Bücher 1, 2,3 (Kap. 1-7) und 5
Diplomprüfung
Philosophie
Karteikarten
Nicolai Großherr
Aristoteles – Diplomprüfung – Karteikarten – Nicolai Großherr
1
Inhaltsverzeichnis
1 Eudämonie; Glückseligkeit; eudaimonia (Buch 1)………………………………………………………3
1.1 Einführung in die Behandlung der Glückseligkeit………………………………………………..3
1.1.1 Gut, Ziel (Kap. 1)……………………………………………………………………………………..3
1.1.2 Höchstes Gut ≡ Glückseligkeit; eudaimonia (Kap. 2)…………………………………….4
1.1.3 Lebensweisen (Kap. 3)………………………………………………………………………………5
1.2 Aspekte des Glückseligkeit-Konzeptes……………………………………………………………….6
1.2.1 Keine Idee des Guten (Kap. 4)……………………………………………………………………6
1.2.2 Vollendung und Selbstgenügsamkeit (Kap. 5)………………………………………………6
1.2.3 Der Mensch als Träger der erläuterten Erkenntnisse (Kap. 6)…………………………7
1.3 Glückseligkeit, Seele und Tätigkeit …………………………………………………………………..8
1.3.1 Erkennen des Prinzips des Guten (Kap. 7)……………………………………………………8
1.3.2 Drei Arten der Güter (Kap. 8)…………………………………………………………………….8
1.3.3 Habitus und Tätigkeit (Kap. 9)……………………………………………………………………8
1.4 Seelenlehre (Kap. 13)……………………………………………………………………………………..10
2 Tugend; Art der Tugend; Mesotes-Lehre (Buch 2+3)…………………………………………………12
2.1 Herleitung des Tugendbegriffs…………………………………………………………………………12
2.1.1 Tugendhaftigkeit durch Tätigkeit (Kap. 1)………………………………………………….12
2.1.2 Lust an der Tugend (Kap. 2)……………………………………………………………………..13
2.1.3 Tugend: Wissen und Handlung (Kap. 3)…………………………………………………….13
2.2 Bestimmung des Tugendbegriffs……………………………………………………………………..14
2.2.1 Tugend als Gattungsbegriff (Kap. 4)………………………………………………………….14
2.2.2 Tugend als Artbegriff (Kap. 5)………………………………………………………………….15
2.3 Mesotes-Lehre (Kap. 5-9)……………………………………………………………………………….16
2.4 Zurechenbarkeit (Buch 3, Kap. 1-7)…………………………………………………………………18
2.4.1 Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit……………………………………………………………18
3 Gerechtigkeit; dikaiosyne (Buch 5)…………………………………………………………………………22
3.1 Doppelte Bedeutung von Gerechtigkeit (Kap. 1-3)…………………………………………….22
3.2 Erläuterung partikularer Gerechtigkeit (Kap. 4-9)………………………………………………24
3.2.1 Die distributive oder verteilende Gerechtigkeit…………………………………………..24
3.2.2 Die kommutative oder ausgleichende Gerechtigkeit……………………………………25
3.3 Arten des Rechts (Kap. 10) und Billigkeit (Kap. 14)…………………………………………..26
3.3.1 Arten des Rechts……………………………………………………………………………………..26
3.3.2 Billigkeit………………………………………………………………………………………………..26
Abbildungsverzeichnis
Abb 1.1: Seelenlehre (eigene Grafik)………………………………………………………………………….10
Abb 1.2: Seelenlehre (Grafik Melchior)………………………………………………………………………11
Abb 3.1: Gerechtigkeit………………………………………………………………………………………………25
Aristoteles – Diplomprüfung – Karteikarten – Nicolai Großherr
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1 Eudämonie; Glückseligkeit; eudaimonia (Buch 1)
1.1 Einführung in die Behandlung der Glückseligkeit
1.1.1 Gut, Ziel (Kap. 1)
„Jede Kunst und jede Lehre, desgleichen jede Handlung und jeder Entschluß,
scheint ein Gut zu erstreben, weshalb man das Gute treffend als dasjenige be-
zeichnet hat, wonach alles strebt. Doch zeigt sich ein Unterschied der Ziele. Die
einen sind Tätigkeiten, die anderen noch gewisse Werke oder Dinge außer ihnen.
Wo bestimmte Ziele außer den Handlungen bestehen, da sind die Dinge der Natur
nach besser als die Tätigkeiten.“1
➢ Jede Handlung erstrebt ein Gut;
➢ Dabei werden mit den Handlungen unterschiedliche Ziele verfolgt;
➢ Unterschied der Ziele, zwei Arten von Zielen:
➢ Ziel an sich, also Tätigkeiten, die um ihrer selbst willen aus-
geführt werden;
➢ Tätigkeiten, deren Ziel die Hervorbringung eines Werkes ist;
➢ 1. Problem: Es gibt mehrere Ziele, die wir um ihrer selbst willen tun;
➢ Hierbei ist es notwendig sich die Unterscheidung zwischen
Zielen an sich, die also ihr eigenes Endziel konstituieren, und
Zielen als Bestandteil eines weitergehenden Ziels, also Zielen,
die als Mittel zum Zweck anzusehen sind, vor Augen zu führen;
➢ 2. Problem: Vermeidung des unendlichen Regresses;
➢ Aus der Tatsache, dass es mehrere Ziele gibt, die man um ihrer
selbst willen tut, ergibt sich die Problematik, abzuwägen, in
welchem Verhältnis diese zueinanderstehen; es ist gewisser-
maßen nicht möglich abzuschätzen welche Ziele an sich und
welche als Mittel zum Zweck zu erachten sind;
➢ Lösung: Es gibt ein Endziel, das Gute und das Beste, also Glückselig-
keit, eudaimonia;
1
NE, 1094a 1
Aristoteles – Diplomprüfung – Karteikarten – Nicolai Großherr
3
➢ Es gibt somit viele Ziele, die um ihrer selbst willen gewollt
werden (und damit letzte Ziele sind), sie sind jedoch alle Teile
(im Sinne von „Mittel zum Zweck“) des umfassendsten Ziels;
➢ Das umfassende Ziel bezeichnet A. erstmal allgemein mit „das
Gute und das Beste“;
➢ Dabei handelt es sich um die Glückseligkeit, eudaimonia;
➢ Eine weitere Erkenntnis dieser Ableitung ist, dass es sich bei der
Glückseligkeit, als höchstem Gut, um etwas Zusammen-
gesetztes handelt; zusammengesetzt in dem Sinne, dass alle
anderen Ziele – die zwar auch um ihrer selbst willen angestrebt
werden – jedoch immer auch die Glückseligkeit zum Ziel haben;
d. h. sie sind Mittel zum Zweck der Erreichung der Glückselig-
keit;
1.1.2 Höchstes Gut ≡ Glückseligkeit; eudaimonia (Kap. 2)
