Fachbereich Gesellschaftswissenschaften
Hausarbeit im Studiengang Sozialwissenschaften
eingereicht an
Freie Universität Berlin
Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften
Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaften
Thema: Systemtheorie als konflikttheoretische Analysemethode?
Methodenseminar: Konflikttheoretische Kontroversen in der Friedensforschung.
eingereicht von: Nicolai Grossherr ‹748136›
eingereicht am: 20. April 2009
Betreuer: Prof. Dr. Sven Chojnacki
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Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung…………………………………………………………………………………………………1
2 Herleitung………………………………………………………………………………………………..2
2.1 Systemdefinition………………………………………………………………………………..3
2.2 Sinn, Kommunikation und Handlung………………………………………………….11
2.3 Die Komplexität der Welt …………………………………………………………………15
3 Schlussbetrachtung………………………………………………………………………………….16
i
Thema: Systemtheorie als konflikttheoretische Analysemethode?
1
1 Einleitung
Ziel dieser Arbeit ist es, grundlegende systemtheoretische Erkenntnisse zu
erarbeiten. Diese können als methodischer Grundstock einer weiterführenden
Analyse aufgefasst werden. Wobei diese Analyse nicht im Rahmen der Arbeit
stattfindet, sondern als potenzielle Fortsetzung des erarbeiteten impliziert wird.
Insofern geht es hier darum, einen Einblick in die wichtigsten Begriffe der
Systemtheorie und ihre Methode zu bekommen. Die abschließende Betrachtung
wird einen Fingerzeig darauf geben, wo mögliche Anknüpfungspunkte an die
Systemtheorie liegen.
Die Erarbeitung der Theorie gliedert sich in drei Teile. Als Erstes soll mittels des
Heranführens an die Systemdefinition und deren wissenschaftliche
Fortentwicklung sukzessive ein Verständnis für die Systemtheorie erarbeitet
werden. Im Verlaufe dieses Diskurses wird sich herausstellen, dass der
Systembegriff allein nicht ausreicht, um zu verstehen, was Luhmann mit seinem
theoretischen Programm vorgestellt hat. Im zweiten Abschnitt werden in der Folge
die Frage nach der Bedeutung des Sinns und die Frage nach Luhmanns
Neuinterpretation von Kommunikation beantwortet. Das dritte und letzte Kapitel
wendet sich den beiden zuvor aufgeworfenen Begriffen Komplexität und Welt zu.
Den Abschluss bildet eine kurze Betrachtung zum Begriff Konflikt in der
Systemtheorie Luhmanns.
Nicolai Grossherr
Seminar: Konflikttheoretische Kontroversen in der Friedensforschung
Thema: Systemtheorie als konflikttheoretische Analysemethode?
2
2 Herleitung
Es stellt sich grundsätzlich die Frage, inwiefern sich der umfangreiche
Theorieapparat der luhmannschen Systemtheorie für den Zweck, der Erarbeitung
von konflikttheoretischen Grundlagen für die Friedensforschung, nutz- und
handhabbar machen lässt. Um dies überhaupt zu bewerkstelligen, soll zunächst
eine Einführung in den theoretischen Apparat erfolgen, diese wird
Basisbestandteile der Systemtheorie näher erläutern und in einen Zusammenhang
bringen. Diese Notwendigkeit besteht, um ein grundlegendes Verständnis
systemtheoretischer Basisvoraussetzungen zu erlangen. Daraufhin werden einzelne
Punkte herausgearbeitet, die auf die Möglichkeiten einer spezifischeren
Betrachtung hinweisen werden.
Ausgehend von der allgemeinen Systemtheorie erarbeitet Luhmann seine Theorie,
festzuhalten ist, dass die allgemeine Systemtheorie keineswegs ein auf die
Soziologie beschränkter Theoriestrang ist. Als Begründer einer interdisziplinären
allgemeinen Systemtheorie („General Systems Theory“) kann der Zoophysiologe
Ludwig van Bertalanffy gelten, er war dabei fest von der Interdisziplinarität seines
Ansatzes überzeugt. Wobei er weniger von inhaltlichen als vielmehr von
strukturellen, sich systemtheoretisch, d.h. sich wissenschaftstheoretisch
definierenden, Gemeinsamkeiten ausgeht. Darüber hinaus sind zwei weitere
Entwicklungsvoraussetzungen für Luhmanns Erarbeitung einer neuen Fassung
einer Systemtheorie – insbesondere, wenn auch nicht nur, für die Soziologie –
maßgeblich. Zum einen geht er mit seiner Neufassung in Opposition zu Parsons –
seinem Lehrer – der die strukturell-funktionale Systemtheorie erarbeitet und
vertreten hat. Zum anderen erweitert er seinen Theorieansatz insofern als er mittels
des von ihm – von Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela –
übernommenen Konzepts der Autopoiesis, d.h. Selbstorganisation, seine Theorie
Nicolai Grossherr
Seminar: Konflikttheoretische Kontroversen in der Friedensforschung
Thema: Systemtheorie als konflikttheoretische Analysemethode?
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erweitert. So bietet es sich an zunächst einmal die Systemdefinition bei Luhmann
und deren Ableitung zu etwas näher betrachten.
2.1 Systemdefinition
In einer ersten sehr allgemeinen Definition des Begriffs System lassen sich die
folgenden Bestandteile der als größtenteils akzeptiert voraussetzen, ein System ist:
die Ganzheit einer Menge von Elementen und deren Relationen zueinander; etwas
Zusammengesetztes im Vergleich zum Elementaren; eine Ganzheit im Sinne einer
Einheit, die mehr als die bloße Summe ihrer Teile ist. Bei diesen
Definitionsbestandteilen handelt es sich mehr oder weniger um die Übereinkunft
klassischer sowie moderner Grundbetrachtungen über Systeme – im Allgemeinen
wie im Speziellen –, was man unter einem System verstehen kann und soll, wird
durch diese Überlegungen auf eine – wenn auch kleine – gemeinsame Basis
gebracht. Diese grundlegende Definition entspricht mehr oder weniger in ihren
Bestandteilen den von Luhmann als Inhalt der ersten Phase der Entwicklung einer
allgemeinen Systemtheorie konstatierten Inhalten.1 „Die Phase ist durch das
Schema vom Ganzen und seinen Teilen charakterisiert.“2
„In der zweiten Phase tritt die Unterscheidung von System und Umwelt an (…)“3
diese Stelle. Diese Differenzierung zwischen System und Umwelt lässt sich wie
folgt erläutern. Einerseits wird festgestellt, dass Systeme immer eine Grenze
aufweisen, was andererseits zu Folge hat, dass es zu jedem System eine Umwelt
geben muss. Oder anders gesagt, zum einen gibt es das System, bestehend aus
seinen Elementen und Relationen und zum anderen die Umwelt, die alles was nicht
zum System gehört umfasst. „Luhmann spricht in Anschluß an (…) Thomas Kuhn
von einem Paradigmenwechsel, also einem Wandel des zugrundeliegenden
1 KNEER & NASSEHI (2000), S. 47 ; siehe auch LUHMANN (1984)
2 KNEER & NASSEHI (2000), S. 47, Hervorhebung im Original
3 KNEER & NASSEHI (2000), S. 47, Hervorhebung im Original
Nicolai Grossherr
Seminar: Konflikttheoretische Kontroversen in der Friedensforschung
Thema: Systemtheorie als konflikttheoretische Analysemethode?
4
Beobachtungsmusters in der Allgemeinen Systemtheorie.“4 Hinzuzufügen ist noch,
dass Luhmann in der frühen Entwicklung seiner Theorie sich auch diesem
Paradigma zuordnete und dass sich Parsons ebenfalls zu diesem zuordnen lässt.5
Das macht insofern Sinn als die nächste Phase, der nächste Paradigmenwechsel
erst erarbeitet werden musste und sich erst daraufhin für Luhmann die Möglichkeit
ergab, seine Theorie als unter einem anderen Paradigma stehend zu konzipieren.
„Die Systemtheorie geht von der Einheit der Differenz von System und
Umwelt aus. Die Umwelt ist konstitutives Moment dieser Differenz, ist
also für das System nicht weniger wichtig als das System selbst.“6
Anzumerken ist, dass die vorgenommene Differenzierung zwischen System und
Umwelt in der nächsten – unten näher erläuterten Phase – keineswegs aufgegeben
wird. Vielmehr bleibt die Vorstellung von der Einheit der Differenz von System
und Umwelt bestehen – beziehungsweise wird erweitert. So das sich sagen lässt,
dass diese zweite Phase, dieser zweite Schritt für Luhmann als notwendiger
Entwicklungsbestandteil seiner (neueren) Auffassung von Systemtheorie
angesehen wird.
Luhmann nimmt – wie vorab schon angemerkt wurde – eine weitere – seines
Erachtens – entscheidende Veränderung an der Konzeption seiner Theorie der
Systeme vor, die seiner Auffassung nach, einen weiteren Paradigmenwechsel
systemtheoretischer Theorien darstellt bzw. in Bezug auf sein Anliegen in den
Bereich der Soziologie einbringt. Dabei greift er insbesondere auf die durch die
beiden Biologen und Neurophysiologen Humberto R. Maturana und Francisco J.
Varela erarbeiteten Grundlagen zurück.7 Es erfolgt der Wechsel zum Paradigma der
Selbstorganisation – der Autopoiesis. Dabei handelt es sich um ein von Maturana
geprägtes Kunstwort – die Autopoiesis – dass Selbsterzeugung, Selbstherstellung
bedeutet.8 Auch wenn sich, nach Luhmann, damit das zugrunde liegende
4 KNEER & NASSEHI (2000), S. 47
5 KNEER & NASSEHI (2000), S. 47f.
6 LUHMANN (1984), S. 288; nach KNEER & NASSEHI (2000), S. 69
7 KNEER & NASSEHI (2000), S. 47
8 KNEER & NASSEHI (2000), S. 48
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Seminar: Konflikttheoretische Kontroversen in der Friedensforschung
Thema: Systemtheorie als konflikttheoretische Analysemethode?
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Beobachtungsmuster wandelt, heißt das gerade nicht, dass die Erkenntnisse
vorangegangener Phasen der Entwicklung ad Acta gelegt werden. Vielmehr bilden
diese – so wie sie hier vorgestellt wurden – die Basis, auf der die Autopoiesis als
Grundlage der Systemtheorie arbeitet – und entwickelt werden konnte. Luhmann
spricht demnach konsequenterweise in der Folge von autopoietischen Systemen,
wenn er den Systembegriff benutzt. Ein großer Teil seines weiteren
wissenschaftlichen Anliegens war es dann auch, die autopoietische Wende
schriftlich darzulegen und sie logisch schlüssig argumentativ vorzustellen.
Neben den vorab schon getroffenen Unterscheidungen müssen noch andere
Eigenschaften von Systemen näher betrachtet werden – insbesondere auch um die
die Autopoiesis, die Selbstorganisation besser verstehen zu können. Als Erstes
stellt sich die Frage nach der Organisationsform von Systemen. Hier gibt es die
Unterscheidung zwischen unorganisierter und organisierter Komplexität.
Unorganisierte Komplexität ist dabei die lineare Verkettung von
Einzelphänomenen. Wohingegen organisierte Komplexität sich nicht nach diesem
einfachen Modell darstellen lässt, insbesondere da sie sich durch Wechselseitigkeit
auszeichnet, d.h. es handelt sich hierbei um eine kausal-relationale Form der
Organisation. Es handelt sich hier um die Frage nach dem wie der Organisation,
also wie Systeme in ihrem Inneren organisiert sind. Weiterhin lässt sich festhalten,
dass die von Luhmann ins Auge gefassten Systeme, zumeist soziale Systeme, nach
der zweiten Form organisiert sind, also dem Typus der organisierten Komplexität
entsprechen – wie überhaupt alle als komplex zu bezeichnenden Systeme diesem
Organisationstypus entsprechen.
Eine weitere wichtige Unterscheidung ist die zwischen offenen und geschlossenen
Systemen. Dabei zeichnen sich geschlossene Systeme durch folgende
Eigenschaften aus: Sie sind binnenstabil und verändern sich nach dem Erreichen
eines Gleichgewichtszustandes nicht mehr; sie unterhalten keine
Austauschbeziehungen mit ihrer Umwelt; sie zeichnen sich durch unorganisierte
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Seminar: Konflikttheoretische Kontroversen in der Friedensforschung
Thema: Systemtheorie als konflikttheoretische Analysemethode?
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Komplexität aus, da sich die Systemelemente in mathematisch eindeutiger Weise
zueinander verhalten. Im Gegensatz dazu lassen sich offenen Systemen folgende
Charakteristika zuordnen: Sie sind gekennzeichnet durch Austauschprozesse
zwischen dem System und seiner Umwelt; zugleich haben offene Systeme die
Fähigkeit zur Veränderung der internen Relationen der Elemente zueinander; sie
sind demnach in der Lage sich intern zu reorganisieren, dies sowohl abhängig als
auch unabhängig von Umwelteinflüssen, es existiert allerdings keine lineare
Kausalität zwischen System und Umwelt; Anpassungs- und Veränderungsprozesse
sind stets interne Operationen eines Systems. Selbst organisierte, autopoietische
Systeme sind von ihrem Typ her offene Systeme; die meisten nicht selbst
organisierten Systeme sind geschlossene Systeme und werden im Rahmen
systemtheoretischer Überlegungen auch als allopoietische Systeme bezeichnet.9
Das Paradigma der Selbstorganisation bringt weiterhin zum Ausdruck, dass
Systeme nicht linear von ihrer Umwelt gesteuert werden, sondern je nur nach ihrer
inneren Eigenlogik auf Umweltbedingungen reagieren. Dabei werden für die
Theorie selbstorganisierender Systeme verstärkt kybernetische Denkmodelle
herangezogen. „Die Kybernetik beschreibt das Verhältnis von Kontrolleur und
Kontrolliertem“10, wobei der Kontrollierte auf den Kontrolleur zurückwirkt – die
klassische Kybernetik nennt dies einen Rückkopplungseffekt. „Neuere
kybernetische Arbeiten (‘second-order-cybernetics’) versuchen darüber hinaus zu
zeigen, dass man Kontrolleur und Kontrolliertes nicht eindeutig voneinander
unterscheiden kann“11, es besteht eine Wechselseitigkeit der Kontrolle, die nicht
mehr durch die klassische Kausalitätslehre dargestellt werden kann12. „Sich selbst
organisierende Prozesse stellen ihre jeweiligen Anfangsbedingungen durch ihren
Prozess selbst her“13, es wird in diesem Zusammenhang auch von rekursiven
Prozessen gesprochen. Am weitesten wurde die Vorstellung von der
Selbstorganisation – bisher – durch das Konzept der Autopoiesis vorangetrieben.
9 KNEER & NASSEHI (2000), S. 48-50
10 KNEER & NASSEHI (2000), S. 23
11 KNEER & NASSEHI (2000), S. 23
12 Vgl. KNEER & NASSEHI (2000), S. 24
13 KNEER & NASSEHI (2000), S. 24
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Seminar: Konflikttheoretische Kontroversen in der Friedensforschung
Thema: Systemtheorie als konflikttheoretische Analysemethode?
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Insofern lässt sich festhalten, dass Luhmann – die von ihm in der Hauptsache
betrachteten – Systeme als selbst organisierte offene Systeme mit organisierter
Komplexität konzipiert. Hierbei gilt immer, dass eine Differenz zwischen System
und Umwelt besteht, oder anders gesagt, es gibt kein System ohne Umwelt.
Aufgrund ihrer Selbstreferenzialität, die die Systeme auf den ersten Blick
geschlossen erscheinen lässt, wird die Offenheit der Systeme gewährleistet. „Die
Geschlossenheit der autopoietischen Organisation ist die Voraussetzung für ihre
Offenheit. Geschlossenheit und Offenheit gehören somit notwendig zusammen“14,
in Rückbezug auf die Begriffe Autonomie und Autarkie lässt sich das wie folgt
formulieren, „autopoietische Systeme sind autonom, aber nicht autark.“15
Grundsätzlich gilt Luhmanns (Haupt)Interesse – nicht vollkommen überraschend
für einen Soziologen – sozialen Systemen. Allerdings muss Luhmanns Auffassung
darüber was die Systeme soziale macht als unüblich, gewöhnungsbedürftig – oder
für manchen Kritiker gar, unakzeptabel – erachtet werden.
Zu betonen ist aber, dass gerade das, also eine vollkommen veränderte
Herangehensweise, aufgrund einer neuen theoretischen Grundlage, als das Ziel
Luhmanns angesehen werden muss – zumal er der Überzeugung war, dass damit
ein wesentlicher Entwicklungsschritt in den Wissenschaften
sozialwissenschaftlicher Prägung einhergeht. Allgemein gesehen basiert die
luhmannsche Systemtheorie auf dem Ansatz zu einem radikalen
Konstruktivismus.16 Diesen Ansatz entwickelt er auf der Grundlage verschiedener
Voraussetzungen, insbesondere auch aus dem Bereich der Logik und
Phänomenologie17, allgemein der Philosophie. Zu nennen wären beispielsweise,
die mehrwertige Logik von Günther Gotthard18, Intention und Sinn in der
14 KNEER & NASSEHI (2000), S. 51
15 KNEER & NASSEHI (2000), S. 51
16 Vgl. KNEER & NASSEHI (2000), S. 55f.
17 Vgl. KNEER & NASSEHI (2000), S. 76, Fn. 17
18 Vgl. KNEER & NASSEHI (2000), S. 102, Fn. 32
Nicolai Grossherr
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Thema: Systemtheorie als konflikttheoretische Analysemethode?
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Phänomenologie von Edmund Husserl19 sowie die Differenz-Logik nach George
Spencer Brown20, um nur einige wichtige Quellen anzuführen. Es ist in dieser
Arbeit nicht der Raum vorhanden hierzu tiefer gehender einzusteigen, es kann aber
festgehalten werden, dass die durch Luhmann vorgenommen Interpretationen im
Rahmen der Erarbeitung seines Theoriegebäudes nicht unumstritten sind. Zugleich
kann allerdings auch festgehalten werden, dass sie – wenn man keine prinzipiellen
Einwände hat – in sich, d.h. im Rahmen der Interpretationskette, schlüssig sind und
somit eine Theorie vorliegt die, wenn man ihre Grundannahmen akzeptiert, einen
geradezu allumfassenden, universalistischen Erklärungsanspruch bietet, so wie es
ihr Anspruch ist.21
„In diesem Sinne orientieren wir die allgemeine Theorie sozialer
Systeme an einer allgemeinen Systemtheorie und begründen damit die
Verwendung des Begriffs »System«. Für die Theorie sozialer Systeme
werden ihrerseits, und deshalb sprechen wir von »allgemein«
Universalitätsansprüche erhoben.“22
Auch hinsichtlich des (speziellen) Systemtyps soziales System nimmt Luhmann
eine weiterführende Differenzierung vor. So lassen sich nach Luhmann „drei
besondere Typen von sozialen Systemen unterscheiden, nämlich
Interaktionssysteme,
Organisationssysteme
und
Gesellschaftssysteme.
Interaktionssysteme kommen dadurch zustande, daß Anwesende handeln.“23
Organisationssysteme hingegen sind dadurch gekennzeichnet, dass die
Mitgliedschaften an bzw. in ihnen an bestimmte Bedingungen geknüpft sind.24
Gesellschaftssysteme wiederum umfassen sowohl Interaktions- als auch
Organisationssysteme, d.h. allerdings nicht, dass sich aus dieser Zusammensetzung
ihre Funktion ableiten lässt, „die Gesellschaft ist mehr als die Summe ihrer
Interaktions- und Organisationssystem“25, da das Gesellschaftssystem originäre
19 Vgl. KNEER & NASSEHI (2000), S. 60, Fn. 11 sowie KNEER & NASSEHI (2000), S.63
20 Vgl. KNEER & NASSEHI (2000), S. 96f.
21 KNEER & NASSEHI (2000), S. 8 und S. 44ff.
22 LUHMANN (1984), S. 33
23 KNEER & NASSEHI (2000), S. 42, Hervorhebung im Original
24 KNEER & NASSEHI (2000), S. 42-43
25 KNEER & NASSEHI (2000), S. 43
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Seminar: Konflikttheoretische Kontroversen in der Friedensforschung
Thema: Systemtheorie als konflikttheoretische Analysemethode?
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Bestandteile aufweist.26 „Die Gesellschaft ist somit das umfassendste System und
zugleich ein besonderer Systemtyp, neben dem es andere Systemtypen
(Interaktionen und Organisationen) gibt.“27 Oder in Luhmanns Worten: „Wir
müssen mithin drei verschiedene Ebenen der Analyse von Gesellschaft
unterscheiden: (1) die allgemeine Systemtheorie und in ihr die allgemeine Theorie
autopoietischer Systeme; (2) die Theorie sozialer Systeme; (3) die Theorie des
Gesellschaftssystems als eines Sonderfalls sozialer Systeme.“28
Es ist deutlich geworden, dass – ausgehend von einer ersten einfachen gefassten
Definition/Phase – sich der Begriff System allgemein entwickelt und sich an sich
als wissenschaftlicher Begriff, gar als eigenes wissenschaftliches Paradigma,
verfestigt hat. Die Beschreibung komplexer Sachverhalte als System ist somit –
über die Zeit – Bestandteil verschiedenster Wissenschaften geworden und ist auch
aus den Gesellschafts- bzw. Sozialwissenschaften nicht mehr wegzudenken.
Hierbei ist es insbesondere Luhmann zu verdanken, dass er die Systemtheorie um
ihre neueren Entwicklungen erweitert und für die Soziologie verfügbar gemacht
hat. Es kann als sein Verdienst gelten das Paradigma der
Selbstorganisation/Autopoiesis für seinen Bereich hoffähig gemacht und sich mit
diesem Schritt von seinen Vorgängern – insbesondere Parsons – emanzipiert zu
haben. Wesentlicher Schritt dieses Vorgangs war und ist es, dass hierbei die
Funktionalität in den Fokus der Betrachtung gebracht wurde – speziell im
Gegensatz zu Parsons, dessen wesentliche Aufmerksamkeit der Struktur galt. Die
funktional-strukturelle Systemtheorie bzw. Analyse kann als das
Forschungsinteresse Luhmanns angesehen werden.
Einhergeht damit auch eine prinzipielle Umkehr der Betrachtung, die sich mit dem
Begriff Äquivalenzfunktionalismus einfangen lässt – im Gegensatz zum
Kausalfunktionalismus etwa bei Parsons, wobei dies hier bedeutet, dass Kausalität
26 KNEER & NASSEHI (2000), S. 43f.
27 KNEER & NASSEHI (2000), S. 43
28 LUHMANN (1997), S. 79
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Thema: Systemtheorie als konflikttheoretische Analysemethode?
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darin besteht, dass Systeme bestimmte Funktionen haben müssen, um ihre Struktur
aufrecht zu erhalten. Die Vorstellung von äquivalenten Funktionen hingegen
bezieht sich darauf, dass Systeme bestimmte Funktionen erfüllen, ihre strukturellen
Begebenheiten aber nur insofern eine Rolle spielen, als sie notwendig sind, um der
Funktionserfüllung zu dienen. Streng genommen ist es demnach gleichgültig, wie
Systeme ihre Funktion gewährleisten, die Hauptsache ist, dass ihnen dies auch
weiterhin möglich ist.
Systeme dieser Art sind autopoietische Systeme, wobei Autopoiesis sowohl
Selbstorganisation als auch Selbsterzeugung, Selbstherstellung bedeutet. Die
Autopoiesis läuft dabei innerhalb der klaren Grenze des Systems ab – System-
Umwelt-Differenz/Paradigma. Womit autopoietische Systeme in sich geschlossen
sind, aber zugleich durch Austausch mit der Umwelt offen. Entscheidend ist, dass
dieser Austausch keineswegs kausal ist, vielmehr werden die
Umweltanforderungen im System selbst prozessiert. Dies kann nicht nach dem
Modell einer linearen Kausalität geschehen, sondern wird in kausal-relationalen
Organisationszusammenhängen verarbeitet.
Diese Annahmen gelten allgemein, aber eben auch speziell für den Typ des
sozialen Systems. Wobei Luhmanns Anspruch durchaus darin bestand eine
allgemeine Theorie sozialer Systeme mit universalistischer Tragweite zu
erarbeiten. Hierbei sei kurz noch mal auf die Differenzierung sozialer Systeme
verwiesen – in Interaktions-, Organisations- und Gesellschaftssysteme. Gerade da
diese sicherlich auch für die Frage einer konflikttheoretischen Betrachtung von
weiterführendem Interesse ist. Zunächst ist es allerdings notwendig weitere
Grundlagen zu erarbeiten.
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Seminar: Konflikttheoretische Kontroversen in der Friedensforschung
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2.2 Sinn, Kommunikation und Handlung
„Soziale Systeme wollen wir (…) definieren als Systeme sinnhafter
Kommunikation.“29 Zur weiteren Klärung ist es wiederum notwendig, einige
Begriffe der Systemtheorie näher zu betrachten, oder zumindest noch mal kurz zu
streifen. Hier sollen insbesondere zwei weiterführende Komplexe angesprochen
werden. Einerseits die Frage nach der Bedeutung des Sinns in der Systemtheorie
und andererseits Luhmanns Auffassung über Kommunikation und Handlung in der
Systemtheorie.
Luhmann gibt im Rahmen seiner Theorie einen eigenen Kommunikationsbegriff
vor, der hier in aller Kürze dargestellt werden soll. Als Voraussetzung ist
anzumerken, dass es sich bei allen sozialen Systemen um Kommunikation
generierende Systeme handelt. Dabei ist es Notwendigkeit, dass die Umwelt des
kommunizierenden Systems mindestens zwei psychische Systeme enthält, sonst ist
eine Genese von Kommunikation ausgeschlossen. Die Anwesenheit von
Menschen, oder zumindest menschlichem Bewusstsein, ist demnach eine
unüberbrückbare Voraussetzung für soziale Systeme. Es liegt dabei eine
strukturelle Koppelung/Interpenetration des sozialen Systems mit den beteiligten
psychischen Systemen vor,30 sodass Kommunikation ohne den Menschen nicht
möglich ist, allerdings, „der Mensch ist nicht das Subjekt, nicht der Urheber, nicht
die Ursache von Kommunikation. Allein die Kommunikation kommuniziert (…).“31
Darüber, also das Kommunikation und ihre Genese Systemen zugeordnet wird,
hinaus versteht Luhmann unter Kommunikation einen dreigliedrigen Akt der
Selektion,32 „wie hier vorgeschlagen, als Einheit aus Information, Mitteilung und
Verstehen.“33 Von Kommunikation kann nur gesprochen werden, wenn alle drei
Bestandteile vorkommen und im Verstehn zu ihrem Abschluss kommen, denn
„begreift man Kommunikation als Synthese dreier Selektionen (…), so ist die
29 MOREL ET AL. (2001), S. 221
30
31 KNEER & NASSEHI (2000), S. 90
32 LUHMANN (1984), S. 193ff.
33 LUHMANN (1984), S. 202
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Kommunikation realisiert, wenn und soweit das Verstehen zustandekommt.“34
Dieser dreigliedrige Selektionsprozess vollzieht sich im bzw. mittels des jeweiligen
sozialen Systems zwischen personalen (Bewusstseins-)Systemen. Handlungen
wiederum sind für Luhmann nur eine verkürzte – funktional gesehen durchaus
sinnvolle35 – Beschreibung kommunikativer Akte als Mitteilungshandlungen. Er
stellt weiterhin fest, dass etwa Weber und Parsons durch ihre auf Handlungen
aufbauenden Theorien – wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise – die
Verkürzung schon in ihre jeweiligen Theoriegebäude integriert haben.36
Festzuhalten ist:
„Kommunikationssysteme begreifen sich üblicherweise als
Handlungssysteme. Das besagt, daß die Kommunikation sich selbst als
Handlung, und zwar als Mitteilungshandlung auffaßt. (…) Dies
geschieht, indem die Kommunikation als Handlung einer Person
zugerechnet wird.“37
Insofern erkennt Luhmann den Begriff der Handlung an, er verweist allerdings
ausdrücklich darauf, dass mit diesem eine Vereinfachung vonstattengeht, die man
nicht aus den Augen verlieren darf. Da es sich bei Handlung nur um als Handlung
interpretierte – durch Kommunikation! – Kommunikation handelt.
„Geht man vom Sinnbegriff aus, ist als erstes klar, daß Kommunikation
immer selektives Geschehen ist. Sinn läßt keine andere Wahl als zu
wählen. Kommunikation greift aus dem je aktuellen
Verweisungshorizont, den sie selbst erst konstituiert, etwas heraus und
läßt anderes beiseite. Kommunikation ist Prozessieren von
Selektion.“38
Sinn ist einer der wesentlichen Begriffe für das tiefer gehende Verständnis der
Systemtheorie, es ist allerdings wichtig zu berücksichtigen, dass Sinn im Rahmen
der Systemtheorie nicht mit dem Sinn gemäß dem Alltagsverständnis zu
verwechseln ist.39 Was aber ist Sinn? Grundsätzlich sieht Luhmann alle sozialen –
34 LUHMANN (1984), S. 203
35
36 LUHMANN (1984), S. 191f.
37 KNEER & NASSEHI (2000), S. 88
38 LUHMANN (1984), S. 194
39 KNEER & NASSEHI (2000), S. 74f.
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sowie auch psychischen – Systeme als sinnverarbeitende Systeme an.40
„Konstitutiv für Sinn ist die Unterscheidung von Aktualität und Möglichkeit.“41
Sinn lässt sich demnach festmachen am derzeitigen Zustand und den möglichen
kommenden, zukünftigen Zuständen – in der Betrachtung der Entwicklung von
Sinn könnte zudem auch noch vergangener Sinn hinzugezogen werden.
Sinngeschehen stellt sich also als prozesshafter Vorgang dar und muss auch als
solcher angesehen werden.
„Und Sinn haben heißt eben: daß eine der anschließbaren
Möglichkeiten als Nachfolgeaktualität gewählt werden kann und
gewählt werden muß, sobald das jeweils Aktuelle verblaßt, ausdünnt,
seine Aktualität aus eigener Instabilität selbst aufgibt. Die Differenz
von Aktualität und Möglichkeit erlaubt mithin eine zeitlich versetzte
Handhabung und damit ein Prozessieren der jeweiligen Aktualität
entlang von Möglichkeitsanzeigen. Sinn ist somit die Einheit von
Aktualisierung und Virtualisierung, Re-Aktualisierung und Re-
Virtualisierung als ein sich selbst propellierender (durch Systeme
konditionierbarer Prozeß.“42
Sinn ist ein selektiver Prozess, denn es wird stets eine Wahl getroffen und zugleich
Potenziale auf den aktuellen Stand gebracht. Dabei werden Möglichkeiten des
Anschlusses eingeschränkt, ohne dass das den prinzipiellen Ausschluss von
Möglichkeiten zur Folge hat. „Sinn ist also eine Form des Umgangs mit
Komplexität. Und zwar ermöglicht Sinn zugleich Reduktion und Erhaltung von
Komplexität.“43
„Mit jedem Sinn, mit beliebigem Sinn wird unfaßbar hohe Komplexität
(Weltkomplexität) appräsentiert und für die Operationen psychischer
bzw. sozialer Systeme verfügbar gehalten. Sinn bewirkt dabei
einerseits: daß diese Operationen Komplexität nicht vernichten
können, sondern sie mit der Verwendung von Sinn fortlaufend
regenerieren. Der Vollzug der Operation führt nicht dazu, daß die Welt
schrumpft; man kann nur in der Welt lernen, sich als System mit einer
Auswahl aus möglichen Strukturen einzurichten. Andererseits
reformuliert jeder Sinn den in aller Komplexität implizierten
40 LUHMANN (1984), S. 92; MOREL ET AL. (2001), S. 225f.
41 KNEER & NASSEHI (2000), S. 75
42 LUHMANN (1984), S. 100
43 KNEER & NASSEHI (2000), S. 77; siehe zur Komplexität auch das folgende Kapitel
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Selektionszwang, und jeder bestimmte Sinn qualifiziert sich dadurch,
daß er bestimmte Anschlußmöglichkeiten nahelegt und andere
unwahrscheinlich oder schwierig oder weiterläufig macht oder
(vorläufig) ausschließt.“44
Es ist deutlich geworden, dass soziale Systeme nur als Prozesse sinnhafter
Kommunikation in Luhmanns Sinne verstanden werden können. Einerseits wurde
herausgearbeitet, dass Kommunikation als dreigliedrige Selektion von Information,
Mitteilung und Verstehen anzusehen ist. Von Kommunikation kann nur die Rede
sein, wenn alle drei Bestandteile erfüllt werden. Andererseits wurde deutlich, dass
Kommunikation, obwohl auf den Menschen angewiesen nicht von diesen, sondern
von Systemen produziert wird. Hierbei werden Menschen als systemtheoretischer
Bestandteil als Personen, genauer als personal-psychische Systeme, definiert,
insofern als sie demnach nur mit einem Teil ihres komplexen Ganzen an
spezifischen (Kommunikations-)Systemen teilhaben. In einer weiteren Ausführung
wurde deutlich, dass Kommunikation häufig – wie aufgezeigt wurde, verkürzt – als
Handlung interpretiert wird, nicht zu Letzt, da dies die Sinn Zuschreibung
vereinfacht. Kommunikation generierende Systeme sind soziale Systeme und
soziale Systeme sind zugleich Sinn prozessierende Systeme, folglich wird Sinn in
sozialen Systemen kommunikativ prozessiert. Die im Prozess ablaufende
Verarbeitung von Sinn gewährleistet die autopoietische Entwicklung der Systeme,
d.h. das sich selbst Weiterentwickeln von Funktionssystemen. In der Form, dass
aktueller Sinn immer zugleich nach Nachfolgesinn Ausschau hält, da die
Sinnhaftigkeit des Systems nicht unterbrochen bzw. abgebrochen werden kann und
darf – zumindest nicht ohne den Bestand des Systems zu gefährden. Mit der
Erarbeitung eines Verständnisses der Begriffe Sinn und Kommunikation sind wir
dem Verstehen davon, was Funktionssysteme sind oder besser gesagt wie diese
verstanden werden müssen einen Schritt näher gekommen. Abschließend leitet die
Betrachtung des Sinns auf weitere theoretische Grundlagen der Systemtheorie
über, und zwar indem in diesem Zusammenhang die Begriffe Welt und
44 LUHMANN (1984), S. 94
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Komplexität aufgeworfen wurden.
2.3 Die Komplexität der Welt
„Die Welt ist weder System noch Umwelt, sie umgreift vielmehr alle Systeme und
die dazu gehörenden Umwelten, sie ist also die Einheit von System und Umwelt.“45
Für Luhmann wird der Begriff Welt zum äußersten Bezugsrahmen seiner Theorie.
Dabei wählt er Welt, da davon auszugehen ist, dass dieser globale Maßstab alle
potenziell an den spezifischen sozialen Funktionssystemen beteiligten psychisch-
personalen Systeme einschließt. Davon, also von einer physisch verstanden
Interpretation, abgesehen kann und muss Welt ohnehin als Metapher verstanden
werden. Nämlich, als Metapher für alle sinnverarbeitenden – diese sind wie oben
dargestellt wurde sowohl psychische als auch soziale – Systeme und deren
Interdependenzen zueinander. „Zugleich ist die Welt aber auch mehr als die bloße
Summe aller Möglichkeiten, sinnhafte Verweisungen nachzuvollziehen. Sie ist nicht
nur die Summe, sie ist die Einheit dieser Möglichkeiten.“46 Es wird somit nochmals
deutlich, dass die größtmögliche Einheit funktionalistischer Betrachtung die Welt
ist. „(…) In der Erfassung und Reduktion von (Welt)Komplexität, sieht er
[Luhmann, N.G.] die allgemeinste und jeder Struktur vorgeordnete Funktion, die
durch die Bildung systemischer (…) Strukturen erfüllt wird (…).“47 Allgemein lässt
sich demnach festhalten, dass Systeme durch ihre strukturelle und funktionale
Ordnung die Gesamtheit der Komplexität handhabbarer machen. „Sie übernehmen
die Aufgabe der Reduktion von Komplexität.“48 Dabei wird das Äußerste an
Komplexität durch den Begriff Weltkomplexität bezeichnet, da die Grenzen von
Komplexität auf den größtmöglichen Bezugsrahmen rückbezogen werden müssen.
In Anbetracht der Tatsache, dass Menschen nicht in der Lage sind, diesen äußeren
Rahmen zu verarbeiten sind sie auf Systeme, die die Reduktion der Komplexität
vorgeben, angewiesen, um überhaupt mit den Bedingungen der Welt umgehen zu
45 KNEER & NASSEHI (2000), S. 40
46 LUHMANN (1984), S. 106
47 SCHNEIDER (2005), S. 272
48 KNEER & NASSEHI (2000), S. 40
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können. Diese Vermittlungsrolle übernehmen die sozialen Systeme – eines ihrer
Merkmale ist es ja, dass sie auf eine Mehrheit, also mindestens zwei, personal-
psychische Systeme angewiesen sind, unter Einbeziehung der strukturellen
Koppelung der psychischen Systeme mit dem sozialen System – für den
Menschen.49
Dieser Abschnitt macht noch einmal – in aller Kürze – deutlich, worum es bei der
funktionalistischen Betrachtung und Analyse geht. Zuvorderst das Ziel die
Komplexität der Welt versteh- und handhabbar zu machen. Dies geht einher mit
der Erkenntnis, dass Systeme an sich zu Sphären reduzierter Komplexität führen.
Der maximale Rahmen, die Bezugsgröße, von Funktionssystemen wird durch den
Begriff Welt repräsentiert. Luhmann sieht ein weltumspannendes Funktionssystem
beispielsweise beim System Wirtschaft als gegeben an. Entscheidend ist, dass
selbst Funktionssysteme im Weltmaßstab eine Umwelt haben – so benötigt die
Wirtschaft einerseits personale Systeme um überhaupt ein soziales System zu sein
und andererseits befinden sich die übrigen Funktionssysteme in ihrer Umwelt.
Weltkomplexität wiederum kennt keine Umwelt und kann demnach auch kein
System sein, es handelt sich dabei vielmehr um eine Denkfigur. Eben jene
Denkfigur, an der sich die vorgestellte Theorie abarbeitet.
3 Schlussbetrachtung
Mit dem bisher erarbeiteten Wissen ist der Grundstein für eine tiefer gehende
Betrachtung und Analyse mithilfe der Systemtheorie gelegt. Bei dem hier
folgenden handelt es sich um Gedanken zur möglichen Anwendung der
funktionalistischen Analyse in Hinblick auf eine konflikttheoretische Perspektive,
insbesondere, welche Rolle spielt der Konflikt in der Theorie Luhmanns.
Ganz allgemein kann die Frage gestellt werden, ob Luhmanns Theorie überhaupt
49 KNEER & NASSEHI (2000), S. 40f.
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als konflikttheoretisch anzusehen ist? Thorsten Bonacker kommt in seinem Text50
eindeutig zu diesem Ergebnis, wohingegen im Rahmen des Theorievergleichs von
Bourdieu und Luhmann51 gerade die Tatsache, dass sich Luhmann nicht explizit
mit sozialen Konflikten beschäftigt als interessant herausgestellt wird. Allerdings
unterscheidet die zweite genannte Quelle, insofern als sie einerseits von
differenzierungstheoretischen Theorien spricht und andererseits soziale Konflikte
als spezielle Form der Differenzierung hervorhebt. Das macht einerseits Sinn ist
aber andererseits für die hier zu Beantwortetende Frage nicht von großer
Bedeutung, insofern will ich die Frage, ob die luhmannsche Systemtheorie
konflikttheoretisch ist offen lassen, oder mich damit begnügen, dass sie zumindest
differenzierungstheoretisch ist.
Eine andere Frage ist, was hat Luhmann selbst im Rahmen seiner Theorie zum
Konflikt als sozialen Phänomen zu sagen? „Von Konflikten wollen wir immer dann
sprechen, wenn einer Kommunikation widersprochen wird. Man könnte auch
formulieren: wenn ein Widerspruch kommuniziert wird. (…) Ein Konflikt liegt also
nur dann vor, wenn Erwartungen kommuniziert werden und das Nichtakzeptieren
der Kommunikation rückkommuniziert wird.“52 Allein die Feststellung, dass es sich
beim Konflikt um ein soziales Phänomen handelt, muss nach den in dieser Arbeit
herausgearbeiteten Erkenntnissen Hinweis genug sein, um festzustellen, dass
Konflikt nur in und als Kommunikation sein kann, so wie es obiges Zitat noch mal
bestätigt. Weiterhin stellt Luhmann demzufolge fest, „es ist demnach prinzipiell
verfehlt, Konflikte auf ein Versagen von Kommunikation zurückzuführen (…)“53,
vielmehr sind Konflikte – im Sinne der Systemtheorie – Kommunikation und
darüber hinaus ein „soziales System besonderer Art“54. Dabei können Konflikte
innerhalb jedes Typs des sozialen Systems auftreten, also sowohl in Interaktions-,
Organisations- als auch in Gesellschaftssystemen. „Bei all dem geht es nicht
einfach darum, daß die Interaktion für kleine, die Gesellschaft für große Konflikte
50 BONACKER (2006)
51 NASSEHI & NOLLMANN (2004); KNEER (2004)
52 LUHMANN (1984) S. 530
53 LUHMANN (1984) S. 530
54 LUHMANN (1984) S. 531
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zuständig ist. (…) Die strukturelle Selektion bedeutsamer Konflikte wird durch die
Differenz von Interaktionssystem und Gesellschaftssystem bewirkt (…).“55
Hierdurch wird deutlich, dass eine systemtheoretische Konfliktanalyse auf
Gesellschaftsebene – wobei Gesellschaft der Dreiklang von Gesellschafts-,
Organisationssystemen und Interaktionssystemen ist – sich dadurch auszeichnen
muss, dass sie die verschiedenen Ebenen, d.h. Systemtypen, sozialer Systeme
berücksichtigt und in einen Zusammenhang bringt. Bezüglich der Rolle des
Konflikts in der Evolution von Gesellschaften lassen sich einige weiterführende
Überlegungen bei Luhmann finden56, die hier allerdings nicht weiter ausgeführt
werden können. Allgemein kann festgestellt werden, dass Luhmann die Bedeutung
des Konflikts durchaus sieht, natürlich handelt es sich dabei um die
systemtheoretisch gewendete Interpretation von Konflikten. Dies gilt für alle
Funktionssysteme, aber eben auch, wie das folgende Zitat verdeutlicht, für den
Bereich der Politik: „Die Ausdifferenzierung eines politischen Systems kann nur
gelingen, wenn innerhalb dieses Systems Konflikte zugelassen werden.“57
55 LUHMANN (1984) S. 535-536
56 LUHMANN (1997), S. 456-472
57 LUHMANN (2002), S. 94
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Literaturverzeichnis
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makrosoziologischen Erklärung neuerer Ergebnisse der empirischen
Kriegsforschung. In: A. Geis (Hrg.), Den Krieg überdenken. Kriegsbegriffe und
Kriegstheorien in der Kontroverse. Nomos. S. 75-94.
Kneer, G. (2004). Differenzierung bei Luhmann und Bourdieu. Ein
Theorievergleich. In: A. Nassehi & G. Nollmann (Hrg.): Bourdieu und Luhmann.
Ein Theorievergleich. Suhrkamp. S. 25-56.
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UTB.
LUHMANN, N. (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie.
Suhrkamp.
LUHMANN, N. (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Suhrkamp.
LUHMANN, N. (2002): Die Politik der Gesellschaft. Suhrkamp.
MOREL, J., BAUER, E., MELEGHY, T., NIEDENZU, H., PREGLAU, M. &
STAUBMANN, H. (2001): Soziologische Theorie. Abriß der Ansätze ihrer
Hauptvertreter. Oldenbourg.
SCHNEIDER, W. L. (2005): Grundlagen der soziologischen Theorie. Band 2:
Garfinkel - RC – Habermas - Luhmann. VS Verlag.
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