Thomas S. Kuhn – Wissenschaftsbegriffe | Paradigmenbegriff | wissenschaftliche Revolution | Inkommensurabilität

Thomas S. Kuhn
Wissenschaftsbegriffe | Paradigmenbegriff
wissenschaftliche Revolution | In-
kommensurabilität
Diplomprüfung
Philosophie
Karteikarten
Nicolai Großherr
Thomas S. Kuhn  –  Diplomprüfung  –  Karteikarten  –  Nicolai Großherr
1

Inhaltsverzeichnis
 1 Wissenschaftsbegriffe ……………………………………………………………………………………………………….3
 1.1 Protowissenschaft………………………………………………………………………………………………………4
 1.2 Normalwissenschaft…………………………………………………………………………………………………..6
 2 Rätsel/Rätsellösen…………………………………………………………………………………………………………….9
 3 Paradigmenbegriff…………………………………………………………………………………………………………..10
 3.1 Disziplinäres System (disciplinary matrix)………………………………………………………………….11
 3.2 Musterbeispiel (exemplar)…………………………………………………………………………………………12
 4 Krise……………………………………………………………………………………………………………………………..15
 5 Anomalie……………………………………………………………………………………………………………………….16
 6 Wissenschaftliche Revolution und Paradigmenwechsel……………………………………………………….17
 7 Inkommensurabilität……………………………………………………………………………………………………….19
Abbildungsverzeichnis
Abb 1.1: Proto- zu Normalwissenschaft und Entwicklung…………………………………………………………3
Abb 1.2: Entwicklung von Normalwissenschaft……………………………………………………………………….7
Abb 3.1: Struktur wissenschaftlicher Revolutionen…………………………………………………………………14
Thomas S. Kuhn  –  Diplomprüfung  –  Karteikarten  –  Nicolai Großherr
2


 1  Wissenschaftsbegriffe 
„Kuhn   unterscheidet   zwischen   sogenannter  vorparadigmatischer   Wissen-
schaft
, auch als Protowissenschaft bezeichnet, und Normalwissenschaft.
Kennzeichnend für eine Normalwissenschaft ist das Vorhandensein eines die 
Mitglieder   dieses   Kreises   untereinander   verbindenden   und   mit   ähnlichen 
Werten   und   Ansichten   ausstattenden   Paradigmas,   während   eine   Proto-
wissenschaft über kein solches verbindendes Element verfügt.“1
Abb 1.1: Proto- zu Normalwissenschaft und Entwicklung
Darüber hinaus gibt es noch die Phase der wissenschaftlichen Revolution, 
der eine gesonderte Bedeutung zukommt. „Kuhn betont, dass sein Ansatz 
eine Theorie der Wissenschaft darstellt, da er eine Erklärung der Funktion 
der unterschiedlichen Komponenten umfasst. Nach Kuhn erfüllen Normal-
wissenschaft und Revolutionen wichtige Funktionen, sodass Wissenschaft 
entweder diese oder gewisse andere Charakteristika umfassen muss, die die 
gleichen Funktionen erfüllen können.“
1
Ulmann, Bernd: Präsentation, S. 12
Thomas S. Kuhn  –  Diplomprüfung  –  Karteikarten  –  Nicolai Großherr
3

 1.1  Protowissenschaft
Kuhn   bezeichnet  vorparadigmatische   Wissenschaft   auch   als   Protowissen-
schaft   –   mitunter   auch   schlicht   Vor-Wissenschaft.   Unabhängig   davon, 
welcher Begriff verwendet wird, zeichnet sich die beschriebene Phase von 
Wissenschaft   dadurch   aus,   dass   sie   nicht   über   ein   Paradigma   als   ver-
bindendes   Element   verfügt.2  Denn   „beim   Fehlen   eines   Paradigmas   oder  
eines Kandidaten für ein Paradigma scheinen alle Tatsachen, die zu der  
Entwicklung   einer   bestimmten   Wissenschaft   gehören   könnten,   gleicher-
maßen relevant zu sein.
“3 
Kein   Wunder   also,   daß   in   den   frühen   Stadien   der   Entwicklung   jeder  
Wissenschaft   verschiedene   Leute,   die   sich   mit   dem   gleichen   Bereich   an  
Phänomenen, aber gewöhnlich nicht alle den gleichen Phänomenen gegen-
über sehen, sie auch auf unterschiedliche Art und Weise beschreiben und  
interpretieren.
“4 Was allerdings überraschend ist (…), ist die Tatsache, daß  
solche anfänglichen Unterschiede weitgehend verschwinden können.“

