die Wichtigkeit der einzelnen Kapitalien - für den je spezifi-
schen Gegenstand - in ihnen voneinander differenzieren lassen. Damit wird
nochmals deutlich, wie eng der Zusammenhang der Begriffe ist, sodass die
vollkommene Trennung der Betrachtung weder nicht erkenntnisleitend wäre.
Der Habitus zeichnet sich durch sein verbindendes Element
aus, ist aber dennoch einzelner Aspekt der Betrachtung und
zugleich nicht alleine, sondern nur im Kontext, denkbar.
Der Habitus stellt dann auch die Frage nach den individuellen Zwängen
und Möglichkeiten, also dem Potential. Das Potential ist abhängig von der
Verfügbarkeit über Kapitalien und der Position in den Feldern.
Als Potential werden hier also die zu einem Zeitpunkt gege-
benen Chancen angesehen.
Die Ausbildung und ständige Weiter-/Fortentwicklung des Habitus bedingt
die Verfügbarkeit von Kapital und die Position im sozialen Raum, sodass im
Endeffekt nur momentane und tendenzielle Aussagen möglich sind - Aussagen
über das Potential. Zu berücksichtigen ist, dass die Entwicklung des Habitus
erwartungstreu und nicht radikal verläuft, was dazu führt, dass die Moment-
aufnahmen und Tendenzen zu relativ gesicherten Aussagen über mögliche
Entwicklungswege führen.
Diese Möglichkeiten zukünftiger Entwicklungsschritte können als Potentiali-
tät bezeichnet werden. Sie sind möglich, müssen aber nicht eintreten. Dabei
31
3 Habitus
lässt sich weiterhin unterscheiden zwischen, wegen der Betrachtung von
Potential, wahrscheinlicheren zukünftigen Potentialen und prinzipiell, theore-
tisch möglichen Potentialen, die sich aus der Betrachtung aller vorstellbaren
Potentiale ergeben.
Potentialität ist somit die Bandbreite möglicher (selbst-
)erzeugter Zustände des Habitus, also von Potentialen.
Das momentane Potential determiniert die im Augenblick ermöglichten Hand-
lungsformen - Handlungen, Wahrnehmnungen, Beurteilungen - und ereugt im
selben Augenblick einen neuen Potentialitätsverweis sowie den kommenden
Potentialzustand. Dies geschieht vermittelt durch den Habitus.
Der Habitus ermöglicht die Umsetzung von Potential und
ist gleichzeitig der Horizont der eigenen Potentialität. Kurz:
Der Habitus ist das Potential seiner Potentialität.
32
3 Habitus
3.1 Habitus - Inkorporation und Generativität
3.1.1 Inkorporation
„Mit dem Begriff Inkorporation will Bourdieu zum Ausdruck
bringen, dass die Gesellschaft nicht außerhalb des Individu-
ums existiert, sondern in seinen Kopf und seinen Körper einge-
gangen ist.“111
→ „Wir haben sie [die Gesellschaft; N.G.], ohne das zu merken oder gar in-
tendiert zu haben, ‚inkorporiert‘. Sie ist uns sozusagen in Fleisch und Blut
übergegangen. Wir denken und handeln in dieser Gesellschaft, also das
Ergebnis der Sozialisation, das ist nicht das mehr oder weniger gelungene
Ergebnis kognitiver Leistungen, sondern das ist das Ergebnis einer konti-
nuierlichen Einwanderung der Gesellschaft in unsere konkrete – geistige
wie körperliche – Befindlichkeit.“112 Zweierlei lässt sich hier herausstel-
len, zum einen, dass B. das Denken und Handeln nicht mehr als reinen
Akt der kongnitiven - vernunftsmässigen - Befassung mit gegebenen
gesellschaftlichen Bedingungen versteht und, zum anderen, dass die
Einverleibung - Inkorporation - von Gesellschaft die gewissermaßen
spiegelbildliche Wiedergabe der Gesellschaft durch und im Individuum
ist.
Darüber hinaus ist anzumerken, dass die Spiegelung der Gesellschaft
im Individuum gewissermaßen als Zerrbild angesehen werden muss. So
gibt jedes Individuum sein je eigenes Spiegelbild der Gesellschaft wider.
Dabei ist zwar nicht zu leugnen, dass dieses Bild dem des Milieus, der
Gruppe des Individuums ähneln wird, aber dennoch wird es sich von
dem Bild der anderen Mitglieder der Gruppe unterscheiden.
