Mündliche Soziologie Diplomprüfung
Luhmann - Systemtheorie - Radikaler Kontruktivismus
Verfasser: Nicolai Großherr
Stand: 29. November 2010
Inhaltsverzeichnis
1
System als Ansatz der Wissenschaft
1
1.1
“klassische” Systemtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
1.2
moderne Systemtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2
1.2.1
Grundlegende Begriffe moderner Systemtheorie
. . . . . . . .
2
1.2.1.1
System-Umwelt-Differenz
. . . . . . . . . . . . . . .
2
1.2.1.2
Organisierte und unorganisierte Komplexität . . . . .
2
1.2.1.3
Offenen und geschlossenen Systemen . . . . . . . . .
3
1.2.1.4
Paradigma der Selbstorganisation . . . . . . . . . . .
3
1.2.2
Entwicklungsschritte/-phasen der Systemtheorie . . . . . . . .
4
1.3
Theorie sozialer Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5
2
Begriffe funktional-struktureller Systemtheorie
6
2.1
Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6
2.2
Komplexität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6
2.3
Autpoiesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
3
Funktional-strukturelle Theorie sozialer Systeme
8
3.1
Übertragung der Autopoiesis auf psychische Systeme
. . . . . . . . .
9
3.2
Strukturelle Kopplung und emergente Ordnungsebene . . . . . . . . .
9
3.3
Soziale Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
3.3.1
Die Autopoiesis sozialer Systeme
. . . . . . . . . . . . . . . .
11
3.3.2
Soziale Systeme als emergente Ordnungsebene . . . . . . . . .
12
3.4
Mensch und Person, Kommunikation und Handlung . . . . . . . . . .
13
3.4.1
Mensch
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
3.4.2
Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
3.4.3
Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
14
3.4.4
Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
3.5
Sinn in der Theorie autopoietischer Systeme . . . . . . . . . . . . . .
16
3.6
Inklusion und Individuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
18
3.6.1
Inklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
18
3.6.2
Individuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
4
Funktional differenzierte Gesellschaft
21
4.1
Drei Typen sozialer Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
4.2
Differenzierung von Systemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
4.2.1
Systemdifferenzierung
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
4.2.2
Primäre Differenzierung
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
22
4.2.3
Gesellschaftliche Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
4.2.3.1
Segementäre Differenzierung . . . . . . . . . . . . . .
23
4.2.3.2
Stratifikatorische Differenzierung . . . . . . . . . . .
24
4.2.3.3
Funktionale Differenzierung . . . . . . . . . . . . . .
25
4.2.4
Einheit und Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
4.2.4.1
Einheit der Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
4.2.4.2
Beobachtung und Paradoxie . . . . . . . . . . . . . .
30
4.2.5
Soziale Ordnung
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
32
4.2.5.1
Struktur und Semantik . . . . . . . . . . . . . . . . .
32
4.2.5.2
Gesellschaftliche Ordnung . . . . . . . . . . . . . . .
33
1 System als Ansatz der Wissenschaft
1 System als Ansatz der Wissenschaft
1.1 “klassische” Systemtheorie
Kernbegriff jeder Systemtheorie ist der Begriff des Systems
Obwohl der Begriff System auch in der Philosophie gefunden werden kann
können diese Ausführungen nicht als Ursprung der Systemtheorie angesehen
werden. Die Systemtheorie ist vielmehr eine realtiv späte – 30er Jahre 20. Jhd.
– Entwicklung der Wissenschaftsentwicklung. Speziell die biologische Kritik an
der Physik kann als Motor dieser Entwicklung angesehen werden.
Die klassichen und die modernen grundlegenden Überlegungen weisen allerdings
Gemeinsamkeiten in ihrer Auffassung zum Begriff System auf, aus diesen
allgemeinen Überlegungen lässt sich eine erste vorläufige Definition ableiten.
Erste Annäherung an den Begriff System
Definition:
(a) Ganzheit einer Menge von Elementen und deren
Relationen zueinander;
(b) Etwas Zusammengesetztes im Vergleich bzw. Ge-
gensatz zum Elementaren;
(c)
Eine Ganzheit im Sinne einer Einheit, die mehr als
bloße Summe ihrer Teile ist;
1
1 System als Ansatz der Wissenschaft
1.2 moderne Systemtheorie
1.2.1 Grundlegende Begriffe moderner Systemtheorie
1.2.1.1 System-Umwelt-Differenz
System-Umwelt-Differenz
Einerseits gibt es das System, bestehend aus seinen
Elementen und Relationen, und andererseits die Umwelt,
die alles was nicht zum System gehört umfasst.
⇒ bei der System-Umwelt-Differenz handelt es sich um eine Bezeichnung für
die Feststellung, dass Systeme immer eine Grenze aufweisen, dies führt als
Konsequenz zu der Erkenntnis, dass es zu jedem System eine Umwelt geben
muss
1.2.1.2 Organisierte und unorganisierte Komplexität
Unorganisierte Komplexität
ist die linear-kausale Verknüpfung von Einzelereignissen.
⇒ In dem Sinne, dass ein bestimmtes Ereignis auf Grund der Linearität der
Kausalität ein bestimmtes anderes Ereignis zu Folge hat.
Organisierte Komplexität
ist die relational-kausale Verknüpfung von Ereignissen.
⇒ Das Relationalität besteht heißt, dass, zwei Ereignisse angenommen, von einer
Wechselseitigkeit der Kausalität auszugehen ist - die Komplexität möglicher
wechselseitiger Relationen nimmt mit der Anzahl der verknüpften Ereignisse
zu.
2
1 System als Ansatz der Wissenschaft
1.2.1.3 Offenen und geschlossenen Systemen
1.2.1.3.1 Geschlossene Systeme
geschlossene Systeme unterhalten keine Austauschbezie-
hungen mit ihrer Umwelt
→ geschlossene Systeme sind binnenstabil und verändern sich nach dem Erreichen
eines Gleichgewichtszustandes nicht mehr
→ geschlossene Systeme zeichnen sich durch unorganisierte Komplexität aus, da
sich die Systemelemente in mathematisch eindeutiger - insofern linearer - Weise
zueinander verhalten
1.2.1.3.2 Offene Systeme
offene Systeme sind gekennzeichnet durch Austauschpro-
zesse zwischen dem System und seiner Umwelt
→ offene Systeme haben außerdem die Fähigkeit zur Veränderung der internen
Relationen der (Einzel-)Elemente
→ offene Systeme sind demnach in der Lage sich intern zu reorganisieren, die Re-
organisation kann sowohl abhängig als auch unabhängig von Umwelteinflüssen
erfolgen
→ offene Systeme weisen weder in der ihrer Beziehung zu ihrer Umwelt noch bei
der Reorganisation ihrer Elemente durch lineare Komplexität aus
→ Anpassungs- und Veränderungsprozesse - gleich ob intern oder extern angesto-
ßen - sind stets interne, also systemimmanente, Operation offener Systeme
→ Theorie offener Systeme werden im Allgemeinen unter das Paradigma der
Selbstorganisation subsumiert
1.2.1.4 Paradigma der Selbstorganisation
Das Paradigma der Selbstorganisation bringt zum Aus-
druck, dass Systeme nicht linear von ihrer Umwelt gesteu-
ert werden, sondern je nur nach ihrer inneren Eigenlogik
auf Umweltveränderungen reagieren
→ es werden für Theorien mit dem Paradigma der Selbstorganisation von Systemen
verstärkt kybernetische Denkmodelle herangezogen
3
1 System als Ansatz der Wissenschaft
– die Kybernetik beschreibt das Verhältnis von Kontrolleur und Kontrol-
liertem, wobei der Kontrollierte auf den Kontrolleur zurückwirkt, die
klassische Kybernetik nennt dies einen Rückkopplungeffekt
– neuere kybernetische Arbeiten (“second-order-cybernetics”) versuchen
darüber hinaus zu zeigen, dass man Kontrolleur und Kontrolliertes nicht
eindeutig voneinander unterscheiden kann, da eine Wechselseitigkeit der
Kontrolle besteht, die nicht mehr durch die klassische Kausalitätslehre
dargestellt werden kann
⇒ sich selbst organisierende Prozesse stellen ihre jewei-
ligen Anfangsbedingungen durch ihren Prozess selbst
her, es wird in diesem Zusammenhang auch von rekur-
siven Prozessen gesprochen
Am weitesten wird die Vorstellung von der Selbstorgani-
sation von Systemen durch das Konzept der Autopoiesis
vorangetrieben.