Sie verschwinden tatsächlich in sehr hohem Maße, und dann anscheinend  
für   immer.   Darüber   hinaus   wird   ihr   Verschwinden   gewöhnlich   durch   den  
Triumph einer der Schulen aus der Vor-Paradigma-Zeit ausgelöst (…).
“5 Was 
hier mit Triumph einer Schule benannt wird ist letztlich die Umschreibung 
dafür, dass sich mit dem Übergang von der Protowissenschaft zur Normal-
wissenschaft ein Paradigma als Grundlage der neuen, normalwissenschaft-
lichen Phase von Wissenschaft durchsetzt.
Anhand verschiedener historischer Beispiele kommt Kuhn zu der Auffassung, 
dass Werke, die den Grundstein für normale Wissenschaft gelegt haben, 
„zwei wesentliche Eigenschaften gemeinsame haben.“6
1. „Ihre Leistung war neuartig genug, um eine beständige Gruppe von 
Anhängern anzuziehen, die ihre Wissenschaft bisher auf andere Art 
2
Vgl. Ulmann, S. 12
3
Revolutionen, S. 30
4
Revolutionen, S. 31
5
Revolutionen, S. 31-32
6
Revolutionen, S. 25
Thomas S. Kuhn  –  Diplomprüfung  –  Karteikarten  –  Nicolai Großherr
4

betrieben hatten (…).“7
2. „Und gleichzeitig war sie noch offen genug, um der neuen Gruppe von 
Fachleuten alle möglichen ungelösten Probleme zu stellen.“8
„Leistungen mit diesen beiden Merkmalen werde ich von nun an als »Para-
digma« bezeichnen, ein Ausdruck, der eng mit dem der »normalen Wissen-
schaft« zusammenhängt.“9
7
Revolutionen, S. 25
8
Revolutionen, S. 25
9
Revolutionen, S. 25
Thomas S. Kuhn  –  Diplomprüfung  –  Karteikarten  –  Nicolai Großherr
5

 1.2  Normalwissenschaft
»Normale Wissenschaft« [ist; N.G.] eine Forschung, die fest auf einer oder  
mehreren   wissenschaftlichen   Leistungen   der   Vergangenheit   beruht,  
Leistungen, die von einer bestimmten wissenschaftlichen Gemeinschaft als  
Grundlagen für ihre weitere Arbeit anerkannt werden.
“10  Die als Grundlage 
der   Normalwissenschaft   dienenden   wissenschaftlichen   Leistungen   de-
terminieren das die jeweilige Normalwissenschaft bestimmende Paradigma.
Es gilt demnach: „Normale Wissenschaft ist die empirische und theoretische  
Forschung,   die   auf   einem   Paradigma   beruht:   Bestimmung   bedeutsamer  
Tatsachen,   gegenseitige   Anpassung   von   Fakten   und   Theorien   und  
Artikulierung der Theorie.
“11 Oder „kurz: ein Paradigma steckt das Gebiet ab,  
das in der Folgezeit durch die sog. Normale Wissenschaft genauer erforscht  
wird.“12

Die normale Wissenschaft besteht in der Verwirklichung jener Verheißung,  
einer Verwirklichung, die durch Erweiterung der Kenntnis der vom Paradigma  
als besonders aufschlußreich dargestellten Fakten, durch Verbesserung des  
Zusammenspiels dieser Fakten mit den Voraussagen des Paradigmas sowie  
durch weitere Artikulation des Paradigmas selbst herbeigeführt wird.
“13
„Eine voll entwickelte Wissenschaft wird durch ein einziges Paradigma ge-
leitet. Das Paradigma bestimmt den Standard für legitime Forschung inner-
halb der betreffenden Wissenschaft. Es koordiniert und bestimmt das Vor-
gehen beim Problemlösen, beim „Rätsellösen“ in der Normalwissenschaft.“14
10 Revolutionen, S. 25
11 Kuhnzsf.pdf
12
13 Revolutionen, S. 38
14 Chalmers, Wege der Wissenschaft,  S. 90-91
Thomas S. Kuhn  –  Diplomprüfung  –  Karteikarten  –  Nicolai Großherr
6



Treten   innerhalb   der 
Normalwissenschaft Anomalien 
auf, kommt es zur Krise;

Die
 
Krise
 
der 
Normalwissenschaft   basiert 
darauf,   dass   Abweichungen/ 
Anomalien in Hinblick auf das 
vorherrschende   Paradigma 
auftreten;