Zum einen fasst Bourdieu das Denken und Handeln nicht
mehr als reinen Akt der kognitiven - vernunftsmässigen
- Befassung mit gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen
auf - da Denken und Handeln immer auch selber gselschaft-
liche Bedingungen schaffen. Zu anderen sind die Eiverlei-
bung - Inkorporation - von Gesellschaft und die objekivierte
Gesellschaft spiegelbildliche Wiedergaben ihrerselbst durch,
im und am Individuum.
33
3 Habitus
„Es ist der Habitus, der die ‚soziale Zauberei‘ bewirkt, durch
die Personen zu Institutionen aus Fleisch und Blut werden.“113
→ „Mit der Einverleibung des Habitus werden Akteure nicht nur fähig ge-
macht, in ihrem sozialen Raum sicher zu handeln, sondern sie übernehmen
damit auch die sozialen Maßstäbe der Beurteilung ihres Handelns. Des-
halb vermeiden sie Handeln, das in ihrer Gruppe missbiligt würde, und
routinisieren Handeln, für das sie Anerkennung finden.“114
Die vor-
ab sogenannten Handlungsformen - Wahrnehmungen, Beurteilungen,
Handlungen - werden durch den Habitus determiniert. D.h. mein Habitus
beeinflusst wie ich die Dinge wahrnehme, er spielt eine Rolle dabei wie
ich die wahrgenommenen Ereignisse beurteile und auch für die Frage,
welche Handlung ich daraufhin anstreben werde. Hier verweist B. darauf,
dass die Anerkennung in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle
spielt, und zwar insofern als die Anerkennung durch das nähere soziale
Umwelt wesentlichen Einfluss auf die Handlungsentscheidungen nimmt.
„Jetzt also zur Frage, was an Gesellschaft einverleibt wird und
was unser Denken und Handeln in dieser Gesellschaft bewirkt.
Es ist der soziale Habitus.“115
→ „In einem allgemeinen Sinne kann man darunter die ‚Haltung des Indi-
viduums in der sozialen Welt‘ und die Gesamtheit seiner ‚Dispositionen,
seiner Gewohnheiten, seiner Lebensweise, seiner Einstellungen und seiner
Wertvorstellungen‘ (Fuchs-Heinritz u. König 2005, 113) verstehen.“116
34
3 Habitus
3.1.2 Generativität
„Der Habitus ist Struktur und generiert wiederum Struk-
tur.“117
→ Es darf „(. . .) nicht vergessen werden, dass der Habitus schon im Vorfeld
des Handelns Struktur ist und Struktur bewirkt und zwar Struktur des
Denkens.“118 Wie vorab - Handlungsformen: Wahrnehmungen, Beurtei-
lungen, Handlungen - festgestellt beeinflusst der Habitus verschiedene
Bereiche menschlicher Existenz. Dabei könnte man Wahrnehmungen
und Beurteilungen als Denken zusammenfassen, das vor den Handlungen
stattfindet. Dieses Denken strukturiert vor zu welchen Handlungen es
kommen wird. Die Handlungen wiederum strukturieren welches Denken
folgen wird. Es herrscht also eine Gleichzeitigkeit des Strukturiertseins
und des Strukturerzeugens.
→ „Der Habitus als System von Dispositionen und Schemata fungiert als Denk-
, Handlungs- und Wahrnehmungsmatrix“119 Die Matrizen beziehen sich
damit auf verschiedene aufeinander folgende Schritte, die jeweils für den
folgenden Schritt strukturgebend sind, also, anders gesagt, je durch den
vorhergehenden Schritt strukturiert worden sind.
Der Habitus ist „ein Schema des Verhaltens und Benehmens,
das individuelle und kollektive Praktiken erzeugt.“120
„Der Habitus gilt B. als ein durch geregelte Improvisation dau-
erhaft begründetes Erzeugungsprinzip, als generatives Prinzip
der Praxis.“121
Gleichzeitigkeit von Inkorporation und Generativität
→ „Daraus ergibt sich die Charakerisierung des Habitus als gleichzeitig struk-
turiertes - das ist in der Inkorporationsannahme enthalten - und struktu-
rierendes Prinzip - das ist in der Generativitätsannahme enthalten. Der
Habitus als strukturiertes und strukturierendes Prinzip ist gleichzeitig Er-
zeugungsprinzip und Wahrnehmungs-, Interpretations- und Bewertungs-
matrix.“122
35
3 Habitus
Inkorporation bedeutet folglich, etwas strukturiertes verin-
nerlicht zu haben. Generativität besagt, dass Struktur er-
zeugt wird. Hier als Inkorporations- und Generativitätsan-
nahme bezeichnet.
