Fachbereich Gesellschaftswissenschaften
Hausarbeit im Studiengang Sozialwissenschaften
eingereicht an
Freie Universität Berlin
Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften
Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaften
Thema: Legitimation durch Verfahren als Analyseansatz.
Hauptseminar: Soziologie des Verfahrens.
eingereicht von: Nicolai Grossherr ‹748136›
eingereicht am: 20. April 2009
Betreuer: Dr. Thomas Scheffer
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Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung………………………………………………………………………………………1
2 Herleitung……………………………………………………………………………………..2
2.1.1 Analyse der Klassiker…………………………………………………………2
2.1.2 Erweiterung durch Betrachtung der Praxis……………………………3
2.1.3 Folgen für das Verständnis von Verfahren …………………………..6
2.1.4 Konklusion………………………………………………………………………..9
2.2 Legitimierende verfahrensmäßige Systeme …………………………………………10
2.2.1 Legitimation…………………………………………………………………….10
2.2.2 Zwischenfazit………………………………………………………………….14
2.2.3 Verfahren als soziales System ………………………………………….15
2.2.4 Fazit………………………………………………………………………………18
3 Schlussbetrachtung………………………………………………………………………19
Bibliographie ……………………………………………………………………………….22
Abkürzungsverzeichnis
LdV
–
Legitimation durch Verfahren
Legitimation durch Verfahren als Analyseansatz
1 Einleitung
Das Ziel dieser Arbeit ist es, aus dem Buch Legitimation durch Verfahren von
Niklas Luhmann mögliche Analyseansätze herauszuarbeiten. Weiterhin handelt es
sich bei der Arbeit um eine intensive Primärtextstudie, so dass sie sich in ihrer
Gänze auf das Buch bezieht. Der erste Schritt besteht darin, Luhmanns
Argumentation herzuleiten und diese verständlich darzustellen. Im zweiten Schritt
werden die wichtigsten Punkte seiner Untersuchung herausgearbeitet.
Zu Beginn wird in Augenschein genommen, was die Gründe für eine neue
Konzeption und Interpretation der Untersuchung von Verfahren sind. Die Gründe
werden vor allem durch die Orientierung an klassischen Konzeptionen des
Verfahrens herausgearbeitet. Daraus folgt, dass es notwendig ist, die Praxis von
Verfahren zu betrachten, um zu einer Neukonzeption zu gelangen. Diese Arbeit
wird sich allerdings eher an den Ergebnissen der Betrachtung orientieren als an der
Betrachtung selbst. Dadurch werden sowohl die Gründe für die Neuinterpretation
erkennbar als auch Folgerungen einbezogen, die sich daraus ergeben. Dabei
handelt es sich, allgemein gesagt, um die Folgen einer soziologischen Erörterung
des Verfahrensbegriffs. Über die Untersuchung des Begriffs Legitimation wird zu
einem Ansatz gelangt, der das Verfahren als soziales System beschreibt.
Durch die Erarbeitung des vorab Beschriebenen werden die grundlegenden
Erkenntnisse in Zusammenhang gebracht. Daraus lassen sich weitergehende
Zusammenhänge erkennen und eigene Schlussfolgerungen ziehen. Letztlich
kommt es zu einer Einschätzung hinsichtlich der möglichen Verwendung für die
Analyse von Verfahren.
Nicolai Grossherr
1
Einleitung
Legitimation durch Verfahren als Analyseansatz
2 Herleitung
Die Herleitung seines eigenen Ansatzes nimmt in Luhmann in drei Schritten
vor. Als erstes geht er auf die bisherigen Theorien über das Verfahren ein.
Sein zweiter Schritt ist es, den Begriff der Legitimation oder Legitimität
näher zu erläutern. Schließlich leitet er daraus seinen eigenen Ansatz ab,
der das Verfahren als soziales System beschreibt.
2.1 Konzeption einer Theorie des Verfahrens
Ausgehend von der Darstellung klassischer Konzeptionen des Verfahrens
erläutert Luhmann seine eigene Konzeption. Er betont dabei, dass es eine
Übertreibung sei, von klassischen Konzeptionen des Verfahrens zu
sprechen.1 Das begründet er damit, dass „eine angemessene Theorie des
Verfahrens (…) weder die liberale noch eine andere Richtung des Rechts-
und Staatsdenkens hervorgebracht“2
hat. Als übergeordnete
Gemeinsamkeit der verschiedenen Ansätze kann die Einschätzung
verstanden werden, dass
„rechtlich geordnete Verfahren der
Entscheidungsfindung (…) zu den auffälligsten Merkmalen des politischen
Systems moderner Gesellschaften [gehören; N.G.]“3. Allerdings bleibt dies
vorerst die einzige offensichtliche Übereinstimmung.