Die Krise kann in der Folge zu 
einer
 
wissenschaftlichen 
Revolution   führen,   deren   Er-
gebnis ein Paradigmenwechsel 
ist;
Abb 1.2: Entwicklung von Normalwissenschaft
(…) Drei Klassen von Problemen (…) machen, so glaube ich, die gesamte  
Literatur der normalen Wissenschaft aus, sowohl der empirischen wie auch  
der theoretischen.
“15 Die drei Klassen sind:
1. Die „Bestimmung bedeutsamer Tatsachen“.
2. Die „gegenseitige Anpassung von Fakten und Theorie“.
3. Die „Artikulierung der Theorie“.
Die Tätigkeit der normalen Wissenschaft bezeichnet Kuhn als Rätsellösen: 
Im Rahmen eines Paradigmas wird geforscht, es werden Experimente ge-
macht, Erklärungen gesucht, Hypothesen aufgestellt.
15 Revolutionen, S. 47
Thomas S. Kuhn  –  Diplomprüfung  –  Karteikarten  –  Nicolai Großherr
7

Normalwissenschaft beinhaltet ausführliche Versuche, ein Paradigma aus-
zuarbeiten, wobei angestrebt wird, seine Anpassung an die Realität zu ver-
bessern.   (…)   Kuhn   stellt   Normalwissenschaft   als   ein   Rätsellösen   dar,  
welches   sich   nach   den   Regeln   des   betroffenen   Paradigmas   richtet.   Die  
Rätsel sind sowohl theoretischer als auch experimenteller Natur.“16
Zusammenfassend lässt sich die Funktion der Normalwissenschaft nochmals 
wie folgt verdeutlichen: „Perioden der Normalwissenschaft bieten Wissen-
schaftlern die Möglichkeit, die fachwissenschaftlichen Details einer Theorie 
zu entwickeln. Während sie innerhalb eines Paradigmas, dem Fundament, 
das als absolut gültig betrachtet wird, forschen, sind sie in der Lage, die an-
spruchsvolle experimentelle und theoretische Arbeit zu leisten, die notwendig 
ist, um die Anpassung des Paradigmas in zunehmenden Maße zu verfeinern. 
Das   Vertrauen   in   die   Angemessenheit   des   Paradigmas   versetzt   Wissen-
schaftler   in   die   Lage,   ihre   Energie   eher   in   Versuche   zu   stecken,   die 
„detaillierten“ Rätsel zu lösen, die sich innerhalb ihres Paradigmas stellen, 
anstatt sich in Streitgesprächen über die Legitimation ihrer fundamentalen 
Annahmen und Methoden aufzureiben.“
16 Chalmers, S.91-92
Thomas S. Kuhn  –  Diplomprüfung  –  Karteikarten  –  Nicolai Großherr
8

 2  Rätsel/Rätsellösen
Definition: Rätsel sind die innerhalb einer bestimmten Forschungstradition 
zugänglichen Probleme. Die Aufgabe des Wissenschaftlers in der normalen 
Wissenschaft ist das Rätsellösen. Rätsel haben immer eine Lösung und das 
Rätsellösen untersteht keinen klaren Regeln.
Innerhalb   eines   Paradigmas   kann   vielfach   die   Lösung   eines   Problems 
vorausgesagt werden. Trotzdem ist der Weg zur Lösung zweifelhaft, und es 
erfordert   die   Lösung   einer   Vielzahl   instrumenteller,   begrifflicher   und 
mathematischer Rätsel (eng. puzzle). Der erfolgreiche Wissenschaftler ist 
somit ein Rätsellöser (puzzlesolver), und die Aussicht, ein solches Rätsel zu 
lösen, ist ein wichtiger Antrieb für einen Wissenschaftler. Wissenschaftliche 
Probleme sind nur solche, die vermuten lassen, dass sie eine Lösung haben. 
Einer   der   Gründe   für   den   offenbar   schnellen   Fortschritt   der   normalen  
Wissenschaft ist, dass man sich bei ihr auf Probleme konzentriert, an deren  
Lösung nur Mangel an Scharfsinn hindern könnte.
“  In diesem Sinne sind 
gemäß Kuhn die Probleme der normalen Wissenschaft Rätsel. „Viele der 
größten Wissenschaftler haben ihre ganze fachliche Aufmerksamkeit solchen  
anspruchsvollen Rätseln gewidmet.
“ Zum Lösen von Rätseln müssen jedoch 
auch Regeln vorhanden sein, die die Schritte zur Lösung einschränken aber 
auch die annehmbaren Lösungen definieren.
Rätsel, die sich einer Lösung widersetzen, werden eher als Anomalie statt  
als   Falsifikation   des   Paradigmas   betrachtet.   Kuhn   erkennt   an,   dass   alle  
Paradigmen einige Anomalien beinhalten (…) und weist jede Art von Falsi-
fikationismus zurück.
“17
17 Chalmers, S. 92
Thomas S. Kuhn  –  Diplomprüfung  –  Karteikarten  –  Nicolai Großherr
9