Die Folge ist, dass der Habitus gleichermaßen Erzeugungs-
prinzip als auch Matrix für Struktur ist. Als Bereiche deren
Struktur durch den Habitus erzeugt als auch in Matrizen
vorgegeben werden können angesehen werden: Denkmatrix
(Wahrnehmungs-, Interpretations- und Bewertungsmatrix)
sowie Handlungsmatrix.
36
3 Habitus
3.2 Wirkungsweise des Habitus
→ „In diesem Sinne macht der Habitus die Frage der ‚Intention‘ überflüssig, da
die alltäglichen Praktiken automatisch und unpersönlich sind. Es existiert
die Teilhabe an einem Sinnzusammenhang, der Individuen und einzelne
Gruppen transzendiert, und genau dort ist es, wo Bourdieu die Möglichkeit
zur Konstituierung eines Gemeinverstandes sieht, als Ergebnis aus der
Harmonisierung zwischen dem objektiven Sinn und dem praktischen, durch
den Habitus ausgeführten Sinn.“123
→ „Der individuelle Habitus spiegelt den Klassenhabitus wider; er ist ein
‚subjektives, aber nichtindividuelles System verinnerlichter Strukturen, ge-
meinsamer Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata‘ (Bourdieu
1980b, 112). Der kollektive Habitus ist das ‚innere Gesetz, durch das hin-
durch sich fortgesetzt (in jedem Einzelnen, Ergänzung d.V.) der Zwang
externer Notwendigkeiten auswirkt‘ (Bourdieu 1972, 182).“124
→ Die Frage lautet, welches der soziale Kontext ist, „(. . .) in dem der Habitus
wirksam wird: Es gibt wie Bourdieu schreibt, zwei Formen, in denen sich
Geschichte objektiviert, die Objektivierung in den Institutionen und die
Objektivierung im menschlichen Organismus, eben: als Habitus (Bourdieu
1987, 95). »Die soziale Realität existiert sozusagen zweimal, in den Sachen
und in den Köpfen, in den Feldern und in den Habitus, innerhalb und
außerhalb der Akteure« (Bourdieu/Wacquant 1996b, 161).“125
»Die soziale Realität existiert sozusagen zweimal, in den Sa-
chen und in den Köpfen, in den Feldern und in den Habitus,
innerhalb und außerhalb der Akteure« (Bourdieu/Wacquant
1996b, 161).
37
Fußnoten
42
Bourdieu 2005: S. 58
84
Wacquant 2006: S. 126
43
Bourdieu 2005: S. 59
85
Engler 2001: S. 148
1
Bourdieu 2005: S. 49
44
Bourdieu 2005: S. 58
86
Wacquant 2006: S. 126
2
Fuchs-Heinritz 2005: S. 157
45
Bourdieu 2005: S. 61
87
Wacquant 2006: S. 127
3
Bourdieu 2005: S. 49
46
Abels 2010: S. 207
88
Wacquant 2006: S. 127
4
Bourdieu 2005: S. 50
47
Bourdieu 2005: S. 63
89
Wacquant 2006: S. 127
5
Bourdieu 2005: S. 50
48
Fuchs-Heinritz 2005: S. 166
90
Wacquant 2006: S. 127
6
Abels 2010: S. 205
49
Fuchs-Heinritz 2005: S. 166
91
Wacquant 2006: S. 127
7
Abels 2010: S. 206
50
Bourdieu 2005: S. 63
92
Wacquant 2006: S. 128
8
Bourdieu 2005: S. 50
51
Bourdieu 2005: S. 64
93
Wacquant 2006: S. 128
9
Bourdieu 2005: S. 52
52
Bourdieu 2005: S. 65
94
Wacquant 2006: S. 128
10
Abels 2010: S. 207
53
Bourdieu 2005: S. 65
95
Wacquant 2006: S. 128
11
Fuchs-Heinritz 2005: S. 161
54
Bourdieu 2005: S. 67
96
Wacquant 2006: S. 128
12
Fröhlich 1994: S. 37
55
Abels 2010: S. 207
97
Wacquant 2006: S. 129
13
Abels 2010: S. 206
56
Abels 2010: S. 207
98
Wacquant 2006: S. 130
14
Burzan 2005: S. 139
57
Fuchs-Heinritz 2005: S. 169
99
Wacquant 2006: S. 131
15
Bourdieu 2005: S. 52
58
Fuchs-Heinritz 2005: S. 169