„Nehmen wir jetzt wieder unser Thema auf und geben wir, da alles Wissen und
Wollen nach einem Gute zielt, an, welches man als das Zielgut der Staatskunst
bezeichnen muß, und welches im Gebiete des Handelns das höchste Gut ist. Im
Namen stimmen hier wohl die meisten überein: Glückseligkeit (…), und dabei gilt
ihnen Gut-Leben und Sich-gut-Gehaben mit Glückselig-Sein als eins.“2
➢ Die Glückseligkeit (eudaimonia) ist das höchste Gut;
➢ Zielgut der Staatskunst, Politik;
➢ Insofern höchstes Gut des Handelns;
➢ Als erste Differenzierung der Glückseligkeit ist Unterscheidung
zwischen „Gut-Leben und Sich-gut-Gehaben“ anzusehen;
2
NE, 1095a 14
Aristoteles – Diplomprüfung – Karteikarten – Nicolai Großherr
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1.1.3 Lebensweisen (Kap. 3)
„Drei Lebensweisen sind es nämlich besonders, die vor den anderen hervortreten:
das Leben, (…) [dass] „das wahre Glück in die Lust“ [setzt], dann das politische
Leben und endlich das Leben der philosophischen Betrachtung.“3
Die drei (vier?) typischen Lebensweisen:
1. Genussleben (bios hedonetikos): Lust als Ziel;
2. Kaufmannsleben: Gelderwerb als Ziel
➔ Kann nur Mittel zum Zweck, nicht Zweck um seiner selbst willen
sein, da Geld stets nur Mittel zum Zweck;
3. Politische Lebensweise (bios politikos): Ehre als Ziel;
➔ Das Leben der ethischen Tugend;
4. Theoretisches Leben (bios theoretikos): Erkenntnis als Ziel;
➔ Das Leben der dianoethischen Tugend;
Die ersten beiden Lebensformen – Genussleben und Kaufmannsleben –
können nicht als gutes, glückliches Leben, also um seiner selbst willen, an-
gesehen werden. Dies gilt insbesondere auf Grund der Tatsache, dass sie
eben nur Ziele als Mittel zum Zweck vorgeben. So ist gutes Leben nicht ohne
Lust möglich, aber Lust kann nicht der Hauptantrieb sein.
Die zweiten beiden Lebensformen – politisches und theoretisches Leben –
sind demnach die zwei Formen des guten, glücklichen Lebens, da sie als
Lebensformen um ihrer selbst willen angestrebt werden können. Dabei sind
sie lustvoll, sonst könnten sie nicht vollendetes Leben sein, sie sind allerdings
lustvoll im Sinne ihres jeweiligen Ziels.
Hier zeigt sich zum einen die enge Verbindung des vollendeten Lebens mit
der Lust und zum anderen, dass vollendetes Leben, nach Aristoteles, nur
gemäß der ethischen und dianoethischen Tugenden geführt werden kann.
3
NE, 1095b, 16
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1.2 Aspekte des Glückseligkeit-Konzeptes
1.2.1 Keine Idee des Guten (Kap. 4)
Aristoteles stellt dar, dass es keine eine, verbindende Idee des Guten geben
kann. Er zeigt dies, indem er den Begriff des Guten in verschiedene Kate-
gorien aufteilt, dabei haben die Kategorien in ihrer Interpretation der Glück-
seligkeit je verschiedene Bedeutungen, sie sind also nicht auf eine Idee zu
vereinen. Insofern zeigt er, dass die platonische Ideenlehre – zumindest für
die Glückseligkeit – nicht als Erklärungsansatz taugt, da eben nicht die eine
(metaphysische) Idee ermittelt werden kann. Sein Schluss ist demnach, dass
das Gute, die Glückseligkeit, nicht als Idee existiert.
1.2.2 Vollendung und Selbstgenügsamkeit (Kap. 5)
„Als Endziel gilt in höherem Sinne gilt uns das seiner selbst wegen Erstrebte
gegenüber dem eines anderen wegen Erstrebten und das, was niemals wegen
eines anderen gewollt wird, gegenüber dem, was ebensowohl deswegen wie
wegen seiner selbst gewollt wird, mithin als Endziel schlechthin und als schlechthin
vollendet, was allezeit seinetwegen und niemals eines anderen wegen gewollt
wird.“4 „(…) so leuchtet ein, daß sie [, die vielfältigen Ziele,] nicht alle Endziele sind,
während doch das höchste Gut ein Endziel und etwas Vollendetes sein muss.“5 „Zu
demselben Ergebnis mag uns der Begriff des Genügens führen. Das vollendete
Gute muß sich selbst genügen.“6 „Also: die Glückseligkeit stellt sich dar als ein
Vollendetes und sich selbst Genügendes, da sie Endziel allen Handelns ist.“7
Das höchste Gut, Glückseligkeit, ist Tätigkeit, also Handeln. Dabei ist sie, die
Glückseligkeit, vollendet und selbstgenügsam, da sie, als Endziel, um ihrer
selbst willen, Vollendung und Selbstgenügsamkeit anstrebt. Hieraus ergeben
sich die folgenden Merkmale der Glückseligkeit:
➢ Vollendung; sie ist vollendet, da sie allein Ziel sein kann, ohne
weitere Ziele vorauszusetzen;
➢ Selbstgenügsamkeit; sie ist selbstgenügsam, da sie allein das
Leben begehrenswert macht, ohne andere Ziele zu begehren;
➢ Tätigkeit; sie ist Endziel allen Handelns, da sie alle Handlungen auf
sich selbst, als höchstes Gut, vereint; sie ist dabei tugendhaftes
Handeln, da nur das Handeln gemäß der Tugend zu ihr, dem End-
ziel, der Glückseligkeit, führen kann;
4
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5
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6
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1.2.3 Der Mensch als Träger der erläuterten Erkenntnisse (Kap. 6)
„Dies dürfte uns gelingen, wenn wir die eigentümlich menschliche Tätigkeit ins
Auge fassen“8 „Für uns (…) steht das spezifisch Menschliche in Frage.“9 „(…) Das
eigentümliche Werk und die eigentümliche Verrichtung des Menschen [besteht] in
vernünftiger oder der Vernunft nicht entbehrender Tätigkeit der Seele (…).“10 „(…)
Wenn (…) dem so ist, und wir als die eigentümliche Verrichtung des Menschen ein