 3  Paradigmenbegriff
Ursprünglich   wollte   Kuhn   für   die   Frage,   was   eine   wissenschaftliche   Ge-
meinde zusammenhält, den Begriff Konsens verwenden. Allerdings stellte er 
fest, dass dieser Begriff den von ihm zu beschreibenden Umstand nicht gut 
und genau genug beschrieb.18 
Auf der Suche nach einem neuen und passenderen Begriff wählte Kuhn in 
der Folge den Begriff des  Paradigmas.  Der Paradigmenbegriff wurde zum 
Dreh-   und   Angelpunkt   seiner   Arbeit   und   zugleich   „zu   einem   der   um-
strittensten   Begriffe   der   Wissenschaftstheorie
“19.   Oder,   in   seinen   eigenen 
Worten, „Paradigm was a perfectly good word, until I messed it up.20“21
Um als Paradigma angenommen zu werden, muß eine Theorie besser er-
scheinen als die mit ihr im Wettstreit liegenden, sie braucht aber nicht – und  
tut es auch niemals – alle Tatsachen, mit denen sie konfrontiert wird, zu er-
klären.
“22 Paradigmata erlangen ihren Status, weil sie bei der Lösung einiger  
Probleme (…) erfolgreicher sind als die mit ihnen konkurrierenden. Erfolg-
reicher sein heißt jedoch nicht, bei einem einzelnen Problem völlig erfolg-
reich oder bei einer größeren Anzahl bemerkenswert erfolgreich sein.
“23
Es ist möglich „einige der typischen Komponenten, die ein Paradigma aus-
machen, zu beschreiben. Zu den Komponenten gehören (…):
“24
1. „(…) Explizit formulierte Gesetze und theoretische Annahmen.
2. „(…) Wege der Anwendung grundlegender Gesetze auf eine Vielzahl  
unterschiedlicher Situationen.
3. „(…)   Das   Instrumentarium   sowie   die   instrumentellen   Techniken,   die  
notwendig sind, um die Gesetze des Paradigmas auf die Realität an-
zuwenden.

4. „(…)   Allgemeine   metaphysische   Prinzipien,   die   die   Arbeit   innerhalb  
eines Paradigmas leiten.
18 vgl. Ulmann, S. 9-10
19 Ulmann, S. 10
20 Zit. nach Ulmann, S. 10, Fn. 10
21 vgl. Ulmann, S. 9-10
22 Revolutionen, S. 32
23 Revolutionen, S. 37
24 Chalmers, S. 91
Thomas S. Kuhn  –  Diplomprüfung  –  Karteikarten  –  Nicolai Großherr
10

`Ein Paradigma ist das, was den Mitgliedern einer wissenschaftlichen Ge-
meinschaft gemeinsam ist, und umgekehrt besteht eine wissenschaftliche  
Gemeinschaft aus Menschen, die ein Paradigma teilen.´ Um den Begriff des  
Paradigmas genauer zu erklären, führt Kuhn zwei neue Termini ein, den des  
disziplinären Systems und den des Musterbeispiels.

(…) Kuhn [hat; N.G.] eingeräumt, dass er den Terminus „Paradigma“ ur-
sprünglich [, d.h. in der ersten Auflage seines Essays,; N.G.]  in einem zwei-
deutigen Sinn verwandt hat.
“ In der Folge, d.h. im Postscriptum der zweiten 
Auflage, unterscheidet er explizit „(…) zwischen einer umfassenderen Be-
deutung des Terminus, wofür er die Bezeichnung „disziplinäres System“ 
(„disciplinary matrix“) einführt, und einer Bedeutung im engeren Sinne, für die  
er den Terminus „Musterbeispiel“ („exemplar“) heranzieht.“25

 3.1  Disziplinäres System (disciplinary matrix)
Mit dem Begriff des disziplinären Systems ersetzt Kuhn des Paradigmas im 
weiten   Sinn,   als   Gesamtheit   der   Gegenstände   des   wissenschaftlichen 
Konsens. Kuhn begründet diesen Ausdruck wie folgt: „»disziplinär«, weil auf 
den   gemeinsamen   Besitz   der   Fachleute   einer   bestimmten   Disziplin   hin-
gewiesen   wird;   »System«,   weil   es   aus   verschiedenartigen   geordneten  
Elementen   zusammengesetzt   ist,   die   alle   genauer   angegeben   werden  
müssen.