1.2.2 Entwicklungsschritte/-phasen der Systemtheorie
⇒ Laut Luhmann lassen sich drei Phasen in der Entwicklung der
allgemeinen Systemtheorie unterscheiden, dabei ist die:
−→ Die erste Phase durch das Schema vom Ganzen
und seinen Teilen gekennzeichnet;
−→ Die zweite Phase ersetzt dies durch die Unterschei-
dung zwischen System und Umwelt;
−→ Die dritte Phase leitet einen weiteren Paradigemen-
wechsel ein, und zwar hin zu einer Theorie autopoie-
tischer Systeme;
4
1 System als Ansatz der Wissenschaft
1.3 Theorie sozialer Systeme
→ systemtheoretisches Denken beginnt in der Soziologie dort, wo soziale Hand-
lungen als einzelne Elemente eines sozialen Zusammenhangs aufgefasst werden
→ Systemtheorie erklärt das Verhalten von Einzelnen aus dem jeweiligen System-
zusammenhang
Luhmanns Ziel ist die Ausarbeitung einer Theorie sozialer
Systeme, die den gesamten Gegenstandsbereich der Sozio-
logie abdecken soll. Er sieht den Ansatz dazu in seiner
funktional-strukturellen Systemtheorie gegeben.
Zwei wichtige Ansätze funktional-struktureller Systemtheorie sind:
1. Die funktional-strukturelle Systemtheorie geht nicht länger
davon aus, dass soziale Systeme stets über ein verbindliches,
kollektiv geteiltes Normen- und Wertemuster verfügen. Die
Umkehrung der Begriffe Funktion und Struktur, mit dem
Fokus auf der Funktion, ermöglicht es, wie Luhmann mit
seiner Theorie aufzuzeigen will, einen nicht-normativen Begriff
des Sozialen zu formulieren.
2. Die funktional-strukturelle Systemtheorie verwirft die
Annahme, dass soziale Systeme auf spezifische, nicht-
substituierbare Leistungen notwendig angewiesen sind. An
die Stelle der Frage nach den strukturerhaltenden Systemleis-
tungen tritt die Frage, welche Funktionen bestimmte System-
leistungen erfüllen und durch welche funktional-äquivalenten
Möglichkeiten diese ersetzt werden können. Dies kann als
Äquivalenzfunktionalismus - im Gegensatz zum Kausalfunk-
tionalismus bei Parsons - angesehen werden.
→ Luhmann entwickelt seine funtional-strukturelle Systemtheorie in Abgrenzung
zu Parsons strukturell-funktionaler Theorie
→ Luhmann spricht als logische Konsequenz der Umstellung in der Folge von der
funktional-strukturellen Systemtheorie
5
2 Begriffe funktional-struktureller Systemtheorie
2 Begriffe funktional-struktureller Systemtheorie
2.1 Welt
Die oberste Bezugseinheit der funktionalen Analyse ist die Welt.
Definition:
Die Welt ist weder System noch Umwelt, sie umgreift viel-
mehr alle Systeme und die dazugehörigen Umwelten.
→ Es ist demnach zu schlussfolgern, dass die Welt sich aus einer Vielzahl von
Systemen und somit deren Umwelten zusammensetzt. Dabei ist die Welt als
Bezugseinheit dieser Systeme anzusehen.
2.2 Komplexität
Zum oberstes Bezugsproblem wird die Komplexität der Welt.
⇒ der Begriff Weltkomplexität bezeichnet die äußerste Grenze von Komplexität
→ Im Umkehrschluss bedeutet das, es gibt Bereiche geringerer Komplexität die
unterhalb/innerhalb dieses Maximums an Komplexität angesiedelt sind.
→ Komplex ist die Welt nicht an sich, sondern nur aus der Perspektive von
Systemen, die die Welt komplexitätsreduzierend zu verarbeiten versuchen.
Komplexität ist somit ein Problem das sich Systemen stellt, die
versuchen sich und ihre Umwelt, also die Welt, zu erfassen.
→ Exakt an dieser Stelle treten soziale Systeme in Funktion, sie Übernehmen die
Aufgabe der Reduktion von Komplexität.
Reduktion der Komplexität meint Abbau oder Verringerung der
möglichen Zustände oder Ereignisse.
→ Systeme bilden „Inseln geringerer Komplexität“ in einer überkomplexen Welt
→ Die Grenze zwischen System und Umwelt, zwischen Innen und Außen, markiert
also zugleich ein Komplexitätsgefälle - die Umwelt ist stets komplexer als das
System.
6
2 Begriffe funktional-struktureller Systemtheorie
2.3 Autpoiesis
Die Autopoiesis ist das Schlüsselwort der Systemtheorie.
→ es handelt sich dabei um ein Kunstwort, das sich aus den griechischen Worten
autos (=selbst) und poiein (=machen) zusammensetzt
Grundlegende Erkenntisse zur Autopoiesis:
Autopoietische Systeme
→ sind oranisationsinvariante und zugleich strukturverändernde Systeme;
→ können als strukturdeterminierende Systeme charakterisiert werden;
→ lassen sich allgemein als geschlossene Systeme beschreiben;
→ beziehen sich aufgrund ihrer Geschlossenheit ausschließlich auf sich selbst;
→ operieren selbstbezüglich und/oder selbstreferenziell;
→ sind zugleich aber auch offene Systeme;
→ stehen im Austausch mit ihrer Umwelt;
Erste Interpretation der Erkenntisse:
1. Die Geschlossenheit der autopoietischen Organisation ist die Vorausset-
zung für ihre Offenheit. Geschlossenheit und Offenheit gehören somit
notwendig zusammen.
2. Unter Rückgriff auf die Begriffe Autonomie und Autarkie lässt sich das
wie folgt formulieren, autopoietische Systeme sind autonom, aber nicht
autark.
3. Darüber hinaus sind autopoietische Systeme zugleich strukturerhaltend
als auch strukturverändernd, d.h. die Struktur, die sie aufweisen, steht
unter dem ständigen der Veränderung der Struktur.
Somit sind autopoietische Systeme selbstreferenziell organisiert
und selbstreferenzielle Systeme operieren autopoietisch.
7
3 Funktional-strukturelle Theorie sozialer Systeme
3 Funktional-strukturelle Theorie sozialer Systeme
Luhmann knüpft bei der Entwicklung der Theorie sozialer Syste-
me unmittelbar an das Autopoiesis-Konzept an, indem er soziale
Systeme als selbstreferenzielle, autopoietische Systeme konzipiert.
→ Die Generalisierung der Autopoiesis, ermöglicht das Verwenden eines einheitli-
chen Autopoiesis-Begriffs zur Beschreibung unterschiedlicher Systemarten.
→ Die Generalisierung des Autopoiesis-Begriffs führt dazu, dass jedes System auf
seine je eigene Weise die Autopoiesis auf seine eigene Weise zustande bringt.
Luhmann konstatiert: „Als autopoietisch wollen wir Systeme bezeichnen, die die
Elemente, aus denen sie bestehen, durch die Elemente, aus denen sie bestehen,
selbst produzieren und reproduzieren. Alles was solche Systeme als Einheit ver-
wenden, ihre Elemente, ihre Prozesse, ihre Strukturen und sich selbst, wird durch
eben solche Einheiten in System erst bestimmt. Oder anders gesagt: es gibt weder
Input von Einheit in das System, noch Output von Einheit aus dem System. Das
heißt nicht, dass keine Beziehungen zur Umwelt bestehen, aber diese Beziehungen
liegen auf anderen Realitätsebenen als die Autopoiesis selbst“
→ Luhamnn vertritt die Auffassung, dass gerade der Begriff der Autopoiesis
dazu anregt, nach autonomen Formen der Produktion und Reproduktion der
Einheiten eines Systems zu suchen.