gewisses Leben ansehen, nämlich mit Vernunft verbundene Tätigkeit der Seele und
entsprechendes Handeln, als die Verrichtung des guten Menschen aber eben
dieses nur mit dem Zusatz: gut und recht – wenn endlich als gut gilt, was der
eigentümlichen Tugend oder Tüchtigkeit des Tätigen gemäß ausgeführt wird, so
bekommen wir nach alledem das Ergebnis: das menschliche Gut ist der Tugend
gemäße Tätigkeit der Seele, und gibt es mehrere Tugenden: der besten und
vollkommensten Tugend gemäße Tätigkeit.“11
➢ Das höchste Gut, die Glückseligkeit, kann nur als spezifisch mensch-
lich, als dem Menschen zugehörig, verständlichen gemacht werden –
wie auch die anderen (menschlichen) Güter;
➢ Das Spezifikum des Menschen ist dabei seine Seele; sie ist es die
seine Form – bzw. die Form seiner Betrachtung – zugrunde legt;
➢ Das Besondere der Seele ist die Vernunft;
➔ Das (allgemein) Menschliche ist die vernunftsgemäße Tätigkeit der
Seele, also das dem gemäße Handeln;
➔ Das menschliche Gut ist – bzw. die Güter sind – folglich eine der
Tugend gemäße Tätigkeit der Seele;
⇒ Glückseligkeit, als höchstes dem Menschen gemäßes Gut, ist also:
⇒ (a) Spezifische Tätigkeit, der vernünftigen Seele;
⇒ (b) Tüchtigkeit der Tätigkeit ≡ Tugend (arete);
8
NE, 1097b 25
9
NE, 1097b 35
10 NE, 1098a 8
11 NE, 1098a 13
Aristoteles – Diplomprüfung – Karteikarten – Nicolai Großherr
7
1.3 Glückseligkeit, Seele und Tätigkeit
1.3.1 Erkennen des Prinzips des Guten (Kap. 7)
„Die Prinzipien selbst aber werden teils durch Induktion erkannt, teils durch Wahr-
nehmung, teils durch eine Art Gewöhnung (…). (…) [Man muss] sich rechte Mühe
geben, sie zutreffend zu beschreiben. Denn das Prinzip des Anfangs dürfte mehr
als die Hälfte des Ganzen sein und schon von selbst vieles erklären, was man
wissen möchte.“12
Die Prinzipien des Guten können erkannt werden durch:
➢ Induktion;
➢ Wahrnehmung;
➢ Gewöhnung;
1.3.2 Drei Arten der Güter (Kap. 8)
„Man unterscheidet drei Arten von Gütern: äußere Güter, Güter der Seele und
Güter des Leibes. Von diesen gelten die der Seele als die wichtigsten, als Güter im
vollkommensten Sinne.“13 „Denn so liegt das Endziel in Gütern der Seele, auch in-
sofern als sie den äußeren Gütern gegenüberstehen.“14
Drei Güterarten:
➢ Äußere Güter;
➢ Leibesgüter;
➢ Seelengüter;
→ Die Seelengüter sind hierbei die vollkommensten;
1.3.3 Habitus und Tätigkeit (Kap. 9)
„(…) Die tugendgemäße Handlung [ist] an sich genußreich, überdies aber auch gut
und schön (…), und zwar dies alles im höchsten Maße, wenn (…) der Tugendhafte
richtig über sie urteilt.“15 „(…) So müssen dieselben [, die tugendgemäßen Hand-
lungen] gleichzeitig für den Tugendhaften und an sich mit Lust verbunden sein.“16
„Indessen bedarf dieselbe (…) der äußeren Güter, da es unmöglich oder schwer ist,
das Gute und Schöne ohne Hilfsmittel zur Ausführung zu bringen.“17 „(…) Also be-
darf die Glückseligkeit, wie gesagt, auch solcher äußerer Güter, und so mag es sich
erklären, daß einige das äußere Wohlergehen der Glückseligkeit gleichsetzen, wie
12 NE, 1098b 2-8
13 NE, 1098b 13
14 NE, 1098b 19
15 NE, 1099a 21
16 NE, 1099a 14
17 NE, 1099a 32
Aristoteles – Diplomprüfung – Karteikarten – Nicolai Großherr
8
andere die Tugend.“18
„Mit denen also, die die Glückseligkeit in die Tugend oder auch in eine Tugend
setzen, stimmen wir überein. Denn in den Bereich der Tugend fällt die ihr gemäße
Tätigkeit. Nur möchte es keinen kleinen Unterschied machen, ob man das höchste
Gut in ein Besitzen oder ein Gebrauchen, in einen bloßen Habitus oder in eine
Tätigkeit setzt.“19
➢ Verhältnis zur Lust; Leibesgütern
➢ Die Tugend ist untrennbar mit dem Lustempfinden verbunden;
➢ Tugendhafte Handlungen sind immer zugleich lustvoll;
➢ Verhältnis zu äußeren Gütern
➢ Sie sind notwendige Voraussetzung und Hilfsmittel tugendhafter
Handlungen;
➢ Es wird differenziert zwischen dem Habitus (Gut sein) und der Tätigkeit
(Gut handeln);
➢ Es reicht nicht aus gut zu sein, man muss auch gut handeln;
18 NE, 1099b 8S
19 NE, 1098b 30
Aristoteles – Diplomprüfung – Karteikarten – Nicolai Großherr
9
1.4 Seelenlehre (Kap. 13)
„Da aber die Glückseligkeit eine der vollendeten Tugend gemäße Tätigkeit der
Seele ist, so haben wir die Tugend zum Gegenstand unserer Untersuchung zu
machen, da wir dann auch die Glückseligkeit besser werden verstehen lernen.“20
„Unter menschlicher Tugend verstehen wir aber nicht die Tüchtigkeit des Leibes,
sondern die der Seele, wie wir ja auch unter der Glückseligkeit eine Tätigkeit der
Seele verstehen.“21
„Einiges aus der Seelenlehre ist nun in den exoterischen Schriften ausreichend
behandelt und mag hier Verwendung finden. So, daß die Seele einen unver-
nünftigen und einen vernünftigen Teil hat.“22 „(…) Das unvernünftige Vermögen
[erweist sich] als zweifach: das pflanzliche hat gar nichts mit der Vernunft gemein,
das sinnlich begehrende dagegen und überhaupt das strebende Vermögen nimmt
an ihr in gewisser Weise teil (…).“23 Aus dem unvernünftigen Seelenteil ergeben
sich demgemäß das vegetative und das strebende Vermögen. „(…) Auch das ver-
nünftige Vermögen [ist] zweifach (…).“24 Auch der vernünftige Seelenteil lässt sich
demnach in zwei Bereiche einteilen, die theoretische und die praktische Vernunft.