Kuhn nennt 4 Elemente, wobei nicht alle 4 Elemente notwendig sind, jedes 
einzelne aber hinreichend, um ein Paradigma zu sein. Die 4 Elemente sind:
1. Die   symbolische   Verallgemeinerung   (allgemeine   Sätze,   die   in   einer 
wissenschaftlichen   Gemeinschaft   als   Naturgesetze   oder   als   Grund-
gleichungen von Theorien anerkannt sind).
2. Die Modelle (heuristische Modelle und Analogien sowie metaphysische 
Modelle).
3. Die   Werte   (gemeinsamer   Kern   der   Wertsysteme   aller   wissenschaft-
lichen Gemeinschaften).
4. Musterbeispiele (Paradigmen im engeren Sinn).
Den Begriff des disziplinären Systems hat Kuhn nach 1969 nie mehr ge-
braucht.
25 Chalmers, S. 90; Fn. 6
Thomas S. Kuhn  –  Diplomprüfung  –  Karteikarten  –  Nicolai Großherr
11

 3.2  Musterbeispiel (exemplar)
Den Begriff Musterbeispiel führt Thomas Kuhn ein für die Bedeutung von 
Paradigma   im   engeren   Sinne.   Dieser   Begriff   ist   für   Kuhn   auch   der 
entscheidende, so hat Kuhn den Begriff des Paradigmas verstanden. „Ich 
meine   damit   ursprünglich   die   konkreten   Problemlösungen,   denen   die  
Studenten von Anfang ihrer wissenschaftlichen Ausbildung an begegnen, ob  
in Laboratorien, in Prüfungen oder am Ende von Kapiteln wissenschaftlicher  
Bücher.
“ Kuhn betont, dass Paradigmen, als Musterbeispiele verstanden, das 
zentrale Element seines Buches sei. Ohne Musterbeispiele hätten die vom 
Studenten früher gelernten Gesetze und Theorien wenig empirischen Gehalt. 
Definition:  „Paradigmata   sind   Musterbeispiele,   oder   konkrete   Problem-
stellungen, die in der wissenschaftlichen Ausbildung gelöst werden. Muster-
beispiele bilden die Grundlage eines jeden wissenschaftlichen Faches, weil 
mit ihnen die jeweilige Wissenschaft gelernt und aufgebaut wird.“26
Man könnte zunächst meinen, dass ein Paradigma, wenn es eine so grund-
legende Rolle für die Forschung spielt, besonders gut begründet sein muss. 
Aber tatsächlich ist das Gegenteil der Fall, und dafür gibt es einen rationalen 
Grund: Das Paradigma liefert erst die Kriterien für eine von der Forscher-
gemeinschaft akzeptierte Begründung innerhalb eines Forschungsgebietes. 
Ein   Paradigma   wird  insofern   nicht   primär   logisch   oder   durch   direkte   Be -
obachtung   begründet,   sondern   dadurch,   dass   es  sich   darin   bewährt,   ein  
Forschungsgebiet zusammenzuhalten und zu befruchten. „Paradigma“ heißt 
Beispiel und ein Paradigma begründet ein Forschungsgebiet weniger, indem 
es einen logischen Aufbau vorgibt, als durch seine beispielhafte Rolle an der 
sich die Forscher orientieren können.
„Kuhn betont, dass ein Paradigma mehr umfasst als allein das, was in ex-
pliziten Regeln und Anweisungen ausgedrückt werden kann. Er beruft sich 
auf Wittgensteins Diskussion des „Spiel“-Begriffs, um seine Vorstellungen zu 
erläutern.“ 
„Durch das Lösen von Standardproblemen, durch Standardexperimente und 
eigenständige Forschungsarbeiten unter der Anleitung eines innerhalb des 
26 Kuhnzsf.pdf
Thomas S. Kuhn  –  Diplomprüfung  –  Karteikarten  –  Nicolai Großherr
12

jeweiligen   Paradigmas   bereits   versierten   Praktikers   wird   ein   angehender 
Wissenschaftler mit den Methoden, den Techniken und den Standards des 
betreffenden Paradigmas vertraut gemacht.“ Er macht sich mit dem Para-
digma „spielerisch“ vertraut.
„Daraus   folgt   jedoch   nicht,   dass   ein   Wissenschaftler   nicht   den   Versuch 
machen kann, die Voraussetzungen seines Paradigmas zu formulieren, wenn 
die Notwendigkeit gegeben ist.“
In einer Wissenschaft (…) ist ein Paradigma selten ein Objekt der Wieder-
holung. Es ist vielmehr (…) ein Objekt für weitere Artikulierung und Spezi-
fizierung unter neuen oder strengeren Voraussetzungen.
“27
27 Revolutionen, S. 37
Thomas S. Kuhn  –  Diplomprüfung  –  Karteikarten  –  Nicolai Großherr
13