2.1.1
Analyse der Klassiker
Luhmann konstatiert, dass die Vielfalt der Ansätze zu groß und die Ansätze
in sich und unter sich zu unentschieden seien. Auch seien die vorhandenen
Ansätze nicht hinreichend ausgearbeitet und würden häufig Lücken in der
1 Luhmann, Niklas: Legitimation durch Verfahren. Suhrkamp Verlag: Frankfurt am Main, 1983,
S. 11ff.
2 LdV, S. 11
3 LdV, S. 11
Nicolai Grossherr
2
Herleitung
Legitimation durch Verfahren als Analyseansatz
Beschreibung des Problemfeldes aufweisen.4
Gewisse Gemeinsamkeiten erkennt er in der Betrachtungsweise der
bisherigen Ansätze. Sie weisen, wie er sagt, „eine gewisse Homogenität
der Vorurteile auf“5. Diese Vorurteile lassen sich im Großen und Ganzen
zwei verschiedenen Richtungen zuordnen: einerseits den Rechtslehren
und andererseits den Wirklichkeitslehren. Problematisch ist bei beiden
Richtungen, dass sie sich als reine Lehren verstehen und insofern der
jeweils anderen Seite als unzugänglich erscheinen müssen. „Weder reine
Rechtslehren noch reine Wahrheitslehren können einem Thema gerecht
werden, das in vorgegebenen Sinnstrukturen und im wirklichen Verhalten
zwei Pole hat, die in Bezug aufeinander als variabel gedacht werden
müssen.“6
Unter anderem wegen der Schwierigkeit, dass sich die bisherigen Ansätze
wegen ihres Alleinvertretungsanspruches gegenseitig ausschließen,
schlägt Luhmann einen anderen Weg ein. Den sieht er darin, sich der
Thematik soziologisch zu nähern, mithin eine „soziologische Theorie des
Verfahrens“7 zu erarbeiten, denn bisher bleiben „die sozialen
Verhaltensbedingungen und die Verankerung des Verfahrens in
umfassenderen, vorstrukturierten Systemen der Gesellschaft (…) im
Dunkeln.“8
2.1.2
Erweiterung durch Betrachtung der Praxis
Angesichts der Tatsache, dass es für Luhmann keine Verfahrenslehre gibt,
die als Vorlage für seine Untersuchung dienen könnte, entscheidet er sich
dafür, eine Annäherung über die Betrachtung verschiedener
4 LdV, S. 11-12
5 LdV, S. 11
6 LdV, S. 13
7 LdV, S. 12
8 LdV, S. 12
Nicolai Grossherr
3
Herleitung
Legitimation durch Verfahren als Analyseansatz
Verfahrensarten9 vorzunehmen.10 Er wählt zu diesem Zweck drei
herausragende Verfahren des politischen Systems, die sich mehr oder
weniger durch Dauer und Wichtigkeit auszeichnen und somit Merkmale
aufweisen, die für die Untersuchung von Bedeutung sind. Aus der
Betrachtung dieser drei sehr unterschiedlichen Verfahren leitet Luhmann
eine klassische Konzeption des Verfahrens ab, obwohl er einschränken
muss, dass "es keine einheitliche Verfahrenslehre als Vorlage für eine
solche Untersuchung gibt (…)“11. Er stellt jedoch fest: „Diese
Vorüberlegungen zu drei sehr verschiedenartigen, rechtlich geregelten
Verfahren lassen bereits so viel Gemeinsames erkennen, daß die
Grundlagen der klassischen Konzeption des Verfahrens formuliert werden
können.“12 Seine Vorgehensweise ermöglicht ihm, die Definition der
klassischen Konzeption selber festzulegen. Um das nachvollziehbar zu
machen ist es notwendig, die wichtigsten Erkenntnisse aus der
Betrachtung der Verfahren kurz zu erläutern.
Luhmann beginnt damit, das Verfahren der politischen Wahl
nachzuzeichnen. Ziel dieses Verfahrens sei es, die fähigsten Personen in
die entscheidenden Positionen innerhalb der politischen Institutionen zu
wählen. Sie hätten die Aufgabe, mittels ihres Wissens und Könnens den
Volkswillen umzusetzen. Dabei sei es notwendig, dass diejenigen, welche
die Entscheidungen bei der Wahl treffen, die Voraussetzung umfassender
Informiertheit und rationaler Grundlagen bezüglich der
Entscheidungsfindung erfüllen.13
Ziel dieser Aufzählung der herkömmlich angenommenen Bedingungen für
das Verfahren der politischen Wahl ist es für Luhmann, die
Widersprüchlichkeit zwischen Anspruch und Wirklichkeit aufzudecken. „Bei
9 „(…) das Verfahren der politischen Wahl, das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren und
den gerichtlichen Prozeß.“ (LdV, S. 13)
10 LdV, S. 13
11 LdV, S. 13
12 LdV, S. 18
13 LdV, S. 13-14
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4
Herleitung
Legitimation durch Verfahren als Analyseansatz
solchen Selbstwidersprüchen in den Leitgedanken der Institution muß allzu
scharfe Bewußtheit korrumpierend wirken“14 Obwohl die meisten der
Ansprüche empirisch-kausal nicht haltbar sind, zeigt sich deutlich, dass das
Verfahren der Wahl dennoch funktioniert. Die sich daran anschließende
Frage kann nur lauten: Warum?
Auch hinsichtlich des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens kommt
Luhmann zu keinem positiveren Schluss. Dieses Verfahren soll dem Zweck
der Wahrheit verpflichtet sein, aber auch dabei wird dieser Zweck auf
vielfältige Weise beeinflusst. Die Idee eines normativ zu definierenden
Zieles und der gleichzeitigen Beeinflussung desselben stehen im
Widerspruch zueinander. In Luhmanns Worten: „Auch hier muß die Frage
kommen, wie dieses Ziel und jene Mittel harmonieren.“15 Es muss „(…) der
Gedanke, dass Konkurrenz der Meinung genüge, um Wahrheit zu
sichern“16 überprüft werden.
Bei den gerichtlichen Verfahren folgert Luhmann, dass dort die Diskrepanz
zwischen Anspruch und Wirklichkeit nicht derart deutlich zutage tritt, „und
doch liegt auch hier der Sachverhalt nicht wesentlich anders“17, was den
Bezug zur Wahrheit betrifft. Gerichtsverfahren sind „auf einen
Wahrheitswert bezogen, auf ein richtiges Erkennen dessen, was als Recht
gilt und im Einzelfall rechtens ist.“18 Insofern unterscheidet sich also auch
das Gerichtsverfahren nicht stark vom Verfahren der politischen Wahl oder
dem der parlamentarischen Gesetzgebung.
Es lassen sich Elemente ausmachen, die den drei exemplarisch
herangezogenen Verfahren gemeinsam sind: „Es ergibt keine zureichende
Instruktion für den Entscheidenden, wenn der Prozeß dafür eingerichtet
wird, um der Wahrheit oder des Friedens willen richtige oder unrichtige
14 LdV, S. 14
15 LdV, S. 15
16 LdV, S. 16
17 LdV, S. 16
18 LdV, S. 17
Nicolai Grossherr
5
Herleitung
Legitimation durch Verfahren als Analyseansatz
Entscheidungen zu erzeugen.“19 Für Luhmann ist der „Kern aller
klassischen Verfahrenslehren (…) der Bezug auf Wahrheit oder wahre
Gerechtigkeit" 20. In allen diesen Verfahrenslehren habe sich, obwohl die
jeweiligen Entscheidungsträger als Verfahrensbeteiligte für gewöhnlich am
Prozess beteiligt sind, „(…) die Idee einer von den Machthabern
unabhängigen, ihnen entgegen gehaltenen Wahrheit und Gerechtigkeit
[verfestigt; N.G.]“21.
2.1.3
Folgen für das Verständnis von Verfahren
Luhmann folgert, dass in den klassischen Konzeptionen von Verfahren die
Wahrheit eine immanente Rolle einnimmt. Er spricht dabei von der
zentralen Stellung des Wahrheitswertes, die historisch zu erklären ist. Im
selben Atemzug macht er allerdings deutlich, dass er diese Stellung für
überbewertet und allein schon durch seine kurzen Ausführungen als
widerlegt erachtet, wobei insbesondere die vorab unter dem Gesichtspunkt
der Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit erläuterten Punkte zu
berücksichtigen sind. So sagt Luhmann: „Nach alldem ist schwer zu sehen,
wie anders als durch ein Vorurteil der Auffassung festgehalten werden
könnte, daß wahre Erkenntnis und wahre Gerechtigkeit das Ziel und damit
das Wesen rechtlich geregelter Verfahren seien, und wenn, wie ein solches
Ziel erreicht werden könnte.“22 Damit macht er nochmals deutlich, dass aus
seiner Sicht allein das Festhalten an dem Vorurteil, Verfahren würden
Wahrheit erzeugen, die klassischen Konzeptionen diskreditiert, und zwar
insofern, als diese dadurch ungeeignet seien, die tatsächliche Funktion von
Verfahren widerzuspiegeln.
Diese lässt sich vielmehr aus einer anderen, und zwar soziologischen
Perspektive heraus ermitteln. Dabei setzt Luhmann bei der
19 LdV, S. 17
20 LdV, S. 18
21 LdV, S. 19-20
22 LdV, S. 20
Nicolai Grossherr
6
Herleitung
Legitimation durch Verfahren als Analyseansatz
Ausdifferenzierung von Rollen an, die er schon durch die Erläuterung der in
der Praxis vorkommenden Verfahren hergeleitet hat.23 Es handelt sich um
verfahrensspezifische Rollen, die - im Gegensatz zu allgemeinen,
gesellschaftlichen Rollen - zu verfahrensspezifischer Kommunikation fähig
sind. Dadurch werden erstens Kommunikations-möglichkeiten mobilisiert,
zweitens wird Kommunikation freigesetzt und drittens wird konkurrierende
Kommunikation ermöglicht.24 Wobei auch das nicht gewährleistet, „dass
stets Wahrheit gefunden, stets eine richtige Entscheidung getroffen wird.“25
Für Luhmann ist ohnehin fraglich, „ob der Gewinn von Wahrheit überhaupt
die tragende Funktion rechtlich geregelter Verfahren ist“26, da „dem (…) die
Notwendigkeit des Entscheidens entgegen [steht; N.G.]“27. Insofern sieht er
dann auch das Entscheiden als tragende Funktion des Verfahrens. „Lässt
man dagegen von der Voraussetzung ab, daß Verfahren der Entdeckung
der Wahrheit dienen, gewinnt man die Möglichkeit, ihre Funktion für die
Legitimierung des Entscheidens unvoreingenommen in neuartiger,
soziologischer Weise zu untersuchen.“28 Zumal die Frage offen bleibt, ob
das Herbeiführen einer Entscheidung und die Richtigkeit einer
Entscheidung gleichzeitig und im selben Maße gewährleistet werden
können.
Unter diesem Gesichtspunkt bleibt fraglich, welche Funktion der Wahrheit
innerhalb des Verfahrens zukommt. Hierzu stellt Luhmann fest: „Was
Wahrheit im sozialen Verkehr leistet, ist Übertragung reduzierter
Komplexität.“29 Die Bedeutung dieser Funktion nimmt mit zunehmender
Steigerung der Komplexität in den modernen Gesellschaften zu, da ein
höheres Maß an Komplexität das Bedürfnis nach die Selektion
erleichternden Mechanismen erhöht. In diesem Zusammenhang dient
23 LdV, vgl. S. 20ff.
24 LdV, S. 21
25 LdV, S. 21
26 LdV, S. 22
27 LdV, S. 21
28 LdV, S.23
29 LdV, S.23
Nicolai Grossherr
7
Herleitung
Legitimation durch Verfahren als Analyseansatz
Wahrheit als Vergleichsmodell, sie wird demnach gewissermaßen zu Rate
gezogen dadurch, dass sie in der entsprechenden Situation den Rahmen
der Beurteilung zur Verfügung stellt. Das wiederum führt direkt auf die
zweite Funktion hin, und zwar auf die subjektivierende Funktion der
Wahrheit. Sie und ihre Betrachtung werden als Tätigkeit des Subjekts, als
rein subjektive Erfahrung wahrgenommen, wobei „in Wahrheitsfragen (…)
der Mensch als Subjekt engagiert [ist; N.G.], der als Träger des Sinnes der
Welt mit in Betracht kommt.“30 Letztlich also bezieht sich der
Wahrheitsmechanismus – nach neuzeitlicher Interpretation31 – auf die
menschliche Subjektivität und ist aus diesem Grund auch unabdingbar,
denn „kein Verfahren kann Wahrheit in dieser spezifischen Funktion
missen (…)“32.
„Eine Theorie des Verfahrens braucht deshalb einen abstrakteren
funktionalen Bezugsgesichtspunkt, der den Wahrheitsmechanismus
einschließt, aber sich in ihm nicht erschöpft.“33 Da sich Wahrheit nicht oder
eben nicht allein als Bezugspunkt eignet, stellt sich Luhmann die Frage,
was dafür in Frage käme oder um was Wahrheit ergänzt werden müsste.
Hierbei hat er den Mechanismus der Macht im Auge, sie erscheint ihm als
notwendige Selektionsleistung zur Herbeiführung von Entscheidungen.
„Wer Macht besitzt, kann andere motivieren, seine Entscheidungen als
Verhaltensprämisse zu übernehmen, also eine Selektion aus einem
Bereich möglicher Verhaltensalternativen als bindend zu akzeptieren.“34 Im
Gegensatz zum Wahrheitsmechanismus muss der Machtmechanismus
begründbar sein – einerseits gegenüber sich selbst und andererseits
gegenüber anderen, zumeist gehen diesen beiden Schritte ohnehin
einher.35 Insofern beinhaltet der Machtmechanismus einen intersubjektiven
30 LdV, S. 24
31 LdV, vgl. S. 24f.
32 LdV, S. 24
33 LdV, S. 25
34 LdV, S. 25
35 Hierzu ist insb. Fußnote 25 auf Seite 25 zu beachten.
Nicolai Grossherr
8
Herleitung
Legitimation durch Verfahren als Analyseansatz
Aspekt, da er – im Gegensatz zur Wahrheit – den Austausch der Subjekte
anregt und fördert. Das erleichtert die intersubjektive Kommunikation
reduzierter Komplexität. Zugleich wird damit die Frage nach der
Legitimation von Macht aufgeworfen, nach der legitimen Macht, um zu
entscheiden.
2.1.4
Konklusion
Luhmanns Kritik an den klassischen Verfahrenskonzeptionen liegt
hauptsächlich darin begründet, dass diese die Problematik des Erzeugens
von Entscheidungen zu eindimensional auf die Wahrheit gerichtet sahen.
Das ermöglicht zwar Kommunikation, aber Kommunikation allein garantiert
noch keine Entscheidung. Einerseits ist dadurch nicht sichergestellt, dass
die Möglichkeiten zur Kommunikation tatsächlich auch genutzt werden,
andererseits erklärt kommunizieren um der Wahrheit willen noch nicht, wie
es daraus letztlich zu Entscheidungen kommt.
Die zu starke Fokussierung auf das Normative ist das Hauptproblem der
klassischen Interpretationen, zumal sie nicht erklären können, wie eine
normative Perspektive immer im jeweiligen Einzelfall erreicht werden kann.
Gerade die Wiederholbarkeit, die dauernde Verwendbarkeit ist bei den
klassischen Verfahrenskonzeptionen in Zweifel zu ziehen, denen
außerdem zu eigen ist, dass sie die soziale Komponente des Entscheidens
missachten oder zumindest gering schätzen.
Allerdings klammert Luhmann die Wahrheit nicht vollkommen aus seinen
Betrachtungen aus, vielmehr geht es ihm darum, sie nach ihrer seines
Erachtens richtigen und wichtigen Funktion einzuordnen: der Reduktion
von Komplexität und damit einhergehend der Subjektivität von Erfahrungen
des Individuums. Unter Berücksichtigung dieser Erkenntnisse wird es
verständlicher wie Entscheidungen zustande kommen. Zur weiteren
Verständlichkeit ist noch der Faktor der Macht zu berücksichtigen, dem die
Problematik der Legitimität intrinsisch innewohnt.
Nicolai Grossherr
9
Herleitung
Legitimation durch Verfahren als Analyseansatz
2.2 Legitimierende verfahrensmäßige Systeme
Der von Luhmann soziologisch fortentwickelte Ansatz zur Konzeption von
Verfahren ist keineswegs abgeschlossen. Mit der Problematik der
Legitimität hat sich ein nicht zu ignorierender Bereich aufgetan, wobei im
Anschluss an dessen Erörterung zu klären bleibt, wie er sich mit den bisher
erarbeiteten Neuerungen vereinbaren lässt. Damit wird das komplexe
Gebilde der Legitimation noch eingehender hinsichtlich seiner
soziologischen Perspektive betrachtet und beschrieben, besonders durch
die Beschreibung des Verfahrens als soziales System.
2.2.1
Legitimation
Die Legitimation von Macht lässt sich historisch herleiten. Dabei sind vor
allem zwei Punkte hervorzuheben: Konsens und Zwang.36 „Beides, Zwang
und Konsens, muß also in irgendeinem Mischungsverhältnis gegeben
sein.“37 Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich bei beiden um knappe
Ressourcen handelt, die erst einmal vorhanden sein oder generiert werden
müssen. Sind sie vorhanden, wird damit aber noch nicht ihre Funktion
erklärt. „Ihre bloße Addition dürfte nicht ausreichen und vermag auch die
Institutionalisierung der Legitimität nicht zu erklären.“38 Besonders die
Frage nach dem Warum, also nach den Gründen, aus denen heraus
Menschen bereit sind, Entscheidungen, die im Konsens und/oder durch
Zwang durchgesetzt werden, tatsächlich zu akzeptieren, bleibt oft
ungeklärt. Dabei ist zu beachten, dass das Akzeptieren nicht, wie im Fall
der Wahrheit, frei von Motiven sein darf, da sonst die Annahme, Wahrheit
müsse als Erklärungsansatz durch Akzeptanz ersetzt werden, wenig Sinn
hätte.
36 Luhmann geht dabei davon aus, dass die Vorstellung, Zwang alleine genüge, sich überholt hat
und dass auch die Vorstellung es ließe sich immer Konsens erzeugen, nicht der Realität
entspricht. (vgl. S. 27f.)
37 LdV, S. 28
38 LdV, S. 28
Nicolai Grossherr
10
Herleitung
Legitimation durch Verfahren als Analyseansatz
In einer ersten Vorabdefinition kann man „(…) Legitimität auffassen als eine
generalisierte Bereitschaft, inhaltlich noch unbestimmte Entscheidungen
innerhalb gewisser Toleranzgrenzen hinzunehmen“39, auch wenn die
Gründe dafür, dass solche Entscheidungen als legitim akzeptiert werden,
unklar sind. Offensichtlich jedoch ist, dass es solche Mechanismen gibt, da
auch unvollkommene Entscheidungsfindungen durchaus zu mehr oder
weniger allgemein akzeptierten Entscheidungen führen können. Auch
solchen Entscheidungen wird Legitimation zugeschrieben, was nur
bedeuten kann, dass die Verfahren, die zu solchen Entscheidungen
führen, ebenfalls als legitim angesehen werden. Luhmann stellt allerdings
fest, dass es nur wenige Ansatzpunkte in den bisherigen Erörterungen von
Legitimität gibt, die diese Problematik verständlich machen würden. Am
ehesten sieht er eine Möglichkeit der Annäherung über den Begriff der
rationalen Legitimität bei Max Weber.40
Obwohl nach Luhmanns Ansicht der Erklärungsansatz von Legitimität also
nicht ausreichend gesichert ist, gehört seines Erachtens „(…) die
Fraglosigkeit legitimer Geltung bindender Entscheidungen zu den
typischen Kennzeichen des modernen politischen Systems (…)“41. Insofern
geht es für ihn tatsächlich nicht mehr darum, zu beweisen, dass als legitim
angesehene Entscheidungen getroffen werden, sondern vielmehr um die
Frage wie diese als legitim angesehenen Entscheidungen getroffen
werden, also wie es möglich ist, Entscheidungen, die in einem zumeist
nicht perfekten Verfahren gefällt werden, mit Legitimation zu versehen.
Luhmann geht nicht davon aus, dass das durch historische oder
naturrechtliche Herleitungen ausreichend geleistet werden kann. „Bei
hoher Komplexität und Variabilität des Sozialsystems der Gesellschaft
kann die Legitimation politischer Macht nicht mehr einer naturartig
39 LdV, S. 28
40 Hier kommt Luhmann zu dem Schluss, dass gerade die Legitimitätsbegriffe von Weber, obwohl
gerade sie häufig verwendet und zitiert werden, nur wenig soziologischen Tiefgang haben. (vgl.
S. 28f.; sowie Fußnote 5 auf Seite 29)
41 LdV, S. 29
Nicolai Grossherr
11
Herleitung
Legitimation durch Verfahren als Analyseansatz
vorgestellten Moral überlassen, sondern muß im politischen System selbst
erarbeitet werden.“42
Um die moderne Gesellschaft adäquat beschreiben zu können ist es
notwendig, die älteren Erklärungsansätze hinter sich zu lassen und sich an
neuen, den Umständen angepassten Ansätzen zu versuchen. Diesen
Zeitpunkt hält Luhmann für gekommen, und einen spezifischen Teil dieser
Neuinterpretation leistet sein Verständlichmachen der Legitimität von
Verfahren.
Gerade die neue Interpretation des Begriffs Legitimität macht es
notwendig, diesen weiter gehend zu definieren. Hierzu zählt insbesondere
die Unterscheidung zwischen den Voraussetzungen für Entscheidungen
und den Entscheidungen an sich. So stellt Luhmann fest, „am
Legitimitätsbegriff muss zunächst deutlich unterschieden werden zwischen
Akzeptieren von Entscheidungsprämissen und Akzeptieren von
Entscheidungen selbst.“43 Grundsätzlich gilt hier eine Dualität von
Begriffen, insofern als das Akzeptieren immer auch das Ablehnen als
Möglichkeit impliziert. Weiterhin ist zu beobachten, dass diese Dualität
sowohl auf die Prämissen als auch auf die Entscheidungen selbst
angewendet werden kann. Prinzipiell besteht die Möglichkeit, im Rahmen
des Entscheidungsgerüstes, das aus der zu Grunde liegenden Prämisse
und aus der auf die Prämisse folgenden Entscheidung besteht, nur einen
Teil davon zu akzeptieren, was die Betrachtung von Legitimation erschwert,
da immer beide Bestandteile des Entscheidungs-gerüstes ins Auge gefasst
werden müssen. Zu lösen ist das Problem dadurch, dass die Prämisse in
einem anderen, vorhergehenden Verfahren festgelegt wird. In Bezug auf
die zu beurteilende Entscheidung ist davon auszugehen, dass Prämisse
und Entscheidung einher gehen; sollte das nicht der Fall sein, muss das
Verfahren zur Prämissefindung erneut ablaufen und sich die Prämisse
dementsprechend ändern. Festzuhalten ist, dass die Prämisse bei dieser
42 LdV, S. 30
43 LdV, S. 31
Nicolai Grossherr
12
Herleitung
Legitimation durch Verfahren als Analyseansatz
Auffassung fester Bestandteil des Entscheidungsverfahrens ist. Das
Akzeptieren setzt die Anerkennung der Prämisse implizit voraus. „Die
Schwierigkeiten verlagern sich mit dieser Definition auf den Begriff des
Anerkennens oder Akzeptierens.“44
Luhmann ist davon überzeugt, dass die Begriffe bisher zu eng verwendet
werden, da sie besonders auf die Richtigkeit von Prinzipien und Inhalten
abzielen. Darin sieht er eine gewisse Nähe zu den Auffassungen der
klassischen Konzeptionen des Verfahrens. Allerdings ist er auch hier –
ähnlich wie in Bezug auf die Wahrheit – der Meinung, dass das ein zu hoch
gegriffener Maßstab ist, der mehr oder weniger zwangsläufig nicht
eingehalten werden kann, so dass das Scheitern quasi vorprogrammiert ist.
Dieses Scheitern lässt sich durch Generalisierung vermeiden. „Jene
Auffassungen [die einen allzu normativen Maßstab setzen; N.G.] verkennt
die hohe Komplexität, Variabilität, Widersprüchlichkeit der Themen und
Entscheidungsprämissen, die im politisch-administrativen System
moderner Gesellschaften jeweils behandelt werden müssen. Dieser
Komplexität moderner Gesellschaften kann nur durch Generalisierung des
Anerkennens von Entscheidungen Rechnung getragen werden.“45
In der Folge ist es notwendig, die Begriffe des Akzeptierens und des
Anerkennens näher zu betrachten. Unstrittig ist, dass Individuen
Entscheidungen aus dem Sozialsystem übernehmen, in Anpassung an die
eigene individuelle Erwartungs-struktur. Luhmann ist weniger daran
gelegen, dem Mechanismus dieser Veränderung der Erwartungsstruktur
auf den Grund zu gehen. Ihm geht es mehr darum, festzustellen, dass
dieser Vorgang der Anpassung eine nicht zu bestreitende Realität ist und
es sich dabei um einen Lernprozess handelt. „Jedenfalls liegt der
Anerkennung ein Lernprozeß zugrunde, eine Änderung der Prämissen,
nach denen der einzelne weiterhin Erlebnisse verarbeiten, Handlungen
44 LdV, S. 32
45 LdV, S. 32
Nicolai Grossherr
13
Herleitung
Legitimation durch Verfahren als Analyseansatz
auswählen, sich selbst darstellen wird.“46 Das erfolgreiche oder nicht
erfolgreiche Lernen kann Verfahren des Entscheidens erleichtern oder
erschweren. Dabei ist nicht zu übersehen, dass der Lernprozess im
sozialen Kontext geschieht. „(…) Lernen kann nicht vom einzelnen allein
geleistet werden, nicht ohne soziale Unterstützung geschehen.“47 Der
Grund hierfür ist, dass der Mensch sich seiner selbst in seinem sozialen
Umfeld bewusst sein muss. Bei Nichtbeachtung dessen wäre entweder das
Individuum oder das soziale System empfindlich gestört, ein in beiden
Fällen nicht dauerhaft aufrecht zu erhaltender Zustand, so dass im
Normalfall eine Anpassung entweder des Individuums oder des Systems
erfolgt. Luhmann ist weiterhin überzeugt, dass nur unter diesen
Voraussetzungen Legitimität von Verfahren analysierbar wird. Denn „nur
wenn man die Bindung des Legitimitätsbegriffs an die persönlich geglaubte
Richtigkeit der Entscheidungen aufgibt, kann man die sozialen
Bedingungen der Institutionalisierung von Legitimität und Lernfähigkeit in
sozialen Systemen angemessen untersuchen.“48
2.2.2
Zwischenfazit
Es zeigt sich, dass man bei voranschreitender Diskussion schnell die
Grenzen des jeweiligen Verfahrens überschreiten könnte. Das ist zwar eine
interessante Perspektive, aber eine solche Erweiterung würde den
Rahmen der Betrachtung sprengen. „Uns interessiert daher primär der
Beitrag zur Legitimation der Entscheidungen, den das entscheidende
System selbst erbringen kann.“49
Diesbezüglich ist es jedoch notwendig, bestehende Moralvorstellungen zu
überdenken. Angesichts der Tatsache, dass althergebrachte Vorstellungen
zumeist außerhalb des jeweiligen Systems angesiedelt und somit dem
46 LdV, S. 33
47 LdV, S. 34
48 LdV, S. 34
49 LdV, S. 36
Nicolai Grossherr
14
Herleitung
Legitimation durch Verfahren als Analyseansatz
Zugriff weitgehend entzogen sind, ist dieser Schritt unumgänglich, geht es
doch auch um die Erörterung der Möglichkeit, dass sich spezifische
Verfahrenssysteme durch ihre Inhalte selbst legitimieren.
Dabei wird auf die oben genannten Merkmale von Machtmechanismen
zurückgegriffen, auf Konsens und Zwang. Beide Merkmale treten im
Rahmen des politisch-administrativen Systems auf, speziell wenn sich die
Erarbeitung der Systematik auf moderne Gesellschaften bezieht. Unter
Berücksichtigung dieser neuen Systematik von Legitimation wird deutlich,
dass der Begriff der Legitimität weiter gefasst werden muss. Ein wichtiger
Bestandteil ist dabei der Vorgang des Akzeptierens oder Anerkennens, der
nur als soziales Lernen verstanden werden kann, als ein im Spannungsfeld
zwischen Individuum und Verfahrenssystem ablaufender Lernprozess.
„Demnach geht es bei der Legitimation von Entscheidungen im Grunde um
ein effektives, möglichst störungsfreies Lernen im sozialen System.“50
Der nächste Schritt ist, aus den bisherigen Erkenntnissen eine Systematik
abzuleiten. Dahinter steht der Grundgedanke, dass sich Verfahren auf der
erarbeiteten Basis als eigenständiges soziales System beschreiben lassen.
2.2.3
Verfahren als soziales System
„(…) Das Verfahren lässt sich als ein soziales Handlungsystem besonderer
Art begreifen.“51 In ihm sind die Elemente Handlung, Situation und
Beziehung als integrale Teile des Systems enthalten, jedoch ist das
Verfahren keine festgelegte Abfolge dieser Elemente. „Eine solche
Auffassung würde das Verfahren als Ritual begreifen (…).“52 Zwar
reduzieren auch Rituale die Komplexität von Handlungszusammenhängen,
so dass sie gewisse Ähnlichkeit zu Verfahren aufweisen, dennoch sind sie
damit nicht identisch. Kennzeichnend für Rituale ist deren alternativloser
Ablauf, hingegen zielen Verfahren darauf ab, in ihrem jeweiligen Rahmen
50 LdV, S. 35
51 LdV, S. 38
52 LdV, S. 38
Nicolai Grossherr
15
Herleitung
Legitimation durch Verfahren als Analyseansatz
ergebnisoffen zu sein, das ist der signifikante Unterschied zwischen den
beiden Mechanismen. Dennoch gilt: "ohne Zweifel nehmen öffentliche
Verfahren ritualisierte Elemente in sich auf“53, aber – und das ist
maßgeblich – nur als ein Bestandteil des Verfahrensprozesses.
In Bezug auf das Verfahren lässt sich sagen, es läuft ab „als eine
Entscheidungsgeschichte, in der jede Teilentscheidung einzelner
Beteiligter zum Faktum wird, damit den anderen Beteiligten
Entscheidungsprämissen setzt und so die gemeinsame Situation
strukturiert, aber nicht mechanisch auslöst, was als nächstes zu
geschehen hat.“54
Das Besondere an der Deutung des Verfahrens als System ist, dass
dadurch der prozessuale Charakter im systemischen aufgeht, also Prozess
und System nur als gemeinsames Ganzes verstanden werden können.
„Prozesse sind Systeme und haben eine Struktur; anders können sie nicht
Prozesse sein, und anders können auch Systeme und Strukturen nicht
sein.“55 Verfahren sind spezifische Subsysteme, die ihre Strukturen
zunächst von allgemeinen Regeln und Normen für Verfahren sowie
übergeordneten Systemen ableiten. Allerdings zeichnen sich Systeme
jeweils durch ihr Verhältnis zur Welt aus und haben insofern auch einen
jeweils eigenen Bezug zur Komplexität der Welt. So ist „für jede
Systembildung (…) bezeichnend, daß sie nur einen Ausschnitt der Welt
erfaßt, nur eine begrenzte Zahl von Möglichkeiten zulässt und
verwirklicht.“56 Damit wird ein Schritt der Reduktion von Komplexität
vollzogen, in der Folge wird dadurch das Entscheiden in spezifischen
Situationen vereinfacht, da für das jeweilige System eine Beschränkung
der Möglichkeiten vorgenommen wurde. „Verfahren sind in der Tat soziale
Systeme, die eine spezifische Funktion erfüllen, nämlich eine einmalige
verbindliche Entscheidung zu erarbeiten, und dadurch von vornherein in
53 LdV, S. 39
54 LdV, S. 40
55 LdV, S. 41
56 LdV, S. 41
Nicolai Grossherr
16
Herleitung
Legitimation durch Verfahren als Analyseansatz
ihrer Dauer begrenzt sind.“57
Obwohl das im letzten Absatz Erläuterte schon einen erheblichen Einfluss
auf die Komplexitätsreduktion von Verfahren hat, sieht Luhmann darin nur
einen kleineren Teil dieses Effekts ausreichend zur Geltung gebracht.
„Strukturvorgabe und Definition konkret erkennbarer Systemgrenzen sind
nicht die einzigen und für unser Problem nicht die wichtigsten
Reduktionsweisen.“58 Er kommt zu dieser Einschätzung, da Struktur und
Teilsystem für ihn Eigenschaften darstellen, die jedes Verfahrenssystem –
und mit Ausnahme des alles umfassenden Gesamtsystems jedes System
überhaupt – auszeichnen. Es handelt sich dabei also nicht um
notwendigerweise spezifische Funktionszuschreibungen, so dass es für
Luhmann weitergehende Spezifika geben muss. Diese sind folglich noch
spezieller und haben noch weiter gehende Auswirkungen hinsichtlich der
reduzierenden Wirkung auf die Komplexität. Es handelt sich um die oben
erwähnte Entscheidungsgeschichte, die im weiteren Verlauf mit dem Begriff
Verfahrensgeschichte fortgeführt wird. Dabei verhält es sich so, dass durch
die Interpretation des Verfahrens als soziales System die Entstehung einer
Verfahrensgeschichte begünstigt wird, denn
„um eine eigene
Verfahrensgeschichte herstellen zu können, muss das Verhalten der
Beteiligten im Verfahren wählbar und damit auch zurechenbar sein.“59 Das
Verhalten orientiert sich an den verfahrensspezifischen strukturellen und
funktionalen Eigenheiten. Dadurch dass Verhalten und Handlungen zeitlich
ablaufen (Aktion und Reaktion), entsteht eine Vergangenheit und somit
eine Geschichte, die einzig und allein dem einen Verfahren zugeordnet
werden kann.
„Die Verfahrensgeschichte dient dabei als
Strukturäquivalent, sie sondert nämlich dieses eine Verfahren für eine
Weile ab als ein besonderes System, in dem nicht mehr alles möglich ist,
was in der Welt sonst möglich wäre.“60 Genauer gesagt, in dem nicht
57 LdV, S. 41
58 LdV, S. 43
59 LdV, S. 44
60 LdV, S. 44
Nicolai Grossherr
17
Herleitung
Legitimation durch Verfahren als Analyseansatz
einmal mehr möglich ist, was in ähnlichen, d.h. in (allgemeiner) Struktur
und Teilsystemzugehörigkeit gleichen, Verfahren möglich wäre.
2.2.4
Fazit
Durch die Anwendung der Systemtheorie auf die Betrachtung von
Verfahren konnte die Konzeption von Verfahren ins Soziologische gezogen
werden. Weiterhin wurde deutlich, inwiefern diese der Soziologie
zugehörige Betrachtungsweise von Vorteil sein kann. Es ist als
weiterführender Ausblick in Betracht zu ziehen, dass insbesondere zwei
(soziologische) Ebenen durch die neue Konzeption des Verfahrens näher
definiert und untersucht werden können, nämlich die Verhaltens- und die
Rollenebene.61 Durch die Einschränkung auf verfahrenstypische Ebenen ist
Selektion von Information/Wissen und Handlungen/Entscheidungen
möglich. „Gerade diese Absorption von Ungewißheit durch selektive
Schritte macht den Sinn des Verfahrens aus, macht eine Abgrenzung
gegenüber der Umwelt nicht verfahrenszugehöriger Informationen
erforderlich und bedingt eine gewisse Autonomie des
Entscheidungsvorgangs“62, so dass „die relative Autonomie des
Verfahrens auf Verhaltens- und auf Rollenebene (…) zur sozialen
Generalisierung des Ergebnisses bei[trägt; N.G.].“63 Die dem Verfahren
innewohnende Generalisierung ist nicht denkbar ohne das dem Verfahren
zuzuordnende soziale Lernen. Über diesen Lerneffekt ist – wie im Abschnitt
zur Legitimität herausgearbeitet wurde – Legitimation überhaupt erst
möglich geworden; insbesondere in Bezug auf das Lernen im spezifischen
Verfahren und somit der gewissermaßen sich selbst legitimierenden
Funktion desselben. Rückbezüglich auf die beiden dem
Machtmechanismus innewohnenden Elemente Zwang und Konsens lässt
sich feststellen, dass diese als Kooperation und Konflikt innerhalb des
61 Vgl. LdV, S. 47ff.
62 LdV, S. 47
63 LdV, S. 49
Nicolai Grossherr
18
Herleitung
Legitimation durch Verfahren als Analyseansatz
Verfahrenssystems auftreten. „Dabei wird zwischen Kooperation und
Konflikt durch die Struktur des Systems nicht vorentschieden. Sie eignet
sich zu beidem. (…) Typisch verschmelzen Verfahren (…) beide
Funktionen.“64
Letztlich ist zu resümieren, dass sowohl die Übertragung der Konzeption
von Verfahren in das Soziologische als auch der dadurch in Erscheinung
tretende legitimierende Charakter verständlich gemacht worden sind.
Dadurch ergeben sich vollkommen neue Möglichkeiten in der Analyse von
Verfahren, aber auch im Verständnis davon wie das jeweilige
Einzelverfahren in den Kontext seines Umfeldes eingebettet ist. „Soviel
läßt sich für Verfahren schlechthin ausmachen. Als Angelpunkt für das
Verständnis von Struktur, Funktionen und Antrieb und für das Begreifen
ihres inneren Zusammenhanges dient uns die Vorstellung einer
begrenzten, systemeigenen Komplexität des Verfahrens.“65
3 Schlussbetrachtung
Ziel der Arbeit war, die Legitimation durch Verfahren als Analyseansatz
verständlich zu machen. Das ist meines Erachtens nach gelungen, speziell
im Hinblick auf die Herleitung des Ansatzes ist vieles deutlich
herausgearbeitet worden. Das betrifft sowohl die Erörterung des
Verfahrens(-systems) als auch dessen Umfeld, speziell unter den
Gesichtspunkten der Strukturweitergabe sowie der System-Subsystem-
Systematik. So wurde es möglich, die Gleichzeitigkeit von Trennung und
Zusammenhang des Verfahrenssystems schlüssig darzustellen. Die
isolierte Betrachtung des Verfahrens als eigenständiges soziales System
wiederum eignet sich zur Ableitung des Analyseansatzes. Allerdings ist
festzuhalten, dass diese Arbeit nur Anhaltspunkte für den Analyseansatz
herausarbeiten konnte, zumal es notwendig war, zuerst ein Verständnis für
64 LdV, S. 50
65 LdV, S. 52
Nicolai Grossherr
19
Schlussbetrachtung
Legitimation durch Verfahren als Analyseansatz
die Problematik zu entwickeln, aber auch auf Grund des beschränkten
Umfanges.
Zusammenfassend ist zu sagen, dass die klassischen Konzeptionen als
ungeeignet für den Zweck der Analyse diskreditiert sind, einerseits wegen
ihrer fehlenden Subjektbezogenheit und andererseits wegen ihrer
einseitigen Orientierung auf den Wert der Wahrheit. Daraus ergab sich für
Luhmann die Notwendigkeit der Neuinterpretation. Sie führte zu der
Erkenntnis, dass nicht die Wahrheit die Kernfunktion von Verfahren ist,
sondern das Entscheiden. Die Wahrheit hat andere Funktionen, etwa das
Sicherstellen des subjektiven Bezugs zum Verfahren. Daraus wiederum
ließ sich ableiten, dass Verfahren immer auch mit Machtfragen im
Zusammenhang stehen. Durch die Betrachtung der Machtfrage und der
Frage nach Legitimität wurde deutlich, dass gerade auch das
entscheidende System selbst einen Beitrag zur Legitimation leistet. Ein
weiterer wichtiger Gesichtspunkt war die Erkenntnis, dass Verfahren als
Lernprozess im sozialen System verstanden werden können. Dadurch
wurde klar, dass Verfahren tatsächlich als eigenständige soziale Systeme
aufgefasst und beschrieben werden können, was als systemtheoretische
Deutung von Verfahren zu begreifen ist. Es wurde hervor gehoben, dass in
diesem Verständnis die klare Trennung zwischen Prozess- und
Systemvorstellung aufgegeben werden muss. So lässt sich schließlich der
Prozess des sozialen Lernens als Verfahrensprozess sehen und dieser als
integraler Bestandteil des Systems Verfahren. Dabei handelt es sich um
den ersten Schritt der Reduktion von Komplexität, wobei das beim
Verfahren ein System mit spezifischen Funktionen ist. Der zweite und
wichtigere, weil klarer abzugrenzende Schritt wird durch die
Verfahrensgeschichte vollzogen. Deren Erläuterung hat gezeigt, dass
(Einzel-)Verfahren als jeweils einzigartig anzusehen sind, kein Verfahren
gleicht dem anderen, trotz der übergeordneten Gemeinsamkeiten.
Es ergeben sich verschiedene Analyseperspektiven: Die Analyse des
Nicolai Grossherr
20
Schlussbetrachtung
Legitimation durch Verfahren als Analyseansatz
Verfahrens in seinem Umfeld, die Analyse von Verfahrenstypen sowie die
Einzelfallanalyse von Verfahren. Dabei ermöglicht der systemische Ansatz
auch Kombinationen dieser Analysen, was allerdings zu einer
Komplizierung führen würde. Deshalb sollte es am Anfang wohl eher um
die Ausarbeitung der einzelnen Analyseansätze gehen, insbesondere
bezüglich der konkreten Analyse von Einzelfällen.
Bei der vorliegenden Arbeit ging es speziell um eine einführende
Betrachtung der Analyseansätze, die sich aus Niklas Luhmanns Buch
„Legitimation durch Verfahren“ ergeben. Dabei wurden zwar wichtige
Punkte herausgearbeitet. Sie werfen jedoch mehr Fragen auf als in diesem
Rahmen beantwortet werden konnten.
Nicolai Grossherr
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Bibliographie
Luhmann, Niklas (1983): Legitimation durch Verfahren. Frankfurt am Main:
Suhrkamp.
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