„Nach diesem Unterschied wird auch die Tugend eingeteilt. Von den Tugenden
nennen wir die einen dianoethische oder Verstandestugenden, die anderen
ethische oder sittliche Tugenden.“25
Abb 1.1: Seelenlehre (eigene Grafik)
20 NE, 1102a 5
21 NE, 1102b 17
22 NE, 1102b 27
23 NE, 1102b 28
24 NE, 1103a 1
25 NE, 1103a 4
Aristoteles – Diplomprüfung – Karteikarten – Nicolai Großherr
10
Abb 1.2: Seelenlehre (Grafik Melchior)
Aristoteles – Diplomprüfung – Karteikarten – Nicolai Großherr
11
2 Tugend; Art der Tugend; Mesotes-Lehre (Buch 2+3)
2.1 Herleitung des Tugendbegriffs
2.1.1 Tugendhaftigkeit durch Tätigkeit (Kap. 1)
„Wenn sonach die Tugend zweifach ist, eine Verstandestugend und eine sittliche
Tugend, so entsteht und wächst die erstere hauptsächlich durch Belehrung und
bedarf deshalb der Erfahrung und der Zeit; die sittliche dagegen wird uns zuteil
durch Gewöhnung (…).“26 „(…) Die Tugenden [werden uns] weder von Natur noch
gegen die Natur zuteil, sondern wir haben die natürliche Anlage, sie in uns aufzu-
nehmen, zur Wirklichkeit aber wird diese Anlage durch Gewöhnung.
Ferner bringen wir zu dem, was wir von Natur besitzen, zuerst das Vermögen mit,
und dann erst äußern wir die entsprechenden Tätigkeiten (…).“27 „(…) Mit einem
Wort: aus gleichen Tätigkeiten erwächst der gleiche Habitus. Daher müssen wir uns
Mühe geben, unseren Tätigkeiten einen bestimmten Charakter zu verleihen, denn
je nach diesem Charakter gestaltet sich der Habitus.“28
Die Tüchtigkeit, Tugendhaftigkeit
•
des Verstandes entsteht durch Belehrung → dianoethische Tugend;
•
des Charakters entsteht durch Gewohnheit → ethische Tugend;
Tugend als Disposition des Menschen
•
Menschen besitzen die natürliche Anlage, Tugenden zu entwickeln;
•
Tugenden sind nicht angeboren, sondern müssen durch Tätigkeit ent-
wickelt werden;
•
Vollendet werden Tugenden durch Belehrung oder Gewöhnung des
Charakters;
Daraus ergibt folgender Zusammenhang, Dreiklang:
Vermögen → Tätigkeit → Habitus
→ Wir haben das Vermögen nach den Tugenden zu handeln;
→ Diese können wir in Tätigkeiten (Gut handeln) ausüben;
→ Aber den Habitus (Gut sein) erhalten wir er durch wiederholtes
tugendhaftes Handeln, also Gewöhnung;
26 NE, 1103a 14
27 NE, 1103a 24
28 NE, 1103b 21
Aristoteles – Diplomprüfung – Karteikarten – Nicolai Großherr
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2.1.2 Lust an der Tugend (Kap. 2)
„Als ein Zeichen des Habitus muß man die mit den Handlungen verbundene Lust
oder Unlust betrachten.“29 „Der Lust wegen tun wir ja das sittlich Schlechte, und der
Unlust wegen unterlassen wir das Gute.“30 „Die Tugenden bewegen sich ferner um
das Tun und Leiden. Da aber mit allem, was man tut und leidet, Lust und Unlust
verbunden ist, so wird die Tugend sich um Lust und Unlust bewegen.“31
„Da drei Dinge Gegenstand des freien Strebens und drei Gegenstand des Fliehens
sind: das sittlich Gute, das Nützliche und das Angenehme oder Lusterregende, und
deren Gegenteil: das Böse, das Schädliche und das Unangenehme oder Unlust-
erregende, so gilt zwar für alles dieses, daß der Tugendhafte darin das Rechte trifft
und der Schlechte es verfehlt, am meisten aber gilt es für die Lust.“32 „Auch das
sittlich Gute und das Nützliche erscheinen ja als lustbringend.“33
•
Allgemein: Lust (oder Unlust) ist übergreifend zu verstehen, jede
Tätigkeit, jede Handlung ist mit Lust (oder Unlust) verbunden;
•
Daraus folgt, dass natürlich auch das Gute, also die Glückseligkeit,
nicht ohne Lust auskommen kann;
•
Allerdings: Die vernünftigen Tugenden haben die Lust in einem rechten
Maß zu halten, da wir ansonsten aus Unlust das Gute unterlassen und
aus Lust das Schlechte tun;
•
Drei Gegenstände des Strebens, des Begehrens (strebendes Ver-
mögen der Seele):
•
Das sittlich Gute;
•
Das Nützliche;
•
Das Lustvolle;
2.1.3 Tugend: Wissen und Handlung (Kap. 3)
„Eine dem sittlichen Bereich angehörende Handlung aber ist nicht schon
dann eine Handlung der Gerechtigkeit und Mäßigkeit, wenn sie selbst eine
bestimmte Beschaffenheit hat, sondern erst dann, wenn auch der Handelnde
bei der Handlung gewisse Bedingungen erfüllt, wenn er erstens wissentlich,
wenn er zweitens mit Vorsatz, und zwar mit einem einzig auf die sittliche
Handlung gerichteten Vorsatz, und wenn er drittens fest und ohne
Schwanken handelt.“34 „Es ist also richtig gesprochen, daß man durch Hand-
lungen der Gerechtigkeit ein gerechter und durch Handlungen der Mäßigkeit
29 NE, 1104b 4
30 NE, 1104b 9
31 NE, 1104b 13
32 NE, 1104b 30
33 NE, 1105a 1
34 NE, 1105a 27
Aristoteles – Diplomprüfung – Karteikarten – Nicolai Großherr
13
ein mäßiger Mann wird. Niemand aber, der sie nicht verrichtet, ist auch nur
auf dem Weg, tugendhaft zu werden.“35
•
Zuvorderst, tugendhaft kann nur werden, wer auch den Tugenden
gemäß handelt;
•
Zudem muss man auch das Wissen darüber, dass man tugendhaft
handelt mitbringen;
•
Allerdings reicht diese allein noch nicht aus, nur, wer wissentlich und
vorsätzlich die tugendhafte Handlung anstrebt, kann letzen Endes als
tatsächlich tugendhaft bezeichnet werden;
•
Insofern kann nur die absichtsvoll, dem Wissen entsprechende, an-
gestrebte Handlung als wahrhaft tugendhafte Handlung angesehen
werden;
2.2 Bestimmung des Tugendbegriffs
2.2.1 Tugend als Gattungsbegriff (Kap. 4)
„Hiernach müssen wir untersuchen, was die Tugend ist. Da es dreierlei psychische
Phänomene gibt: Affekte, Vermögen und jene dauernde Beschaffenheit, die man
Habitus nennt, so wird die Tugend von diesen dreien eines sein müssen.“36 „Als
Affekte bezeichnen wir: Begierde, Zorn, Furcht (…) [usw.], überhaupt alles, was mit
Lust oder Unlust verbunden ist; als Vermögen das, was uns für diese Gefühle
[Affekte] empfänglich macht (…); als Habitus endlich das, was macht, daß wir uns
in bezug auf die Affekte richtig oder unrichtig verhalten (…).“37
„Affekte nun sind die Tugend und die Laster nicht, weil wir nicht wegen der Affekte
tugendhaft oder lasterhaft genannt werden, wohl aber wegen der Tugend und
Laster, und weil wir nicht wegen der Affekte gelobt und getadelt werden (…).“38
„Aus diesen Gründen sind die Tugenden auch kein Vermögen. Denn wir heißen
nicht darum gut oder böse, weil wir das bloße Vermögen der Affekte besitzen, noch
werden wir darum gelobt oder getadelt.“39 „Wenn nun die Tugenden keine Affekte
und auch kein Vermögen sind, so bleibt nur übrig, daß sie ein Habitus sind. So
hätten wir denn erklärt, was die Tugend der Gattung nach ist.“40
Die drei psychischen Phänomene sind:
➢ Affekte: Gefühle, oder alles, was mit Lust und Unlust zu tun hat;
35 NE, 1105b 9
36 NE, 1105b 19
37 NE, 1105b 23
38 NE, 1105b 29
39 NE, 1106a 7
40 NE, 1106a 12
Aristoteles – Diplomprüfung – Karteikarten – Nicolai Großherr
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➢ Vermögen: Macht uns für Affekte zugänglich, es handelt sich dabei
also um die Möglichkeit, das Potenzial oder die Anlage der Tugend-
haftigkeit;
➢ Habitus: Die Fähigkeit, das Verhalten der Vernunft im Zusammenspiel
mit den Affekten. Dabei ist der Habitus insofern tugendhaft als er uns
befähigt unsere affektiven Bestrebungen im rechten Maß, vermittelt der
Vernunft, zu lenken.