Abb 1: Struktur wissenschaftlicher Revolutionen
Thomas S. Kuhn  –  Diplomprüfung  –  Karteikarten  –  Nicolai Großherr
14

 4  Krise
Treten in einer Normalwissenschaft Anomalien oder neue Entdeckungen auf, 
die   nicht   mit   dem   augenblicklich   vorherrschenden  Paradigma   in   Einklang 
gebracht werden können, so tritt eine Krise ein.
„Diese Krise kann zur Widerlegung des Paradigmas sowie zu seiner Ver-
drängung durch ein mit diesem nicht zu vereinbarenden, alternativen Para-
digma führen.“
Eine solche Krise kann in der Folge zu einer wissenschaftlichen Revolution 
führen, deren Ergebnis ein sogenannter Paradigmenwechsel ist (auch als 
»destruktiv-konstruktive Paradigmenveränderung« bezeichnet).
„Versuche, das Problem  zu lösen, werden zunehmend radikaler, und die 
durch das Paradigma gegebenen Regeln zur Lösung von Problemen werden 
allmählich gelockert.“
„Die Gefahr einer Krise wird gesteigert, wenn sich ein rivalisierendes Para-
digma einstellt.“
„Wenn ein  Paradigma  erst  in  einem  derartigen  Ausmaß  geschwächt  und 
unterwandert wurde, dass seine Befürworter ihr Vertrauen in das Paradigma 
verlieren, ist die Zeit reif für die Revolution.“
In   größerem   oder   kleinerem   Ausmaß   sind   gewisse   Eigenschaften 
charakteristisch für alle Entdeckungen, aus denen neue Phänomene hervor-
gehen. Zu diesen Eigenschaften gehören: das vorangehende Bewusstsein 
einer Anomalie, das allmähliche und gleichzeitige Auftauchen einer auf Be-
obachtung gegründeten und einer begrifflichen Anerkennung und der darauf 
folgende Wechsel von Paradigma-Kategorien und -verfahren, der oft einem 
gewissen Widerstand begegnet.
Am Anfang wird nur das Erwartete und Übliche wahrgenommen – selbst 
unter Umständen, unter denen später Anomalien beobachtet werden. Das 
Bewusstsein der Anomalie eröffnet eine Periode, in der Begriffskategorien 
verändert werden, bis das anfänglich Anomale zum Erwarteten geworden ist. 
An diesem Punkt ist die Entdeckung abgeschlossen.
Der Prozess vergegenwärtigt, warum die Normalwissenschaft, die nicht nach 
Neuheiten trachtet und diese anfangs sogar zu unterdrücken neigt, trotzdem 
Thomas S. Kuhn  –  Diplomprüfung  –  Karteikarten  –  Nicolai Großherr
15

so erfolgreich darin ist, ihr Auftauchen zu verursachen.
Die Normalwissenschaft führt innerhalb der Gebiete, auf welche das Para-
digma die Aufmerksamkeit der Gruppe lenkt, zu einer Genauigkeit der Be-
obachtung und Theorie, die auf keine andere Weise erreicht werden könnte. 
Eine   Anomalie   stellt   sich   nur   vor   dem   durch   das   Paradigma   gelieferten 
Hintergrund ein. Je exakter und umfassender dieses Paradigma ist, desto 
empfindlicher ist es als Indikator für Anomalien und damit für die Gelegenheit 
zu einem Paradigmenwechsel.
Es ist das Gefühl des Nichtfunktionierens, das zu einer Krise führt und im 
weiteren die Voraussetzung für die Revolution ist.
 5  Anomalie
„Die bloße Existenz ungelöster Rätsel innerhalb eines Paradigmas macht 
noch keine Krise aus. Kuhn räumt ein, dass Paradigmen stets Schwierig-
keiten   beinhalten,   dass   stets   Anomalien   existieren.   Nur   unter   einer   be-
sonderen Konstellation von Umständen können sich Anomalien in einer Art 
und   Weise   entwickeln,   dass   sie   das   Vertrauen   in   ein   Paradigma   unter-
graben.“
Hierfür lassen sich 4 Anhaltspunkte ausmachen:
1. „Eine Anomalie wird als besonders bedrohlich betrachtet, wenn sie die 
entscheidenden Grundlagen eines Paradigmas berührt und dazu be-
ständig den Versuchen der Normalwissenschaft widersteht, sie zu be-
seitigen.“
2. Anomalien werden auch dann als ernsthaft betrachtet, wenn sie im 
Zusammenhang mit dringlichen sozialen Erfordernissen stehen.“
3. „Auch ist die Zeitspanne bedeutsam, in der eine Anomalie den Ver-
suchen widersteht, sie zu beseitigen.“
4. „Ferner ist die Anzahl ernsthafter Anomalien ein entscheidender Faktor, 
der Einfluss auf den Beginn einer Krise hat.“
Thomas S. Kuhn  –  Diplomprüfung  –  Karteikarten  –  Nicolai Großherr
16