→ Luhmann spricht dabei häufig von basaler Selbstreferenzialität, der Zusatz
basal verweist darauf, dass es um die Herstellung der Systemelemente durch
die Systemelemente geht, in diesem Sinne meint Selbstreferenzialität nicht nur
Selbstbezüglichkeit, sondern Selbsterzeugung und -erhaltung.
=⇒ Die Übertragung erfolgt bei Luhmann auf psychische und soziale Systeme.
8
3 Funktional-strukturelle Theorie sozialer Systeme
3.1 Übertragung der Autopoiesis auf psychische Systeme
Bewusstseinssysteme operieren autpoietisch.
→ Psychische Systeme bringen demnach in einem rekursiven Prozess fortlaufend
ihre Komponenten aus ihren Komponenten hervor.
Die Elemente von psychischen Systemen sind Gedanken.
→ Gedanken und Vorstellungen sind Ereignisse, also Elemente oder Komponenten,
die im Moment ihres Auftauchens bereits wieder verschwinden.
→ Luhmann verwendet den Autopoiesis-Begriff im Sinne von Produktion. Selbs-
treferenzialität ist basal, es geht somit um die Erzeugung und Erhaltung des
Selbst. Folglich produziert das Bewusstseinssystem in einem rekursiven Prozess
Gedanken aus Gedanken.
→ Bewusstsein kann - wie jedes autopoietische System - nicht ohne Umwelt
und Umweltbeiträge existieren - „das Bewusstsein ist bei der Produktion von
Gedanken auf bestimmte Umweltbeiträge angewiesen, aber diese Umweltbeiträge
bleiben Beiträge, die in der Umwelt des Bewusstseins stattfinden“
3.2 Strukturelle Kopplung und emergente Ordnungsebene
→ Bewusstsein kann nicht ohne das Gehirn und seine Prozesse gedacht werden.
– Dennoch heißt das nicht, dass die Gedanken im Gehirn produziert werden.
– Die Produktion der Gedanken geschieht im psychischen System selbst.
→ Obwohl Bewusstsein Gehirntätigkeit voraussetzt, heißt das nicht, dass Gehirn-
ströme und Gedanken das Gleiche sind.
→ Bewusstsein und Gehirn operieren völlig überschneidungsfrei, sie verschmelzen
nicht, sind aber dennoch aufeinander angewiesen.
=⇒ Das Verhältnis zwischen Gehirn und Bewusstsein wird von Luhmann als struk-
turell gekoppelt, also über strukturelle Kopplung verbunden angesehen.
=⇒ Damit ist eine spezielle Verbindung zwischen zwei Systemen beschrieben.
Dieses spezielle Verhältnis von Systemen bezeichnet man
mit dem Begriff der strukturellen Kopplung (Inter-
penetration).
→ Luhmann beschreibt damit eine bestimmte Intersystembeziehung zwischen
autopoietischen Systemen.
9
3 Funktional-strukturelle Theorie sozialer Systeme
→ Struktureller Kopplung bezeichnet demnach ein bestimmtes Abhängigkeitsver-
hältnis zwischen autopoietischen Systemen.
Strukturell gekoppelte Systeme sind aufeinander angewie-
sen und bleiben zugleich füreinander Umwelt.
=⇒ Luhmann spricht davon, dass das Bewusstsein gegenüber dem Gehirn eine emer-
gente Ordnungsebene bildet - der Begriff Emergenz bezeichnet das Auftreten
eines neuen Ordnungsniveaus.
– Einerseits bedeutet das, dass das Gehirn notwendigerweise in der Umwelt
des Bewusstseins(-systems) vorhanden sein muss.
– Andererseits, lässt sich daraus schließen, dass das psychische System,
um seine Funktion zu erfüllen, auf die (Umwelt-)Beiträge des Gehirns
angewiesen ist.
Der Begriff emergente Ordnungsebene besagt:
Das System, das emergente Ordnungsebene ist, ist zum
einen auf die Präsenz eines bestimmten anderen Systems
in seiner Umwelt und zum anderen auf Beiträge dieses
bestimmten anderen Systems notwendig angewiesen ist.
10
3 Funktional-strukturelle Theorie sozialer Systeme
3.3 Soziale Systeme
3.3.1 Die Autopoiesis sozialer Systeme
Die Übertragung des Autopoiesis-Begriffs auf den Phäno-
menbereich des Sozialen hat zur Konsequenz, dass soziale
Gebilde als geschlossen operierende Einheiten beschrieben
werden, die sich mittels der rekursiven Produktion ihrer
Elemente selbst erzeugen und erhalten.
Definition:
Soziale Systeme sind autopoietische Systeme, die in einem
rekursiven Prozess fortlaufend Kommunikation an Kom-
munikation anschließen.
→ Das Soziale definiert sich demnach, nicht durch den Menschen, sondern durch
die Kommunikationen.
→ Menschen kommen allenfalls in der Umwelt sozialer Systeme vor.
=⇒ Kommunikation ist kein Ergebnis menschlichen Handelns, sondern ein Produkt
sozialer Systeme.
=⇒ „Der Mensch kann nicht kommunizieren; nur Kommunikation kann kommuni-
zerien“
Die Elemente sozialer Systeme, also ihre nicht weiter auf-
lösbaren Letzteinheiten, sind Kommunikationen.
Soziale Systeme sind Kommunikationsysteme, sie reprodu-
zieren sich dadurch, dass sie fortlaufend Kommunikation
an Kommunikation anschließen.
11
3 Funktional-strukturelle Theorie sozialer Systeme
3.3.2 Soziale Systeme als emergente Ordnungsebene
→ Jedes soziale Geschehen, jede Kommunikation ist auf bestimmte organische,
neuronale und psychische Zustände angewiesen.
Kommunikation setzt mindestens zwei Menschen und da-
mit eine Mehrheit von organischen, neuronalen und psychi-
schen Systemen voraus.
=⇒ Dabei spielt das Bewusstsein, also das psychische System, eine besondere Rolle.
Soziale und psychische Systeme sind strukturell gekoppelt.
→ Kommunikation und Bewusstsein sind jeweils selbstreferenziell-geschlossene
Systeme, in die keine Komponenten des je anderen Systems direkt eingehen
→ Kommunikation und Bewusstsein operieren somit vollständig getrennt, gleich-
zeitig stehen sie jedoch in einem besonderen Verhältnis zueinander
=⇒ Kommunikation kommuniziert und denkt nicht, das Bewusstsein denkt und
kommuniziert nicht.
Der Mensch verliert in der Theorie autopoietischer Systeme
seine privilegierte Position.
→ Das bedeutet jedoch nicht, dass der Mensch in der Systemtheorie als weniger
wichtig eingeschätzt wird.
→ Den ohne den Menschen sind soziale Systeme nicht möglich, da er mittels seines
psychischen Systems, seinem Bewusstsein, in der Umwelt der sozialen Systeme
als Voraussetzung gegeben sein muss.
Kommunikation ist eine emergente Ordnungsebene.
Soziale Systeme sind eine emergente Ordnungsebene.
→ Kommunikation ist folglich emergente Ordnungsebene im Verhältnis zu Be-
wusstsein.
→ Oder anders gesagt, soziale Systeme sind emergente Ordnungsebene in Bezug
auf Bewusstseinssysteme.
12
3 Funktional-strukturelle Theorie sozialer Systeme
3.4 Mensch und Person, Kommunikation und Handlung
3.4.1 Mensch
Der Mensch ist schlicht kein systemtheoretischer Begriff,
insofern als der Mensch an sich weder eindeutig System
noch Umwelt ist.