100
Wacquant 2006: S. 131
16
Abels 2010: S. 206
59
Burzan 2005: S. 140
101
Wacquant 2006: S. 125
17
Fuchs-Heinritz 2005: S. 161
60
Fröhlich 1994: S. 37
102
Fuchs-Heinritz 2005: S. 139
18
Fröhlich 1994: S. 36
61
Fröhlich 1994: S. 37
103
Gebauer 2002: S. 55
19
Abels 2010: S. 206
62
Fuchs-Heinritz 2005: S. 169
104
Fröhlich 1994: S. 41
20
Abels 2010: S. 206
63
Abels 2010: S. 207
105
Wacquant 2006: S. 128
21
Abels 2010: S. 206
22
64
Fröhlich 1994: S. 37
106
Bohn 2003: S. 258
Fröhlich 1994: S. 35
23
65
Fuchs-Heinritz 2005: S. 160
107
Abels 2010: S. 211
Fuchs-Heinritz 2005: S. 162
24
66
Bourdieu 2005: S. 70
108
Souza 2008: S. 44
Burzan 2005: S. 139
25
Bourdieu 2005: S. 53
67
Fröhlich 1994: S. 37
109
Bohn 2003: S. 258
26
Fuchs-Heinritz 2005: S. 162
68
Fröhlich 1994: S. 37
110
Abels 2010: S. 213
27
Fröhlich 1994: S. 35
69
Bourdieu 2005: S. 73
111
Abels 2010: S. 214
28
Bourdieu 2005: S. 53
70
Bourdieu 2005: S. 74
112
Abels 2010: S. 214
29
Bourdieu 2005: S. 55
71
Wacquant 2006: S. 125
113
Souza 2008: S. 45
30
Bourdieu 2005: S. 56
72
Abels 2010: S. 206
114
Abels 2010: S. 221
31
Fröhlich 1994: S. 35
73
Fuchs-Heinritz 2005: S. 158
115
Abels 2010: S. 217
32
Bourdieu 2005: S. 55
74
Burzan 2005: S. 138
116
Abels 2010: S. 217
33
Fröhlich 1994: S. 35
75
Abels 2010: S. 207
117
Abels 2010: S. 219
34
Bourdieu 2005: S. 59
76
Bourdieu 2005: S. 58
118
Souza 2008: S. 221
35
Bourdieu 2005: S. 61
77
Engler 2001: S. 147
119
Bohn 2003: S. 258
36
Fröhlich 1994: S. 35
78
Gebauer 2002: S. 55
120
Souza 2008: S. 44
37
Bourdieu 2005: S. 61
79
Fröhlich 1994: S. 41
121
Bohn 2003: S. 258
38
Bourdieu 2005: S. 61
80
Engler 2001: S. 148
122
Bohn 2003: S. 259
39
Bourdieu 2005: S. 62
81
Fröhlich 1994: S. 41
123
Souza 2008: S. 45
40
Bourdieu 2005: S. 56
82
Wacquant 2006: S. 126
124
Souza 2008: S. 218
41
Bourdieu 2005: S. 57
83
Wacquant 2006: S. 126
125
Gebauer 2002: S. 34
a
Literatur
Abels H. K., A. (2010): Sozialisation Soziologische Antworten auf die Frage, wie wir werden, was wir sind, wie gesellschaft-
liche Ordnung möglich ist und wie Theorien der Gesellschaft und der Identität ineinanderspielen. VS Verlag.
Bohn C. P., A. (2003): „Pierre Bourdieu (1930-2002)“. In: Klassiker der Soziologie. Kaesler, Dirk.
Bourdieu, P. (2005): Die verborgenen Mechanismen der Macht.(Hrsg.) Margareta Steinrücke. VSA.
Burzan, N. (2005): Soziale Ungleichheit Eine Einführung in die zentralen Theorien. VS Verlag.
Engler, S. (2001): In Einsamkeit und Freiheit? Zur Konstruktion der wissenschaftlichen Persönlichkeit auf dem Weg zur
Professur. Universitätsverlag Konstanz.
Fröhlich, G. (1994): „Das symbolische Kapital der Lebensstile Zur Kultursoziologie der Moderne nach Pierre Bourdieu“.
In:(Hrsg.) Ingo Mörth Gerhard Fröhlich. Campus Verlag. Kap. Kapital, Habitus, Feld, Symbol Grundbegriffe der
Kulturtheorie bei Pierre Bourdieu, S. 31–54.
Fuchs-Heinritz W. K., A. (2005): Pierre Bourdieu. UTB Verlag.
Gebauer, B. K. G. (2002): Habitus. transcript.
Souza, J. (2008): Die Naturalisierung der Ungleichheit Ein neues Paradigma zum Verständnis peripherer Gesellschaften.
VS Verlag.
Wacquant, P. B. L. J. D. (2006): Reflexive Anthropologie. Suhrkamp.
b
Leave a Reply