 6  Wissenschaftliche Revolution und Paradigmenwechsel
Die   außerordentlichen   Episoden,   in   denen   jener   Wechsel   der   fachlichen 
Bindungen   vor   sich   geht,   werden   als   wissenschaftliche   Revolutionen   be-
zeichnet. Jede wissenschaftliche Revolution fordert von der Gemeinschaft, 
eine altehrwürdige wissenschaftliche Theorie zugunsten einer anderen, nicht 
mehr mit ihr zu vereinbarenden, zurückzuweisen.
Der interessante Aspekt ist, wie die wissenschaftlichen Revolutionen vor sich 
gehen,   also   die   Paradigmenwechsel.   Alles   beginnt   mit   einer   „Anomalie“: 
Irgendeine Beobachtung passt nicht ins Schema. Solange wie möglich wird  
versucht, diese Anomalie wegzuerklären (Immunisierung) oder zu ignorieren. 
Schließlich kommt irgendwann ein Wissenschaftler oder eine Gruppe von 
Wissenschaftlern  und   präsentiert   ein   neues   Paradigma.   Aber   mitnichten  
werden nun alle freudig dieses neue Paradigma übernehmen. Die normale  
Praxis der Wissenschaft ist, dass die Mehrzahl der alten Wissenschaftler bei 
ihrem alten, bewährten Paradigma bleiben wird. Und dieses Verhalten hat 
auch gute rationale Gründe. Das alte Paradigma hat sich vielfach bewährt,  
und in aller Regel wird das neue Paradigma noch längst nicht so gut aus -
gearbeitet sein, dass es mit dem alten konkurrieren kann. Dazu kommt, dass 
die beiden Paradigmen nicht wirklich miteinander vergleichbar sind. Jedes 
Paradigma begründet sozusagen seine eigene Welt. Die Ablösung des alten 
Paradigmas  durch  das  neue  ist  daher  kein  rational  gesteuerter  Vorgang, 
sondern sie geschieht eher in der Form eines Generationenwechsels. In der 
Regel wird ein kleiner Teil der alten Wissenschaftler und ein größerer Teil der 
neu heranwachsenden Wissenschaftler im neuen Paradigma forschen, und 
irgendwann sind die ausgestorben, die im alten Paradigma zu Hause waren.
„Diese   Umwandlungen   der   Paradigmata   (…)   sind   wissenschaftliche 
Revolutionen,   und   der   fortlaufende   Übergang   von   einem   Paradigma   zu 
einem anderen auf dem Wege der Revolution ist das übliche Entwicklungs-
schema einer reifen Wissenschaft.“28
Wenn in der Entwicklung einer Naturwissenschaft ein einzelner oder eine  
Gruppe erstmalig eine Synthese hervorbringt, die in der Lage ist, die meisten  

28 Revolutionen, S. 27
Thomas S. Kuhn  –  Diplomprüfung  –  Karteikarten  –  Nicolai Großherr
17

Fachleute der nächsten Generation anzuziehen, verschwinden allmählich die  
alten Schulen. […] Das neue Paradigma impliziert eine neue und strengere  
Definition des Gebietes.

Entsprechend   beschreibt   Kuhn   ein   Paradigma   auch   als   ein   „Objekt   für 
weitere Artikulierung und Spezifizierung unter neuen und oder strengeren  
Voraussetzungen.

Bezüglich   der   prinzipiellen   Funktion   von   wissenschaftlichen   Revolutionen 
lässt   sich   das   Folgende   zusammenfassend   feststellen:   „Folglich   sollte 
Wissenschaft   die   Möglichkeit   beinhalten,   aus   einem   Paradigma   in   ein 
anderes, besseres auszubrechen. Dies ist die Funktion von Revolutionen. 
Alle Paradigmen sind in gewissem Maße unzureichend, soweit es die An-
passung   an   die   Realität   betrifft.   Wenn   das   Paradigma   eine   zu   geringe 
Übereinstimmung mit der Wirklichkeit aufweist, d.h., wenn sich eine Krise 
entwickelt, dann wird der revolutionäre Schritt, das Ersetzen des gesamten 
Paradigmas   durch   ein   anderes   für   den   Fortschritt   der   Wissenschaft   ent-
scheidend.“ „Gerade weil ein Paradigma einen derartig tiefgreifenden Ein-
fluss auf die Wissenschaft hat, die in ihrem Rahmen betrieben wird, muss ein 
Paradigmenwechsel revolutionär sein.“
Thomas S. Kuhn  –  Diplomprüfung  –  Karteikarten  –  Nicolai Großherr
18