→ Der Mensch besteht aus mehreren, getrennt operierenden, Systemen - am
Menschen gibt es somit unterschiedliche Prozesse, aber es gibt keine diese
verschiedenartigen Systeme übergreifende, einschließende Einheit.
→ Den Menschen kann man in diesem Sinne als einen Zusammenschluss von
organischen, neuronalen und psychsischen Systemen verstehen.
=⇒ Diese verschiedenen Systeme werden im Menschen gebündelt, sie definieren
den Begriff Mensch, der Begriff Mensch dient wiederum als Indentifikation für
die Zusammengehörigkeit dieser Systeme.
Menschen sind keine Systeme, sondern Identifikationspunk-
te der Kommunikation.
→ Allgemein gilt: Das Menschen nicht als komplettes Subjekt in der Lage sind an
Kommunikation bzw. sozialen Systemen teilzunehmen.
Das der Mensch etwas mitteilt oder kommuniziert, ist einzig ei-
ne kommunikative Behauptung - und dient als kommunikative
Konvention zugleich der Autopoiesis der Kommunikation.
3.4.2 Person
=⇒ Luhmann benutzt meist den Begriff Person, dieser bedeutet in diesem Zusam-
menhang, dass nicht psychische, organische und neuronale Systeme, also der
Mensch, sondern eine kommunikationsinterne Einheit gemeint ist.
Der Begriff Person steht für den Adressaten von sozialen
Systemen und somit von Kommunikationen.
13
3 Funktional-strukturelle Theorie sozialer Systeme
→ Mit dem Begriff Person gewinnt Luhmann die Möglichkeit, die Einheitsvorstel-
lung vom Menschen als Ganzheit zu unterlaufen und seine Inanspruchnahme
durch Kommunikation zu beschreiben.
→ Die kommunikationsrelevante Einheit Person kann deshalb mehr oder weniger
mit dem Bewusstseinssystem - des jeweiligen an der spezifischen Kommunikati-
on beteiligten Menschen - gleichgesetzt werden.
→ Gesellschaftstheoretisch bedeutsam ist der Personenbegriff insofern, als die Ver-
teilung von Rollenerwartungen an konkrete Personen unmittelbarer Ausdruck
gesellschaftlicher Differenzierungsgrade und -formen ist.
– es macht durchaus einen Unterschied, ob ein Mensch in seinen unterschied-
lichen Verrichtungen stets die gleiche Person ist oder ob er in seiner Person
unterschiedliche Personen in sich vereinigt
→ Die Frage der Rolle verweist auf den Begriff der Inklusion, also die Teilnahme-
bedingungen an sozialer Kommunikation.
3.4.3 Kommunikation
Luhmann beschreibt Kommunikation als einen dreistel-
ligen Selektionsprozess, der Information, Mitteilung und
Verstehen miteinander kombiniert.
Die drei Bestandteile des Selektionsprozesses sind:
1. Information als eine Selektion aus einer Vielzahl möglicher
Informationen
2. Mitteilung kann nicht nur auf eine Weise vollzogen werden,
sodass auch hier zwischen verschiedenen Möglichkeiten gewählt
werden muss.
3. Verstehen wiederum setzt mitgeteilte Informationen voraus,
wobei auch hier nicht nur eine Möglichkeit wie verstanden
werden kann besteht.
⇒ Selektion bedeutet Auswahl aus mehreren Möglichkeiten;
Von Kommunikation kann letztlich erst bei einer Synthese
aller drei Selektionsleistungen gesprochen werden.
14
3 Funktional-strukturelle Theorie sozialer Systeme
→ „Jede Kommunikation differenziert und synthetisiert eigene Komponenten,
nämlich Information, Mitteilung und Verstehen.“
→ Von Kommunikation als einem emergenten Geschehen kann man immer dann
sprechen, wenn die drei Selektionspunkte Information, Mitteilung und Verstehen
zu einer Einheit synthetisiert werden.
3.4.4 Handlung
Kommunikationssysteme
begreifen
sich
üblicherweise
selbst als Handlungssysteme.
→ Dies geschieht, indem Kommunikation als Handlung einer Person zugerechnet
wird.
→ Der Vorgang der Reduktion von Kommunikation auf eine Mitteilungshandlung
einer Person geschieht kommunikativ, d.h. durch die Kommunikation selbst.
Die Beschreibung der Kommunikation als Mitteilungs-
handlung stellt dabei eine beträchtliche Vereinfachung dar.
→ diese Vereinfachung ist notwendig, da sich dadurch die Kommunikation es sich
selbst ermöglicht Identifikationspunkte auszubilden;
– als solche Anknüpfungspunkte dienen üblicherweise Mitteilungshandlun-
gen, die Personen zugerechnet werden;
– der Handlungsbegriff unterläuft somit die Ebene des Sozialen;
→ aus diesem Grund, also da es sich beim Fokus auf Handlungen um eine Verein-
fachung handelt, die eben nicht das Grundelement des Sozialen ausmacht, sind
Kommunikationen die elementaren Einheiten des sozialen Gebildes;
Handlungen sind nicht die Elemente sozialer Systeme, son-
dern Produkte von sozialen Beschreibungen.
15
3 Funktional-strukturelle Theorie sozialer Systeme
3.5 Sinn in der Theorie autopoietischer Systeme
Ein Grundbegriff autpoietischer Systeme ist der Sinn.
→ Dabei konzipiert Luhmann sowohl psychische als auch soziale Systeme als Sinn
konstitierende und verwendende Systeme.
→ Luhmann stellt fest, dass jedes Einzelereignis psychischer und sozialer Systeme
eine intentionale Struktur besitzt.
– Zu jedem Gedanken gehört ein bestimmter Gehalt, ein Gedankeninhalt.
– Ebenso wie zu jeder Kommunikation ein Gehalt gehört, ein Kommunika-
tionsinhalt.
→ Bewusstsein ist, anders formuliert, also immer Bewusstsein von etwas.
→ Jede Kommunkation besitzt eine intentionale Struktur, Kommunikation ist
immer Kommunikation über etwas.
=⇒ Das Momentane intendiert etwas, und zugleich verweist das Intendierte auf
weitere Möglichkeiten.
Konstitutiv für Sinne ist die Unterscheidung:
Aktualität und Möglichkeiten
Luhmann konstatiert: “Und Sinn haben heißt eben: dass eine der anschließbaren
Möglichkeiten als Nachfolgeaktualität gewählt werden kann und gewählt werden
muss, sobald das jeweils Aktuelle verblasst, ausdünnt, seine Aktualität aus eigener
Instabiltität selbst aufgibt. Die Differenz von Aktualität und Möglichkeit erlaubt
mithin eine zeitlich versetze Handhabung und damit ein Prozessieren der jeweili-
gen Aktualität entlang von Möglichkeitsanzeigen. Sinn ist somit die Einheit von
Aktualisierung und Virtualisierung, Re-Aktualisierung und Re-Virtualisierung als
ein sich selbst propellierender (durch Systeme konditionierbarer) Prozess.„
Sinn ist das ständige Neuarrangieren der Unterscheidung
von Aktualität und Möglichkeit, das fortlaufende Aktuali-
sieren von Möglichkeiten.
16
3 Funktional-strukturelle Theorie sozialer Systeme
Sinn ist eine Form des des Umgangs mit Komplexität.
=⇒ Sinn ist selektives Geschehen, stets muss eine Auswahl getroffen und eine
potenzielle Möglichkeit aktualisiert werden.
Sinn zwingt selbst zur Änderung.
Sinn bewirkt zwei Dinge:
→ dass die Operationen psychischer und sozialer Systeme Kom-
plexität nicht vernichten können, sondern sie mit der Verwen-
dung von Sinn fortlaufend generieren;
→ dass jeder Sinn den in aller Komplexität implizierten Selek-
tionszwang reformuliert, und jeder bestimmte Sinn qualifi-
ziert sich dadurch, dass er bestimmte Anschlussmöglichkeiten
nahelegt, und andere unwahrscheinlich oder schwierig oder
weitläufig macht oder (vorläufig) ausschließt;
Sinn verweist immer auf weiteren Sinn.
=⇒ Sinn verarbeitende Systeme können nicht aus dem Sinngeschehen ausbrechen.
→ Luhmann unterscheidet drei Sinndimensionen
1. Die Sachdimension qualifiziert, was in der Welt der Fall ist,
nämlich Dinge, Theorien, Meinungen usw..
2. Die Sozialdimension gibt vor, wer Dinge, Theorien, Mei-
nungen usw. thematisiert.
3. Die Zeitdimension gibt Auskunft darüber, wann etwas ge-
schieht.
17
3 Funktional-strukturelle Theorie sozialer Systeme
3.6 Inklusion und Individuum
3.6.1 Inklusion
Inklusion ist Teilhabe von Personen an Kommunikationen.
„Inklusion erreicht, wer kommunizieren kann, was man
kommunizieren kann. (. . .)“
→ was man kommunizieren kann, hängt von den jeweiligen Erwartungsstruktu-
ren sozialer Systeme ab, und wer es kommunizieren kann, verweist auf die
Zugangsbedingungen zu bestimmten sozialen Zusammenhängen;
Inklusionsbedingungen hängen unmittelbar von gesell-
schaftlichen Differenzierungsformen ab.
→ so unterscheidet sich die Art des Verständnisses von Inklusion explizit da-
durch, ob man von einer segmentären, stratifikatorischen oder funktionalen
Differenzierung der Gesellschaft ausgeht;
Mit dem Übergang zur funktional differenzierten Gesell-
schaft ändern sich die Inklusionsbedingungen radikal.
→ Personen können nun nicht mehr allein einem Teilsystem zugeordnet werden,
das in Form von multifunktionalen Einheiten Stabilität und Sicherheit spendet;
→ die moderne Gesellschaft verlangt von Personen die gleichzeitige Zugehörigkeit
zu verschiedenen Teilsystemen;
→ genau auf eine Mischexistenz aber „reduziert die funktionale Differenzierung die
persönliche Existenz. Sie kann Personen nicht mehr den Teilsystemen zuordnen
in dem Sinne, dass eine Person einem und nur einem Teilsystem angehört (…)“
In der funktional differenzierten Gesellschaft gilt: „Das
Prinzip der Inklusion aller in alle Funktionssysteme.“
→ Hinzuzufügen ist, dass dieses Prinzip nominell gilt, damit also noch keine
definitive Aussage darüber getroffen ist inwiefern die ‚Inklusion aller in alle
Funktionssysteme‘tatsächlich gegeben ist.
18
3 Funktional-strukturelle Theorie sozialer Systeme
→ „Das Prinzip der Inklusion ersetzt jene Solidarität, die darauf beruht, dass
man einer und nur einer Gruppe angehört. Die universelle Inklusion wird mit
Wertpostulaten wie Freiheit und Gleichheit idealisiert; sie ist in Wahrheit
natürlich keineswegs freigestellt oder gleich verteilt, aber sie ist durch die
Differenzierungsform der Gesellschaft nicht mehr vorreguliert.“
3.6.2 Individuum
Individuum schließlich meint zweierlei:
(1) Die ‚Individualität psychischer Systeme‘ , die sich aus
der Unteilbarkeit psychischer Operationen ergibt.
(2) Die ‚Individualität als spezifisch modernes Muster
individueller Selbstbeschreibung‘
→ Die Ich-Identität der Person wird zunehmend das Ereignis einer spezifischen
Eigenleistung des Individuums.
→ Damit wird in gewissem Sinne die Erkenntnis widergespiegelt, die wir oben
für gesellschaftliche Teilsysteme präsentiert haben: Der Wechsel der primären
Selbstreferenz zum Selbst. Auch personale und psychische Systeme, sagen wir
der Einfachheit halber: Personen, sind nun darauf angewiesen, ihre Identität
selbstreferenziell, d.h. wesentlich unter Rekurs auf die Reflexion über sich selbst
zu erlangen.
Die Grenzen funktionaler Teilsysteme werden in individu-
ellen Lebenslagen wieder gebündelt.
→ Laut Luhmann hat sich das Verständnis für Individualität und Individuum
semantisch parallel zur Gesellschaftsstruktur entwickelt.
→ Individualität darf also nicht ausschließlich als psychisches Phänomen ver-
standen werden, vielmehr erfordert die Differenziertheit und Komplexität der
Moderne, dass die Autopoiesis der Gesellschaft so auf Personen zugreift, dass sie
als Individuen beobachtet werden, obwohl die Gesellschaft in Gestalt funktiona-
ler Teilsysteme letztlich nur auf Teile jenes vermeintlich Unteilbaren zugreift.
→ Das moderne Individuum ist aufgrund des Fehlens von allgemeinen, identitäts-
verbürgenden Deutungssystemen, von traditionellen Lebensformen und von
sicheren Rollen- und Verhaltensstandards darauf angewiesen, sich selbst zum
Maß aller Dinge zu machen.
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3 Funktional-strukturelle Theorie sozialer Systeme
→ Hierbei wird sich das Individuum - sich selbst als Maßstab nehmend - zuneh-
mend - neben dem was es ist - darüber definieren, was es nicht ist.
Individualität wird also nicht mehr über Inklusion, sondern
über Exklusion bestimmt.
20
4 Funktional differenzierte Gesellschaft
4 Funktional differenzierte Gesellschaft
4.1 Drei Typen sozialer Systeme
Es lassen sich nach Luhmann drei Typen von sozia-
len Systemen unterscheiden, nämlich Interaktionssys-
teme, Organisationssysteme und Gesellschafts-
systeme.
Interaktionssysteme
kommen dadurch zustande, dass Anwesende, d.h. Personen, handeln.
Organisationssysteme
sind dadurch gekennzeichnet, dass die Mitgliedschaft an/in ihnen an be-
stimmte Bedingungen geknüpft ist.
Gesellschaftssysteme
umfassen sowohl Interaktions- als auch Organisationssysteme, d.h. allerdings
nicht das sich aus dieser Zusammensetzung ihre Funktion ableiten lässt,
die Gesellschaft ist mehr als die Summe ihrer Interaktions- und Organisati-
onssysteme. Das Gesellschaftssystem weist originäre Bestandteile auf, die
nicht durch die Zusammensetzung aus den beiden anderen Systemtypen,
also verschiedenen Subsystemen, erklärt werden können. Die Gesellschaft
ist somit das umfassendste System und zugleich ein besonderer Systemtyp,
neben dem es andere Systemtypen gibt.
4.2 Differenzierung von Systemen
→ Die systemtheoretische Gesellschaftstheorie befasst sich mit der Frage, wie eine
Gesellschaft mit ihrer Komplexität umgeht und wie sie sich intern in Sub- und
Teilsysteme differenziert.
→ Die entscheidende gesellschaftstheoretische Frage Luhmanns ist die nach der
Form der Differenzierung einer Gesellschaft und den daraus resultierenden
Komplexitätslagen.
4.2.1 Systemdifferenzierung
Systemdifferenzierung bezeichnet die Fähigkeit von
sozialen Systemen, Subsysteme zu bilden.
→ Sub- oder Teilsystembildung bezeichnet „nichts weiter als Wiederholung der
Systembildung in Systemen“.
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4 Funktional differenzierte Gesellschaft
→ Ein System teilt sich in Teilsysteme und bringt somit interne System-Umwelt-
Differenzen hervor.
→ Der Gegenstand der Gesellschaftstheorie besteht darin, die wechselseitigen Be-
obachtungsverhältnisse der gesellschaftlichen Teilsysteme und die Beziehungen
und Beziehungsmöglichkeiten der Teilsysteme untereinander zu untersuchen.
„Die Differenzierung des Gesellschaftssystems schafft für jedes
Teilsystem eine Dreifalt von Beziehungsmöglichkeiten:
1. die Beziehung zum Gesamtsystem Gesellschaft,
2. die Beziehung zu anderen Teilsystemen und
3. die Beziehung zu sich selbst.“
→ An der Differenzierungsform und an den Beziehungsmöglichkeiten der gesell-
schaftlichen Teilsysteme lässt sich die Struktur eines Gesellschaftssystems
ablesen.
4.2.2 Primäre Differenzierung
Der primäre Differenzierungstyp steht für eine Differenzie-
rungsform, die für das Gesamtsystem der Gesellschaft cha-
rakteristisch ist.
→ Primäre Differenzierung kann als dominante Differenzierungsform angesehen
werden, zugleich impliziert der Begriff, dass es andere, nämlich, sekundäre,
Differenzierungsformen gibt.
→ Andere Differenzierungen, Subsystembildungen etc. sind dann entweder nicht
als solche des Gesellschaftssystems als Ganzem anzusehen oder aber richten
sich sozusagen im Horizont der primären Differenzierungsform ein.
Die primäre Differenzierungsform der modernen Gesell-
schaft ist die funktionale Differenzierung.
22
4 Funktional differenzierte Gesellschaft
4.2.3 Gesellschaftliche Evolution
Luhmann unterscheidet drei evolutionäre Stufen der pri-
mären gesellschaftlichen Differenzierungsform: segmentäre,
stratifikatorische und funktionale Differenzierung.
4.2.3.1 Segementäre Differenzierung
Das segmentäre Differenzierungsprinzip teilt eine Gesell-
schaft in gleiche Teile, etwa Familie, Stämme, Dörfer.
→ „Jedes Teilsystem sieht die innergesellschaftliche Umwelt nur als Ansammlung
von gleichen oder ähnlichen Systemen. Das Gesamtsystem kann dadurch eine
geringe Komplexität von Handlungsmöglichkeiten nicht überstreiten.“
→ Die geringe Komplexität, d.h. die geringen Variations- und Selektionsmöglich-
keiten und -erfordernisse machen die Evolution von Unwahrscheinlichkeiten
extrem unwahrscheinlich.
„Die Sinndimensionen (zeitlich, sachlich und sozial) sind
noch kaum differenziert und deshalb nicht weiträumig aus-
legbar. (…)“
→ Nicht eine primitive, prälogische Mentalität der Naturvölker macht die Be-
schränkung einfacher Gesellschaften aus, sondern vielmehr das funktionale
Erfordernis einer einfachen gesellschaftlichen Organisation der Einschränkung
von Möglichkeiten.
→ Sie - die primitive, prälogische Mentalität - ist quasi ein Nebenprodukt von
Kommunikation, das aus dem geringen funktionalen Erfordernis hoher Sinn-
komplexität resultiert.
→ Der segmentäre Differenzierungstyp lässt sehr deutlich hervortreten, dass eine
funktionalistische Theorieanlage, die das Soziale nicht als Summe kommunizie-
render Menschen beobachtet, sondern als operativ geschlossenes System von
Anschlussmöglichkeiten, durch ihre Vermeidung der Engführung am Menschen
auch nicht auf jene anthropologischen Präjudize zurückgreifen muss, die gerade
die Theorien einfacher Gesellschaften oft mitliefern.
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4 Funktional differenzierte Gesellschaft
4.2.3.2 Stratifikatorische Differenzierung
Das entscheidende Einteilungsprinzip stratifizierter Gesell-
schaften ist die Differenzierung in ungleiche Schichten.
→ Die Gesellschaft besteht aus verschiedenartigen Teilsystemen, die sich allerdings
nicht in beliebiger Ungleichheit zueinander verhalten, sondern in hierarchischen
Beziehungen zueinander stehen.
– Stratifizierte Gesellschaften beobachten sich und das, was in ihnen
geschieht, mit einer Leitdifferenz, nämlich mit der Unterscheidung
oben/unten.
– Es handelt sich dabei um eine eindeutig vertikale Differenzierung der
Gesellschaft.
Die Gesellschaft differenziert sich in der Sozialdimension.
=⇒ Die Sozialdimension steht im Vordergrund der gesellschaftlichen Autopoiesis.
→ Die eindeutig vertikale Differenzierung der Gesellschaft zeichnet sich zwar
Vergleich zur segmentär differenzierten Sozialform durch einen ungeheuren
Komplexitätszuwachs aus, doch waren die Positionsbestimmungen innerhalb
des Systems noch vergleichsweise transparent. Dafür gibt es mehrere Gründe:
1. Erlaubt die Leitdifferenz oben/unten eine eindeutige Zuordnung von Phäno-
menen.
→ Die Semantik der Hierarchie bleibt die gleiche, gleichviel, aus welcher
Perspektive sie beobachtet wird.
→ Die Selektivität des Gesamtsystems, also gleichsam das, was die Welt
im Innersten zusammenhält, stellt sich dann auch unabhängig vom
Blickwinkel des Betrachters als relativ homogen dar.
2. Erfordert die Transparenz der innergesellschaftlichen Positionierung zentrale
gesellschaftliche semantische Codes.
→ Die Semantik der Hierarchie verlangt nach einer gesellschaftlichen Zen-
tralinstanz, der monopolisierten Sinngebung von Welt und Gesellschaft.
→ Dies wurde funktional durch eine Generalisierung von Moral und vor
allem von Religion erreicht.
→ Die Komplexitätsschranken dieses Differenzierungstyps liegen in der Notwen-
digkeit der Hierarchisierung der Ungleichheit.
24
4 Funktional differenzierte Gesellschaft
4.2.3.3 Funktionale Differenzierung
Die funktionale Differenzierung ist die primäre Differenzie-
rungsform der modernen Gesellschaft. Das Hauptmerkmal
ist die Differenzierungen anhand der Unterscheidung von
nicht gegenseitig substituierbare Funktionen.
→ „Die Theorie autopoietischer Systeme behauptet, dass Systeme nur innerhalb
ihrer selbst operieren können und dass sie ihren Umweltkontakt ausschließlich
systemrelativ, d.h. per eigenen/r Systemoperationen, herstellen.“
→ Die Teilsysteme operieren nicht einfach mit ihnen zugeordneten, funktionsspe-
zifischen Semantiken, sondern mit Hilfe von beobachtungsleitenden Grundun-
terscheidungen.
=⇒ Die Grundunterscheidungen werden mittels binären Codes vorgenommen.
4.2.3.3.1 Binäre Codierung
Die Besonderheit funktionaler Teilsysteme ist, dass sie ihr
Beobachtungsschema über die strikte Zweiwertigkeit ih-
rer binären Codes generieren.
→ Die binären Codierungen kommen nicht in den Systemen vor, sondern sie sind es
letztlich selbst, die die jeweiligen Teilsysteme als soziale Systeme konstituieren.
→ Die binären Codes bilden allerdings lediglich den kontexturellen Rahmen,
innerhalb dessen das jeweilige Teilsystem Formen ausbilden kann.
Der Code sorgt für die Schließung des Systems, die erst
seine spezifische Form der Offenheit ermöglicht.
→ „In Bezug auf seinen Code optiert das System als geschlossenes System, indem
jede Wertung wie wahr/unwahr immer nur auf den jeweils entgegengesetzten
Wert desselben Codes und nie auf andere, externe Werte verweist. Zugleich
aber ermöglicht die Programmierung des Systems, externe Gegenbenheiten in
Betracht zu ziehen, das heißt die Bedingungen zu fixieren, unter denen der eine
oder andere Wert gesetzt wird.“
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4 Funktional differenzierte Gesellschaft
→ Die Programmierungen ermöglichen es den operativ geschlossenen Teilsystemen,
ihre Umwelt, als Externes, das sich dem Code womöglich nicht fügt, in die
eigenen Operationen einzubauen, ohne dabei die eigene binäre Codierung zu
verlassen.
→ Für die Offenheit des Systems dagegen sorgen Programme, d.h. Bedingungen
nach denen für die eine oder andere Seite der Unterscheidung optiert wird.
Die zweiwertige Logik konstituiert eine monokontexturale
Struktur, also eine Welt, in der nichts anderes vorkommt
als das, was innerhalb dieser Unterscheidung Platz hat.
→ Mit Hilfe der System-Umwelt-Unterscheidung wird erst die Welt, die der
Gegenstand des jeweiligen Systems ist, erzeugt.
→ Die funktionalen Teilsysteme der modernen Gesellschaft zeichnen sich durch
die Zweiwertigkeit ihrer Leitunterscheidung aus, die eine Welt innerhalb der
Werte dieser Unterscheidung aufspannt.
4.2.3.3.2 Beobachtung
Die funktionale Differenzierung teilt die Gesellschaft nicht
in Seinsbereiche, nicht in ontische Regionen ein, vielmehr
geht es hier nur um distinkte, nicht aufeinander abbildbare
Beobachtungsverhältnisse.
→ Nicht das Sein der Welt wird eingeteilt, sondern es kommt zu unterschiedli-
chen Beobachtungen - und das heißt nichts anderes als zu unterschiedlichen
Handhabungen von Unterscheidungen, mit denen die Welt als ganze beobachtet
wird.
Funktionsspezifische Beobachtungen können sich nicht von
ihrem Code lösen, denn:
→ Erstens können Systeme nicht außerhalb ihrer selbst operieren, und;
→ zweitens ist die Form autopoietischer Systeme nicht ein Resultat der Welt,
sondern ihre Welt resultiert gerade aus der formgebenden Unterscheidung.
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4 Funktional differenzierte Gesellschaft
Die Autopoiesis des jeweiligen Teilsystems erzeugt also an-
hand ihrer dem System zugrunde liegenden binären Codie-
rung, die die funktionsspezifische Beobachtung konstituiert.
sich selbst und damit: nichts weniger als die Welt.
Man könnte sagen: Die jeweilige Beobachtung schließt aus,
was sie durch ihre Leitunterscheidung nicht sehen kann,
und sie schließt ein, was sie durch ihre Operationen aus-
schließt.
4.2.3.3.3 Operative Differenz
→ Es ist schlicht nicht möglich, die Betrachtungsweise eines anderen Systems in
den systemeigenen Code zu integrieren.
→ Dennoch können die selben Gegenstände beobachtet werden, aber eben nur
aus der je eigenen Perspektive des betrachtenden Systems.
→ Erst mit dem Begriff der operativen Differenz lässt sich die volle Bedeutung
des Theorems der binären Codierung abstecken.
Diese perspektivische Abweichung ist nicht zu beseitigen,
sondern wird als unaufhebbare operative Differenz zwi-
schen den Teilsystemen bezeichnet.
→ Wenn die funktionalen Teilsysteme der Gesellschaft als Kommunikationssys-
teme verstanden werden, die nicht einfach einen Code verwenden, sondern
gerade durch die Verwendung des Codes konstituiert werden, erzeugt jede
Selbstbeobachtung eine Paradoxie: es wird dann deutlich, dass die Codes selbst
es sind, die das erzeugen, was sie in der Welt sehen.
→ Paradoxien treten dann auf, „wenn die Unterscheidung ’System/Umwelt’ im
Inneren eines Systems erscheint, wodurch die Umwelt - die per Definition
’außerhalb’ des Systems liegt - nun zugleich ’außerhalb’ und ’innerhalb’ des
Systems erscheint“.
→ Funktionale Teilsysteme sind also gezwungen, durch Entparadoxierung oder
Invisibilisierung ihrer Paradoxien Selbstblockaden aufzuheben und damit eigene
Operationen zu sichern.
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4 Funktional differenzierte Gesellschaft
=⇒ „Dann kann das System seine Operationen an dieser Differenz orientieren,
kann innerhalb dieser Differenz oszillieren, kann Programme entwickeln, die
die Zuordnung der Operationen zu Positionen und Gegenpositionen des Codes
regeln, ohne Fragen nach der Einheit des Codes zu stellen.“
Man könnte auch sagen: Das System tut schlicht so, als sei
die Welt so, wie sie beobachtet wird.
Wenn die Reflexion auf die Einheit des Codes unerträglich
wird, wird Einheit schlicht durch Differenz ersetzt.
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4 Funktional differenzierte Gesellschaft
4.2.4 Einheit und Differenz
4.2.4.1 Einheit der Differenz
→ Aufgrund der Ausdifferenzierung von für sich selbst unhintergehbaren binären
Codes in der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft kann es keine
zentrale Instanz von gesamtgesellschaftlicher Reichweite mehr geben, die al-
le System-Umwelt-Differenzen transzendieren und damit sinnhaft verbinden
könnte.
→ „Daher fehlt jedem Teilsystem in seiner Umweltbeziehung eine Struktur und
eine Symbolik, die auf das Ganze verweist. Dieser Verweis liegt ausschließlich
in der Funktion selbst, also in einem Prinzip, das die Umwelt sich gerade nicht
zu eigen machen kann.“
‚Welt‘ als Einheit der Differenz von System und Um-
welt wird damit in perspektivische Welten aufgelöst.
Aus der Monokontexturalität vormaliger ontologischer Wel-
ten wird die Polykontexturalität teilsystemspezifischer
Welten in der modernen, funktional differenzierten Gesell-
schaft.
→ Die Relativität der Beobachterposition in der modernen Gesellschaft sorgt
zugleich dafür, dass Lebenswelt nicht als existierende gesellschaftliche Sphäre
konzipiert wird, sondern polykontextural je als Resultat von Beobachtungen
vorliegt.
→ Insofern ist der luhmannsche Begriff von Lebenswelt einer, der mit der unhin-
tergehbaren Differenz der Perspektiven rechnet.
Ein System referiert also in seinen Operationen immer
zugleich auf sich selbst und auf Fremdes, also Umwelt.
→ Die Frage nach der Einheit der modernen Gesellschaft, so Luhmann lässt
sich nur „an den Funktionssystemen nachweisbar“ machen, also anhand der
Beobachtung differenter (!) Handhabungen der Einheit der Differenz von Selbst-
und Fremdreferenz.
→ Jedes funktionale Teilsystem referiert zugleich auf sich selbst und auf Fremdes.
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4 Funktional differenzierte Gesellschaft
Entscheidend für Luhmann ist nun, dass sowohl die eine
Seite (Selbstreferenz) als auch die andere Seite (Fremdrefe-
renz) der Transaktion eine systeminterne Operation dar-
stellt.
→ Umwelt ist selbst kein operierendes System, sondern stets eine systemrelative
Umwelt, die allein durch die Operationen des Systems erzeugt wird.
→ Durch seine eigenen Beobachtungen erzeugt jedes Teilsystem ein Bild der
Gesellschaft, allerdings nur sein Bild der Gesellschaft.
Einheit wird Differenz, will heißen: „die Einheit der
Gesellschaft ist dann nichts anderes als diese
Differenz der Funktionssysteme“
4.2.4.2 Beobachtung und Paradoxie
Es sollte deutlich geworden sein, dass die Theorie funktio-
naler Differenzierung den Gedanken der Einheit der Gesell-
schaft dadurch ersetzt, dass nun gefragt werden muss, wer
etwas als Einheit der Gesellschaft beobachtet.
→ Luhmanns Theorieanlage ist so gebaut, dass sie nicht etwas als etwas beobachtet,
sondern - im Sinne der Beobachtung zweiter Ordnung - beobachtet, wie in der
Gesellschaft unterschiedlich beobachtet wird
Die Beobachtung zweiter Ordnung macht eine Paradoxie
sichtbar, der differenzierte Einheiten stets ausgesetzt sind.
→ Die funktionale Differenzierung der Gesellschaft führt nicht nur zu einem
Pluralismus der Funktionen, also nicht nur zu einer Multiplität von Codes,
sondern gleichzeitig zu einer Multizentrizität: jeder funktionale Code ist sich
selbst zugleich Zentrum der Welt und sieht sich - Beobachtung zweiter Ordnung!
- als Beobachter unter anderen Beobachtern, die ebenso wenig aus dem eigenen
Horizont ausbrechen können, der mit der binären Codierung gegeben ist.
Es geht mithin um Operationalisierung einer Paradoxie.
30
4 Funktional differenzierte Gesellschaft
→ „Das Funktionssystem ist, als Differenz von System und Umwelt begriffen,
die Gesellschaft, und ist es zugleich nicht. Es operiert geschlossen und offen
zugleich. Es verleiht dem eigenen Realitätsanspruch Ausschließlichkeit, wenn
auch nur im Sinne einer operationsnotwendigen Illusion.“
→ Der Preis für die Paradoxiegefahr ist das Erleben von Kontingenz, der Gewinn
ist eine potenzielle Formenvielfalt und Flexibilität, ein erheblicher Zeitgewinn
bei der Reaktion auf Veränderungen sowie die Fähigkeit der Entstehung einer
sich selbst verstärkenden Ordnung.
– „In diesem Sinne ist das Beobachten zweiter Ordnung mit seiner Seman-
tik, seinen Eigenwerten der Kontingenz, methodologisch gesprochen, eine
intervenierende Variable, die erklärt, dass die Gesellschaft in eine an
Funktionen orientierte Differenzierungsform“ übergegangen ist.
– Die Beobachtung zweiter Ordnung fungiert in Luhmanns Gesellschafts-
theorie sowohl als wissenschaftliche Beobachtungstechnik als auch als
wesentliches Merkmal der modernen Gesellschaft selbst, die sich als re-
kursive Vernetzung von Beobachtungen zweiter Ordnung beschreiben
lässt.
‚Beobachtung zweiter Ordnung‘ und ‚Einheit der Dif-
ferenz‘, also die in der funktionalen Differenzierung der
Gesellschaft implizierte Paradoxie, machen das Moder-
ne, oder anders gesagt, die Beschreibung der Moderne erst
möglich
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4 Funktional differenzierte Gesellschaft
4.2.5 Soziale Ordnung
4.2.5.1 Struktur und Semantik
Strukturen schränken die prinzipiell unendliche Anzahl von
Möglichkeiten für Anschlusshandlungen auf ein bestimm-
tes Maß ein: in einem strukturierten System ist nicht alles
beliebig, da der Horizont der eigenen Möglichkeiten auf
Erwartetes eingeschränkt wird.
→ Es ist so, „dass komplexe Systeme Strukturen ausbilden und ohne Strukturen
nicht existieren könnten“.
→ Luhmann ersetzt den starren Strukturbegriff durch den Aspekt der Dynamik
und spricht deshalb bei autopoietischen Systemen von einer »dynamischen Sta-
bilität«, was sowohl der im Dauerzerfall der Ereignisse eingebauten Kontingenz
als auch der durch Selektion bewirkten Kontingenzeinschränkung entgegen-
kommt.
Wird der Strukturbegriff dynamisiert, muss die Ausbildung
von Strukturen als Aspekt des gesellschaftlichen Prozesses
verstanden werden.
„Man hat den Prozess soziokultureller Evolution zu begrei-
fen als Umformung und Erweiterung der Chancen für aus-
sichtsreiche Kommunikation, als Konsolidierung von Er-
wartungen, um die herum die Gesellschaft dann ihre so-
zialen Systeme bildet.“
→ Soziokulturelle Evolution kann begriffen werden als ein spezifischer Mechanis-
mus für Strukturveränderung, und zwar als ein Mechanismus, der ’Zufall’ zur
Induktion von Strukturen benutzt.
→ Soziokulturelle Evolution ist nicht geplant, gewollt oder intentional gesteuert,
sondern ein kontingenter Prozess, der auch anders hätte ablaufen können und
Horizont dieser anderen Möglichkeiten so abgelaufen ist, wie abgelaufen ist und
wie eine evolutionstheoretische Perspektive es beobachtet.
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4 Funktional differenzierte Gesellschaft
Zur Beschreibung solcher sinnhafter Formen, die die Ge-
sellschaft selektiv aus einem Horizont von Möglichkeiten
auswählt, führt Luhmann den Begriff der Semantik ein.
→ Wenn von Gesellschaftsstrukturen und von sozialen Differenzierungen die Rede
ist, geht es, systemtheoretisch gesprochen, stets um das Wechselverhältnis
operativ geschlossener Systeme, die füreinander Umwelt sind und somit in
einem wechselseitigen Beobachtungsverhältnis zueinander stehen.
→ Diese strukturellen Merkmale reichen noch nicht aus, um das soziale Geschehen
beschreiben zu können.
→ Sinnhaft operierende Systeme, wie soziale Systeme, müssen sinnhaft, also
sachlich, zeitlich und sozial ausweisen, was in einem System wann von wem
erwartet bzw. nicht erwartet werden kann.
Unter Semantik verstehen wir demnach einen höherstu-
fig generalisierten, relativ situationsunabhängig verfügba-
ren Sinn.
4.2.5.2 Gesellschaftliche Ordnung
Die entscheidende gesellschaftstheoretische Frage, die sich
aus der Differenzierungstheorie ergibt, ist die, wie soziale
Ordnung möglich ist.
→ Die nacheinander in der Zeit stattfindenden Operationen stellen sich also - vor
allem durch entsprechend offen gehaltene Programmierung - gewissermaßen
aufeinander ein, ohne dass damit eine gemeinsame Perspektive oder gar die
Möglichkeit der Verständigung über gemeinsame Ziele, Normen und Werte
impliziert werden müsste.
→ Die wechselseitigen Limitierungen sind es, die letztlich dazu führen, dass so
etwas wie eine gesellschaftliche Ordnung entsteht, die allerdings nicht als
Ordnungsfaktor vorgegeben ist, sondern sich prozessual stets neu bewähren
und herausbilden muss.
Struktur und Prozess sind keine gegensätzlichen Größen,
sondern ermöglichen sich wechselseitig.
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4 Funktional differenzierte Gesellschaft
→ Die nacheinander in der Zeit stattfindenden Operationen stellen sich also - vor
allem durch entsprechend offen gehaltene Programmierung - gewissermaßen
aufeinander ein, ohne dass damit eine gemeinsame Perspektive oder gar die
Möglichkeit der Verständigung über gemeinsame Ziele, Normen und Werte
impliziert werden müsste.
→ Trotz Dauerzerfall ändert sich nicht mit jedem Ereignis die Welt, vielmehr
legen sich autopoietische soziale Systeme auf Bewährtes fest, greifen auf Funk-
tionales zurück, stabilisieren damit Erwartungen und schränken Komplexität
und Kontingenzbewusstsein ein.
→ Luhmann greift zur Beschreibung dieses Sachverhalts auf den Begriff Eigenwert
zurück, solche sich mit der Zeit herausbildenden Eigenwerte sind strukturelle
Selbsteinschränkungen, die bestimmte Anschlüsse wahrscheinlicher machen.
→ Durch so entstehende Eigenwerte entsteht eine soziale Ordnung, die nicht
nur in der Referenz auf das System selbst, sondern auch in der Referenz
auf Fremdes mit der Zeit zu Erwartbarkeiten führt, die das Nebeneinander
operativer Teilsysteme ermöglicht.
Modernität ist für Luhmann letztlich der Umgang mit der
Erfahrung, dass alles auch anders sein könnte (Kontingenz),
sich aber dennoch jene empirischen Operationen (Beobach-
tungen) und Kommunikationen (Handlungen) einstellen,
die wir beobachten.
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