Tugenden sind:
➢ Keine Affekte, da diese nicht bestimmen können, was tugendhaft ist
und somit kein Gut sind;
➢ Kein Vermögen, da auch die reine Anlage zur Tugend nicht selbst als
Gut, also Tugend, gelten kann;
→ Als Gattungsbegriff, die habituelle Fähigkeit die Affekte und die Vernunft
in einen rechten und guten Zusammenhang zu bringen.
2.2.2 Tugend als Artbegriff (Kap. 5)
„(…) Die Tugend des Menschen [ist] ein Habitus (…), vermöge dessen er selbst gut
ist und sein Werk gut verrichtet.“41 „Aber diese Bestimmung, daß die Tugend ein
Habitus ist reicht nicht hin; wir müssen auch angeben, welcher Art derselbe ist.“42
„(…) Wir betrachten [also], von welcher Art die Natur der Tugend ist.“43
„In allem, was kontinuierlich und was teilbar ist, läßt sich ein Mehr, ein Weniger und
ein Gleiches antreffen, und zwar entweder mit Rücksicht auf die Sache selbst oder
mit Rücksicht auf uns. Das Gleiche aber ist ein Mittleres zwischen Übermaß und
Mangel.“44 „So meidet denn jeder Kundige das Übermaß und den Mangel und sucht
und wählt die Mitte, nicht die Mitte der Sache nach, sondern die Mitte für uns.“45 Es
erschließt sich „(…) , daß die Tugend nach der Mitte zielt, die sittliche oder
Charaktertugend wohlverstanden, da sie mit den Affekten und Handlungen zu tun
hat, bei denen es eben ein Übermaß, einen Mangel und ein Mittleres gibt.“46 „(…)
Affekte zu haben, wann man soll, und worüber und gegen wen und weswegen und
wie man soll, das ist die Mitte und das Beste, und das ist die Leistung der Tugend.
Ebenso gibt es bei den Handlungen ein Übermaß, einen Mangel und eine Mitte.“47
Tugenden sind:
→ Als Artbegriff, die habituelle Fähigkeit bei Affekten und (Einzel-)Hand-
41 NE, 1106a 22
42 NE, 1106a 13
43 NE, 1106a 26
44 NE, 1106a 27
45 NE, 1106b 5
46 NE, 1106b 16
47 NE, 1106b 22
Aristoteles – Diplomprüfung – Karteikarten – Nicolai Großherr
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lungen die Mitte, zwischen Übermaß und Mangel, zu treffen, mittels Wahl,
und dadurch Tugendhaftigkeit zu erst zu erzeugen.
„Denn es ist leicht, das Ziel zu verfehlen, aber schwer es zu treffen. Auch aus
diesem Grunde gehört demnach das Übermaß und der Mangel dem Laster
an, die Mitte aber ist die Tugend. Denn „Nur eine Weise kennt die Tugend,
doch viele das Laster“.“48
Der Artbegriff der Tugend ist zugleich der erste und wichtigste Bestandteil der
Mesotes-Lehre, also der Lehre der Bestimmung der Mitte. Da dieser die
maßgeblichen Bestandteile benennt und vorgibt, nämlich, die Unter-
scheidung zwischen Übermaß und Mangel sowie die Feststellung, dass es
dazu immer eine angemessene Mitte gibt.
2.3 Mesotes-Lehre (Kap. 5-9)
„Es ist mithin die Tugend ein Habitus des Wählens, der die nach uns bemessene
Mitte hält und durch die Vernunft bestimmt wird (…). Die Mitte ist die zwischen
einem doppelten fehlerhaften Habitus, dem Fehler des Übermaßes und des
Mangels (…).“49
Als erste Bestimmung der Mitte dient uns demnach die Feststellung:
➔ Die Mitte ist das, was zwischen den zwei Extremen, Mangel und
Übermaß, liegt.
Im weiteren Verlauf (Kap. 7) zeigt A. an Beispielen, einzelnen Tugenden und
möglichen Situationen, das sie Bestimmung der Mitte nicht generalisiert
werden kann, sondern vielmehr im jeweiligen Fall vorgenommen werden
muss. Daraufhin (Kap. 8) erweitert er diese Erkenntnis, dabei stellt er fest,
dass die jeweiligen Extreme am weitesten voneinander entfernt sind. „(…)
Stehen die Extreme doch in einem größeren Gegensatz zueinander als zu
Mitte.“50 Er stellt dies klar, da dieser Umstand seines Erachtens in der Be-
trachtung zu Verwirrungen führen kann. Weiter: „Zu der Mitte bildet bald der
Mangel, bald das Übermaß den größeren Gegensatz (…).“51 Dennoch
konstatiert er, dass es verschiedene Gründe gibt, warum wir dennoch nicht
immer exakt die Extreme als Extreme sehen und die Mitte in der Folge richtig
bestimmen. Dabei handelt es sich seines Erachtens um zwei Hauptgründe:
„Diese rührt von einer doppelten Ursache her. Die eine liegt in der Sache
48 NE, 1106b 33
49 NE, 1107a 1
50 NE, 1108b 28
51 NE, 1109a 1
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selbst. (…) Die andere liegt in uns selbst.“52
1. In der Sache selbst: „Weil das eine Extrem der Mitte näher und ähnlicher
ist, so stellen wir nicht es selbst, sondern sein Gegenteil zu ihr in Gegensatz;
so stellen wir, weil dem Mute die Tollkühnheit ähnlicher und näher zu sein
scheint, die Feigheit aber unähnlicher, eher diese letztere im Gegensatz zum
Mute, weil das von der Mitte Entferntere als mehr gegenteilig erscheint.“53
2. In uns selbst: „Das, wozu wir von Natur irgendwie mehr geneigt sind, er-
scheint als der Mitte mehr entgegengesetzt. So neigen wir von Hause aus
mehr zur Lust, weshalb wir leichter den Weg der Zuchtlosigkeit als der
Wohlanständigkeit betreten. (…) Deshalb ist die Zuchtlosigkeit, ein Über-
maß, in höherem Grade der Mäßigkeit entgegengesetzt.“54
➢ Zusammenfassend handelt es sich dabei um Sachursachen der Mitte,
die natürlich entsprechend zu berücksichtigen sind.
Als erste Erweiterung der Bestimmung der Mitte dient uns die Feststellung:
➔ Die Mitte ist das, was der Sache gerecht wird. Dabei muss die Sache –
also die entsprechende Tugend oder wir selbst oder beides – an-
gemessen, also dem jeweiligen Fall der Betrachtung entsprechend,
berücksichtigt werden. Also: Berücksichtigung der Sachursachen der
Mitte.
„Auch muß man beachten, wozu man selbst am meisten neigt, und in dieser Be-
ziehung sind die Einzelnen von Haus aus sehr verschieden. Wohin jedoch unsere
Neigung steht, verrät unsere besondere Art, Lust und Unlust zu empfinden. Da
müssen wir uns mit eigener Anstrengung auf die andere Seite zu bringen suchen.
Denn indem wir so dem Verkehrten recht weit aus dem Wege gehen, werden wir
zur Mitte gelangen (…).“55
Als zweite Erweiterung der Bestimmung der Mitte dient uns die Feststellung:
➔ Die Mitte ist das, was auch durch Vermeidung unserer persönlichen
Präferenzen von Lust näher bestimmt werden kann. Das heißt im
Endeffekt nur, dass die Bestimmung auch von der jeweiligen Person
abhängig ist, und dass die Person die Mitte leichter treffen wird, wenn
sie darauf achtet, welches ihre eigenen Präferenzen sind und versucht
diese zu vermeiden.
52 NE, 1109a 5
53 NE, 1109a 6
54 NE, 1109a 13
55 NE, 1109b 2
Aristoteles – Diplomprüfung – Karteikarten – Nicolai Großherr
17
Bestimmung der Mitte (Mesotes-Lehre):
Definition:
➔ Die Mitte ist das, was zwischen den zwei Extremen, Mangel und
Übermaß, liegt.
Erweiterungen:
➔ Die Mitte ist das, was der Sache gerecht wird.
➔ Die Mitte ist das, was auch durch Vermeidung unserer persönlichen
Präferenzen von Lust näher bestimmt werden kann.
Insgesamt kann allerdings festgestellt werden, dass sich die drei vor-
geschlagenen Begriffe der Mitte auf den Ersten reduzieren lassen. Weshalb
die beiden anderen auch nur als, wenn auch nicht zu vernachlässigende,
Erweiterungen anzusehen sind.
Allgemein lässt sich zur Tugend und zur Bestimmung der Mitte noch
Folgendes sagen: „Das mag, besonders in den einzelnen Fällen schwer sein.“56
„Wer aber das rechte Maß nur um ein Kleines verfehlt, sei es durch ein Zuviel oder
ein Zuwenig, den tifft kein Tadel, wohl aber den, der es bedeutend verfehlt, weil er
nicht unbemerkt bleibt.“57
2.4 Zurechenbarkeit (Buch 3, Kap. 1-7)
2.4.1 Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit
Man kommt wohl nicht umhin, „(…) den Begriff des Freiwilligen und des Un-
freiwilligen zu erörtern.“58
„Unfreiwillig scheint zu sein, was aus Zwang oder Unwissenheit geschieht.
Erzwungen oder gewaltsam ist dasjenige, dessen Prinzip außen liegt, und wo der
Handelnde oder der Gewalt Leidende nichts dazutut.“59 „(…) So möchte freiwillig
sein, dessen Prinzip in dem Handelnden ist und zwar so, daß er auch die einzelnen
Umstände der Handlung kennt.“60
„Was aus Unwissenheit geschieht, ist zwar nicht alles freiwillig getan, aber für un-
freiwillig können doch nur diejenigen Handlungen gelten, denen Schmerz und Reue
folgen.“61 „Wer also das aus Unwissenheit Getane bereut, erscheint als jemand, der
56 NE, 1109b 14
57 NE, 1109b 18
58 NE, 1109b 33
59 NE, 1110a 1
60 NE, 1111a 23
61 NE, 1110b 18
Aristoteles – Diplomprüfung – Karteikarten – Nicolai Großherr
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unfreiwillig gehandelt hat, wer es aber nicht bereut, als jemand, der nicht freiwillig
gehandelt hat.“62
Unfreiwilligkeit
➢ Wird durch Zwang, genau genommen durch äußeren Zwang, definiert;
➢ Bezieht auf die unfreie Wahl von Handlungen;
Freiwilligkeit
➢ Kennzeichnet sich dadurch, das der Handelnde es selbst in der Hand
seine Handlungen zu wählen;
➢ Hierzu darf er auch nicht unwissend sein, da er ja dann keine bewusste
Wahl treffen kann;
Unwissenheit
➢ Stellt sich als Spezialfall dar, da der Handelnde ja zumeist freiwillig
gehandelt hat, aber unter Umständen nicht geahnt hat welchen Zweck
er damit verfolgt;
➢ A. unterscheidet hier zwischen, insbesondere in Bezug auf nicht
tugendhaft Handlungen, danach ob der Handelnde im Nachhinein be-
reut oder nicht;
➢ wobei er wie folgt unterscheidet: unfreiwillig (bereuen) und nicht frei-
willig (nicht bereuen)
➢ hier geht es mehr oder weniger um die Frage, wie und nach welchen
Maßstäben über eine gerechte Strafe entschieden werden soll und
kann;
„Die Willenswahl scheint vor allem das Eigentümliche der Tugend auszumachen
und noch mehr als die Handlungen selbst den Unterschied der Charaktere zu be-
gründen.“63
„Die Willenswahl ist etwas Freiwilliges, fällt aber nicht mit dem Freiwilligen zu-
sammen, sondern hat einen weiteren Umfang.“64 „Aber auch Wille ist sie nicht,
wenn auch anscheinend ihm verwandt.“65 „Ferner geht der Wille mehr auf den
Endzweck, die Wahl auf die Mittel zu Zwecke.“66 „Sollte sie also nicht jenes Frei-
willige sein, das überlegt und vorbedacht ist?“67 „Jeder Mensch aber überlegt das,
62 NE, 1110b 23
63 NE, 1111b 6
64 NE, 1111b 8
65 NE, 1111b 20
66 NE, 1111b 26
67 NE, 1112a 16
Aristoteles – Diplomprüfung – Karteikarten – Nicolai Großherr
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was durch ihn selbst getan werden kann.“68 „Handlungen, die bei uns stehen, die
überlegen wir, und die sind allein noch übrig.“69
„Der Mensch ist also, wie gesagt, Prinzip der Handlungen. Die Überlegung bezieht
sich auf das, was er selbst tun kann. Was er aber tut, ist Mittel zum Zweck. Mithin
fällt der Zweck nicht unter die Überlegungen, sondern die Mittel zum Zweck.“70
„Gegenstand der Überlegung und der Willenswahl ist ein und dasselbe, nur mit
dem Unterschied, daß das Gewählte schon bestimmt ist. Denn das, wofür die
Überlegung sich entschieden hat, ist eben das Gewählte.“71
„Da also Gegenstand der Willenswahl etwas von uns Abhängiges ist, das wir mit
Überlegung begehren, so ist auch die Willenswahl ein überlegtes Begehren von
etwas, was in unserer Macht steht. Denn insofern wir uns vorher aufgrund der
Überlegung ein Urteil gebildet haben, begehren wir mit Überlegung.“72
→ Unterscheidung zwischen Willenswahl und Wille
➢ Wille:
➢ Zweckwahl oder Wahl von Zielen;
➢ Zielt auf den Endzweck;
➢ Kann unrealistisch sein, man kann nicht erfüllbare Dinge wollen;
➢ Willenswahl:
➢ Mittelwahl oder Wahl von Mitteln zum Zweck;
➢ Entscheidung zu instrumentellen Mitteln;
➢ Bezieht sich auf realistische, mögliche und verfügbare Mittel;
➢ Willenswahl ist nicht gleich dem Willen (u.a., etwa Affekten);
➢ Willenswahl ist freiwillig, aber nicht gleich dem Freiwilligen;
→ Überlegung
➢ Damit Willenswahl freiwillig ist, muss sie Gegenstand von Über-
legungen sein;
➢ Gegenstand der Überlegungen sind Mittel zum Zweck;
➢ Überlegungen beziehen sich nicht auf (End-)Zwecke;
Zusammenfassend: Der Wille bestimmt den Endzweck und ist dabei insofern
68 NE, 1112a 34
69 NE, 1112a 31
70 NE, 1112b 32
71 NE, 1113a 3
72 NE, 1113a 10
Aristoteles – Diplomprüfung – Karteikarten – Nicolai Großherr
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hypothetisch, als er auch auf unrealistische Zwecke gerichtet werden kann.
Die Willenswahl wiederum kann sich nur auf diejenigen Zwecke (des Willens)
beziehen, die realistisch sind, da sie auf das ausgerichtet ist, dass man auch
tatsächlich tun kann. Willenswahl ist die freiwillige Wahl von Mitteln zum
Zweck. Die Freiwilligkeit kann erst angenommen werden, wenn der Willens-
wahl die Überlegung vorangegangen ist. Überlegungen determinieren also
die anschließende Willenswahl der Handlung.
„Da nun also der Zweck Gegenstand des Wollens ist und die Mittel zum Zweck
Gegenstand der Überlegung und Willenswahl, so sind wohl die auf diese Mittel ge-
richteten Handlungen frei gewählt und freiwillig. In solchen Handlungen bestehen
aber die Tugendakte.“73
„Steht es aber bei uns, das Gute und das Böse zu tun und zu unterlassen (…), so
steht es folgerichtig bei uns, sittlich und unsittlich zu sein.“74
„Wenn demnach die Tugenden, wie man behauptet, freiwillig sind (…), so müssen
auch die Laster freiwillig sein; denn beide verhalten sich gleich.“75
73 NE, 1113b 3
74 NE, 1113b 12
75 NE, 1114b 23
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21
3 Gerechtigkeit; dikaiosyne (Buch 5)
„In bezug auf die Gerechtigkeit und die Ungerechtigkeit ist zu untersuchen, mit was
für Handlungen sie zu tun hat, was für eine Mitte die Gerechtigkeit ist, und wovon
das Gerechte die Mitte ist.“76 „Wir sehen, daß jedermann mit dem Wort Gerechtig-
keit einen Habitus bezeichnen will, vermöge dessen man fähig und geneigt ist, ge-
recht zu handeln, und vermöge dessen man gerecht handelt und das Gerechte will,
und ebenso mit dem Worte Ungerechtigkeit einen Habitus, vermöge dessen man
ungerecht handelt und das Ungerechte will.“77
➔ Es wird festgestellt, dass Gerechtigkeit eine Tugend ist;
➔ Sie ist die Mitte zwischen Ungerechtigkeit und Ungerechtigkeit,
also zwischen Ungerechtigkeit des Übermaßes und des
Mangels;
3.1 Doppelte Bedeutung von Gerechtigkeit (Kap. 1-3)
„Man scheint nun tatsächlich von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in mehrfachem
Sinne zu sprechen, nur das diese Homonymie, diese Verschiedenheit der Be-
deutung bei Gleichheit des Wortes, nicht groß ist und sich darum versteckt oder
nicht so offen hervortritt wie bei Dingen, die weit von einander liegen.“78
„Mithin ist das Recht das Gesetzliche und das der Gleichheit Entsprechende, das
Unrecht das Ungesetzliche und das der Gleichheit Zuwiderlaufende.“79 „Da uns der
Gesetzesübertreter als ungerecht und der Beobachter des Gesetzes als gerecht
galt, so ist offenbar alles Gesetzliche in einem bestimmten Sinne gerecht und
Recht.“80 „Und so nennen wir in einem Sinne gerecht was in der staatlichen Ge-
meinschaft die Glückseligkeit und ihre Bestandteile hervorbringt und erhält.“81
„Diese Gerechtigkeit ist die vollkommene Tugend, nicht die vollkommene Tugend
überhaupt, sondern soweit sie auf andere Bezug hat – deshalb gilt sie oft für die
vorzüglichste unter den Tugenden (…).“82 „(…) In der Gerechtigkeit ist jegliche
Tugend enthalten; und sie gilt als die vollkommenste Tugend, weil sie die An-
wendung der vollkommenen Tugend ist. Vollkommen ist sie aber, weil ihr Inhaber
die Tugend auch gegen andere ausüben kann (…).“83 „Eben darum scheint auch
die Gerechtigkeit unter den Tugenden ein fremdes Gut zu sein, weil sie sich auf
andere bezieht.“84 „Die gesetzliche Gerechtigkeit ist demnach kein bloßer Teil der
76 NE, 1129a 3
77 NE, 1129a 8
78 NE, 1129a 28
79 NE, 1129a 35
80 NE, 1129b 13
81 NE, 1129b 17
82 NE, 1129b 27
83 NE, 1129b 29
84 NE, 1130a 2
Aristoteles – Diplomprüfung – Karteikarten – Nicolai Großherr
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Tugend, sondern die ganze Tugend (…).“85
„Wie sich die Tugend und diese Gerechtigkeit sich trotzdem unterscheiden, erhellt
sich aus dem Gesagten. Beide sind dasselbe, ihr Begriff ist aber nicht derselbe,
sondern insofern es sich um die Beziehung auf andere handelt, redet man von Ge-
rechtigkeit, insofern es sich aber um einen Habitus handelt, der sich in den Akten
der Gerechtigkeit auswirkt, redet man von Tugend schlechthin.“86
Die doppelte Bedeutung von Gerechtigkeit bezeichnet demnach die Unter-
scheidung von Gerechtigkeit an sich, also allgemeiner Gerechtigkeit und Ge-
rechtigkeit als Rechtsanspruch, also partikularer Gerechtigkeit:
➢ Gerechtigkeit an sich, ist Tugend, also Habitus;
➢ Sie manifestiert sich durch die Akte der Gerechtigkeit;
➢ Aus ihr folgend die gerechten Handlungen;
➢ Sie kann auch als vollkommenste und allgemeinste Form der
Gerechtigkeit bezeichnet werden;
➢ Gerechtigkeit als Rechtsanspruch ist die ausgeübte Tugend;
➢ Aus den gerechten Handlungen lässt sich demnach auf das
Recht als Anspruch ableiten;
➢ Dabei ist von besonderer Bedeutung, dass diese durch Hand-
lungen schon ausgefüllte Bedeutung sich insbesondere dadurch
auszeichnet, dass sich ihre Handlungen und somit sie selbst
immer auch auf Andere beziehen;
➢ Dieser unumgängliche Bezug auf Andere macht aus der Ge-
rechtigkeit auch eine besondere Tugend; sie bezieht sich nicht
nur immer auf andere Menschen;
➢ sondern darüber hinaus auch immer auf andere Tugenden;
➢ Deshalb wird sie auch die vollkommene Tugend genannt;
➢ Im Gegensatz zur allgemeinen Definition ist sie partikulare Ge-
rechtigkeit, da sie spezifische Anwendung ist;
Gerechtigkeit ist somit der Gattung nach, die vollkommene soziale Tugend,
sie ist dies, da sie den Bezug auf andere Menschen und andere Tugenden
implizit besitzt;
85 NE, 1130a 8
86 NE, 1130a 12
Aristoteles – Diplomprüfung – Karteikarten – Nicolai Großherr
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3.2 Erläuterung partikularer Gerechtigkeit (Kap. 4-9)
„Mithin müssen wir uns auch mit der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit und mit
Recht und Unrecht im engeren Sinne beschäftigen. Jene Gerechtigkeit und Un-
gerechtigkeit also, die sich auf den ganzen Umfang der Tugend bezieht und die die
Anwendung der ganzen Tugend, beziehungsweise des ganzen Lasters, auf unser
Verhältnis zu anderen Menschen ist, möge als erledigt gelten.“87
„Von der partikularen Gerechtigkeit aber und dem ihr entsprechenden Rechte ist
eine Art die, die sich bezieht auf die Zuerteilung von Ehre und Geld oder anderen
Gütern, die unter die Staatsangehörigen zur Verteilung gelangen können – denn
hier kann der eine ungleich viel und gleich viel erhalten wie der andere -; die andere
ist die, die den Verkehr der einzelnen untereinander regelt. Die letztere hat zwei
Teile. Es gibt einen freiwilligen Verkehr und einen unfreiwilligen.“88 „Das Recht ist
(…) [ganz allgemein] etwas Proportionales.“89
Hieraus lassen sich zwei Typen der partikularen Gerechtigkeit erkennen:
1. Die distributive Gerechtigkeit; auch verteilende Gerechtigkeit;
2. Die kommutative Gerechtigkeit; auch ausgleichende Gerechtigkeit;
Allgemein lässt sich weiterhin feststellen, dass Gerechtigkeit/Recht etwas
Proportionales ist. Die beiden Typen unterscheiden sich dann auch nach
ihrem Anwendungsgebiet sowie den Maßstäben der Proportionalität, die sie
zugrunde legen.
3.2.1 Die distributive oder verteilende Gerechtigkeit
➢ Das Verhältnis der Proportionalität ist geometrisch;
➢ Das Kriterium ist die Würdigkeit, also Ansehen, Verdienst, Leistung;
➢ Es wird eine Analogie gezogen zwischen Würdigkeit und an-
gemessener Zuteilung von Gütern;
Mögliche Interpretation nach Staatstypen, als Bedingung für die Würdigkeit:
•
aus Freiheit (Demokratie), durch Geburt (Oligarchie), durch Tüchtigkeit
(Aristokratie), durch Besitz (Timokratie), durch Weisheit (Sophiakratie),
durch Alter (Gerontokratie) usw.
87 NE, 1130b 17
88 NE, 1130b 30
89 NE, 1131a 30
Aristoteles – Diplomprüfung – Karteikarten – Nicolai Großherr
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3.2.2 Die kommutative oder ausgleichende Gerechtigkeit
➢ Das Verhältnis der Proportionalität ist arithmetisch;
➢ Das Kriterium ist die Gleichheit;
➢ Unter der Annahme der Gleichheit wird der Ausgleich von Gütern ohne
Unterscheidung der beteiligten Personen eins zu eins vorgenommen;
Unterscheidung unter dem Aspekt der Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit:
1. Freiwilligkeit
•
Willentlicher Rechtsverkehr; Zivilrecht;
•
Tauschgerechtigkeit;
2. Unfreiwilligkeit
•
Unwillentlicher Rechtsverkehr; Strafrecht;
•
Korrektive Gerechtigkeit;
Abb 3.1: Gerechtigkeit
Aristoteles – Diplomprüfung – Karteikarten – Nicolai Großherr
25
3.3 Arten des Rechts (Kap. 10) und Billigkeit (Kap. 14)
3.3.1 Arten des Rechts
1. Das Recht schlechthin – Recht nach Gattung, unbestimmt
2. Das Recht als Bestimmtes (in Realisierung)
a) Politisches Recht – Recht in der Gesellschaft
i. Natürliches Recht
ii. Gesetzliches Recht
b) Häusliches Recht – Recht im Haus
i. Eherecht
ii. Väterliches Recht
iii. Herrenrecht über Sklaven
c) Individualrecht: Rechte nur gegenüber sich selbst
3.3.2 Billigkeit
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