 7  Inkommensurabilität
Versucht man, eine Normalwissenschaft vor und nach einem Paradigmen-
wechsel miteinander zu vergleichen (…), so ist dies im Extremfall unmöglich, 
da die zugrunde liegenden Paradigmen voneinander grundverschieden und 
damit inkommensurabel geworden sind.
Innerhalb   des   neuen   Paradigmas   treten   alte   Ausdrücke,   Begriffe   und  
Experimente in ein neues Verhältnis zueinander.
“ Aus den Änderungen ergibt 
sich   laut   Kuhn   ein   grundlegendes   „Missverständnis  zwischen   den 
konkurrierenden Schulen
“.
„Rivalisierende Paradigmen erachten unterschiedliche Arten von Fragen als 
legitim oder bedeutsam.“ „So wie unterschiedliche Paradigmen unterschied-
liche Arten von Fragen aufwerfen, so umfassen sie unterschiedliche und sich 
gegenseitig ausschließende Standards.“
„Kuhn betont, dass Anhänger rivalisierender Paradigmen im gewissen Sinne 
„in verschiedenen Welten leben“.“ „Kuhn vergleicht den Wechsel einzelner 
Wissenschaftler von einem Paradigma zu einem mit diesem unvereinbaren, 
alternativen   Paradigma   mit   einem   „Gestaltwandel“   oder   einer   religiösen 
Konversion.“
Kuhn nennt im wesentlichen zwei Gründe dafür, dass sich der Wechsel des 
Wissenschaftlers nicht mit logischen Argumenten erklären lässt. Diese zei 
Gründe sind:
1. „Ein Grund, warum ein solcher Beweis nicht möglich ist, ist die Tat-
sache, dass an dem Urteil eines Wissenschaftlers über den Wert einer 
wissenschaftlichen Theorie eine Vielzahl von Faktoren beteiligt ist. Die 
Entscheidung des einzelnen Wissenschaftlers hängt von der Priorität 
ab, die er einem der unterschiedlichen Faktoren einräumt. Die Faktoren 
umfassen   solche   Kriterien   wie   Einfachheit,   die   Dringlichkeit   sozialer 
Notwendigkeiten, die Fähigkeit spezielle Arten von Problemen zu lösen 
etc.“
Thomas S. Kuhn  –  Diplomprüfung  –  Karteikarten  –  Nicolai Großherr
19

2. Ein zweiter Grund, warum es keinen logisch zwingenden Beweis für die 
Überlegenheit eines Paradigmas über ein anderes gibt, ergibt sich aus 
der   Tatsache,   dass   die   Vertreter   rivalisierender   Paradigmen   unter-
schiedliche Standards oder metaphysische Prinzipien anerkennen. (…) 
Anhänger rivalisierender Programme erkennen die jeweiligen Voraus-
setzungen nicht an, und so sind auch die gegenseitigen Beweise für sie 
nicht stringent.“
Es „erweist sich die Wahl zwischen „konkurrierenden Paradigmen als eine 
Wahl zwischen unvereinbaren Lebensweisen der Gemeinschaft“, und kein 
Argument kann „logisch oder auch nur probabilistisch zwingend“ sein.“ Zwar 
„(…) gibt [es] miteinander in Beziehung stehende Gründe, wann und warum 
ein Paradigma mit einem  anderen konkurriert; es gibt [aber] kein logisch 
zwingendes Argument, das vorschreibt, dass ein von der Vernunft geleiteter 
Wissenschaftler das eine für das andere aufgeben sollte.“ „Damit ist (…) der 
Sachverhalt, der hinter Kuhns Aussage steht, dass rivalisierende Paradigmen 
inkommensurabel sind, zusammengefasst.“
Ein Vergleich ist hierdurch nach Kuhn bestenfalls durch Übersetzung der 
theoriespezifischen Vokabularien möglich (…), da „Normen und Definitionen  
der Wissenschaft voneinander abweichen
“.
Die These ist nicht, dass Theorien nicht übersetzt werden können, sondern  
dass es sehr schwierig ist, eine überzeugende Übersetzung zu etablieren. Es 
gibt immer mehrere Möglichkeiten und viele Interpretationen.
Thomas S. Kuhn  –  Diplomprüfung  –  Karteikarten  –  Nicolai Großherr
20

Comments

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *