Wissenschaftsbegriffe | Paradigmenbegriff
wissenschaftliche Revolution | In-
kommensurabilität
Diplomprüfung
Philosophie
Karteikarten
Nicolai Großherr
Thomas S. Kuhn – Diplomprüfung – Karteikarten – Nicolai Großherr
1
Inhaltsverzeichnis
1 Wissenschaftsbegriffe ……………………………………………………………………………………………………….3
1.1 Protowissenschaft………………………………………………………………………………………………………4
1.2 Normalwissenschaft…………………………………………………………………………………………………..6
2 Rätsel/Rätsellösen…………………………………………………………………………………………………………….9
3 Paradigmenbegriff…………………………………………………………………………………………………………..10
3.1 Disziplinäres System (disciplinary matrix)………………………………………………………………….11
3.2 Musterbeispiel (exemplar)…………………………………………………………………………………………12
4 Krise……………………………………………………………………………………………………………………………..15
5 Anomalie……………………………………………………………………………………………………………………….16
6 Wissenschaftliche Revolution und Paradigmenwechsel……………………………………………………….17
7 Inkommensurabilität……………………………………………………………………………………………………….19
Abbildungsverzeichnis
Abb 1.1: Proto- zu Normalwissenschaft und Entwicklung…………………………………………………………3
Abb 1.2: Entwicklung von Normalwissenschaft……………………………………………………………………….7
Abb 3.1: Struktur wissenschaftlicher Revolutionen…………………………………………………………………14
Thomas S. Kuhn – Diplomprüfung – Karteikarten – Nicolai Großherr
2
1 Wissenschaftsbegriffe
„Kuhn unterscheidet zwischen sogenannter vorparadigmatischer Wissen-
schaft, auch als Protowissenschaft bezeichnet, und Normalwissenschaft.
Kennzeichnend für eine Normalwissenschaft ist das Vorhandensein eines die
Mitglieder dieses Kreises untereinander verbindenden und mit ähnlichen
Werten und Ansichten ausstattenden Paradigmas, während eine Proto-
wissenschaft über kein solches verbindendes Element verfügt.“1
Abb 1.1: Proto- zu Normalwissenschaft und Entwicklung
Darüber hinaus gibt es noch die Phase der wissenschaftlichen Revolution,
der eine gesonderte Bedeutung zukommt. „Kuhn betont, dass sein Ansatz
eine Theorie der Wissenschaft darstellt, da er eine Erklärung der Funktion
der unterschiedlichen Komponenten umfasst. Nach Kuhn erfüllen Normal-
wissenschaft und Revolutionen wichtige Funktionen, sodass Wissenschaft
entweder diese oder gewisse andere Charakteristika umfassen muss, die die
gleichen Funktionen erfüllen können.“
1
Ulmann, Bernd: Präsentation, S. 12
Thomas S. Kuhn – Diplomprüfung – Karteikarten – Nicolai Großherr
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1.1 Protowissenschaft
Kuhn bezeichnet vorparadigmatische Wissenschaft auch als Protowissen-
schaft – mitunter auch schlicht Vor-Wissenschaft. Unabhängig davon,
welcher Begriff verwendet wird, zeichnet sich die beschriebene Phase von
Wissenschaft dadurch aus, dass sie nicht über ein Paradigma als ver-
bindendes Element verfügt.2 Denn „beim Fehlen eines Paradigmas oder
eines Kandidaten für ein Paradigma scheinen alle Tatsachen, die zu der
Entwicklung einer bestimmten Wissenschaft gehören könnten, gleicher-
maßen relevant zu sein.“3
„Kein Wunder also, daß in den frühen Stadien der Entwicklung jeder
Wissenschaft verschiedene Leute, die sich mit dem gleichen Bereich an
Phänomenen, aber gewöhnlich nicht alle den gleichen Phänomenen gegen-
über sehen, sie auch auf unterschiedliche Art und Weise beschreiben und
interpretieren.“4 „Was allerdings überraschend ist (…), ist die Tatsache, daß
solche anfänglichen Unterschiede weitgehend verschwinden können.“
Sie verschwinden tatsächlich in sehr hohem Maße, und dann anscheinend
für immer. Darüber hinaus wird ihr Verschwinden gewöhnlich durch den
Triumph einer der Schulen aus der Vor-Paradigma-Zeit ausgelöst (…).“5 Was
hier mit Triumph einer Schule benannt wird ist letztlich die Umschreibung
dafür, dass sich mit dem Übergang von der Protowissenschaft zur Normal-
wissenschaft ein Paradigma als Grundlage der neuen, normalwissenschaft-
lichen Phase von Wissenschaft durchsetzt.
Anhand verschiedener historischer Beispiele kommt Kuhn zu der Auffassung,
dass Werke, die den Grundstein für normale Wissenschaft gelegt haben,
„zwei wesentliche Eigenschaften gemeinsame haben.“6
1. „Ihre Leistung war neuartig genug, um eine beständige Gruppe von
Anhängern anzuziehen, die ihre Wissenschaft bisher auf andere Art
2
Vgl. Ulmann, S. 12
3
Revolutionen, S. 30
4
Revolutionen, S. 31
5
Revolutionen, S. 31-32
6
Revolutionen, S. 25
Thomas S. Kuhn – Diplomprüfung – Karteikarten – Nicolai Großherr
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betrieben hatten (…).“7
2. „Und gleichzeitig war sie noch offen genug, um der neuen Gruppe von
Fachleuten alle möglichen ungelösten Probleme zu stellen.“8
„Leistungen mit diesen beiden Merkmalen werde ich von nun an als »Para-
digma« bezeichnen, ein Ausdruck, der eng mit dem der »normalen Wissen-
schaft« zusammenhängt.“9
7
Revolutionen, S. 25
8
Revolutionen, S. 25
9
Revolutionen, S. 25
Thomas S. Kuhn – Diplomprüfung – Karteikarten – Nicolai Großherr
5
1.2 Normalwissenschaft
„»Normale Wissenschaft« [ist; N.G.] eine Forschung, die fest auf einer oder
mehreren wissenschaftlichen Leistungen der Vergangenheit beruht,
Leistungen, die von einer bestimmten wissenschaftlichen Gemeinschaft als
Grundlagen für ihre weitere Arbeit anerkannt werden.“10 Die als Grundlage
der Normalwissenschaft dienenden wissenschaftlichen Leistungen de-
terminieren das die jeweilige Normalwissenschaft bestimmende Paradigma.
Es gilt demnach: „Normale Wissenschaft ist die empirische und theoretische
Forschung, die auf einem Paradigma beruht: Bestimmung bedeutsamer
Tatsachen, gegenseitige Anpassung von Fakten und Theorien und
Artikulierung der Theorie.“11 Oder „kurz: ein Paradigma steckt das Gebiet ab,
das in der Folgezeit durch die sog. Normale Wissenschaft genauer erforscht
wird.“12
„Die normale Wissenschaft besteht in der Verwirklichung jener Verheißung,
einer Verwirklichung, die durch Erweiterung der Kenntnis der vom Paradigma
als besonders aufschlußreich dargestellten Fakten, durch Verbesserung des
Zusammenspiels dieser Fakten mit den Voraussagen des Paradigmas sowie
durch weitere Artikulation des Paradigmas selbst herbeigeführt wird.“13
„Eine voll entwickelte Wissenschaft wird durch ein einziges Paradigma ge-
leitet. Das Paradigma bestimmt den Standard für legitime Forschung inner-
halb der betreffenden Wissenschaft. Es koordiniert und bestimmt das Vor-
gehen beim Problemlösen, beim „Rätsellösen“ in der Normalwissenschaft.“14
10 Revolutionen, S. 25
11 Kuhnzsf.pdf
12
13 Revolutionen, S. 38
14 Chalmers, Wege der Wissenschaft, S. 90-91
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6
•
Treten innerhalb der
Normalwissenschaft Anomalien
auf, kommt es zur Krise;
•
Die
Krise
der
Normalwissenschaft basiert
darauf, dass Abweichungen/
Anomalien in Hinblick auf das
vorherrschende Paradigma
auftreten;
•
Die Krise kann in der Folge zu
einer
wissenschaftlichen
Revolution führen, deren Er-
gebnis ein Paradigmenwechsel
ist;
Abb 1.2: Entwicklung von Normalwissenschaft
„(…) Drei Klassen von Problemen (…) machen, so glaube ich, die gesamte
Literatur der normalen Wissenschaft aus, sowohl der empirischen wie auch
der theoretischen.“15 Die drei Klassen sind:
1. Die „Bestimmung bedeutsamer Tatsachen“.
2. Die „gegenseitige Anpassung von Fakten und Theorie“.
3. Die „Artikulierung der Theorie“.
Die Tätigkeit der normalen Wissenschaft bezeichnet Kuhn als Rätsellösen:
Im Rahmen eines Paradigmas wird geforscht, es werden Experimente ge-
macht, Erklärungen gesucht, Hypothesen aufgestellt.
15 Revolutionen, S. 47
Thomas S. Kuhn – Diplomprüfung – Karteikarten – Nicolai Großherr
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„Normalwissenschaft beinhaltet ausführliche Versuche, ein Paradigma aus-
zuarbeiten, wobei angestrebt wird, seine Anpassung an die Realität zu ver-
bessern. (…) Kuhn stellt Normalwissenschaft als ein Rätsellösen dar,
welches sich nach den Regeln des betroffenen Paradigmas richtet. Die
Rätsel sind sowohl theoretischer als auch experimenteller Natur.“16
Zusammenfassend lässt sich die Funktion der Normalwissenschaft nochmals
wie folgt verdeutlichen: „Perioden der Normalwissenschaft bieten Wissen-
schaftlern die Möglichkeit, die fachwissenschaftlichen Details einer Theorie
zu entwickeln. Während sie innerhalb eines Paradigmas, dem Fundament,
das als absolut gültig betrachtet wird, forschen, sind sie in der Lage, die an-
spruchsvolle experimentelle und theoretische Arbeit zu leisten, die notwendig
ist, um die Anpassung des Paradigmas in zunehmenden Maße zu verfeinern.
Das Vertrauen in die Angemessenheit des Paradigmas versetzt Wissen-
schaftler in die Lage, ihre Energie eher in Versuche zu stecken, die
„detaillierten“ Rätsel zu lösen, die sich innerhalb ihres Paradigmas stellen,
anstatt sich in Streitgesprächen über die Legitimation ihrer fundamentalen
Annahmen und Methoden aufzureiben.“
16 Chalmers, S.91-92
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2 Rätsel/Rätsellösen
Definition: Rätsel sind die innerhalb einer bestimmten Forschungstradition
zugänglichen Probleme. Die Aufgabe des Wissenschaftlers in der normalen
Wissenschaft ist das Rätsellösen. Rätsel haben immer eine Lösung und das
Rätsellösen untersteht keinen klaren Regeln.
Innerhalb eines Paradigmas kann vielfach die Lösung eines Problems
vorausgesagt werden. Trotzdem ist der Weg zur Lösung zweifelhaft, und es
erfordert die Lösung einer Vielzahl instrumenteller, begrifflicher und
mathematischer Rätsel (eng. puzzle). Der erfolgreiche Wissenschaftler ist
somit ein Rätsellöser (puzzlesolver), und die Aussicht, ein solches Rätsel zu
lösen, ist ein wichtiger Antrieb für einen Wissenschaftler. Wissenschaftliche
Probleme sind nur solche, die vermuten lassen, dass sie eine Lösung haben.
„Einer der Gründe für den offenbar schnellen Fortschritt der normalen
Wissenschaft ist, dass man sich bei ihr auf Probleme konzentriert, an deren
Lösung nur Mangel an Scharfsinn hindern könnte.“ In diesem Sinne sind
gemäß Kuhn die Probleme der normalen Wissenschaft Rätsel. „Viele der
größten Wissenschaftler haben ihre ganze fachliche Aufmerksamkeit solchen
anspruchsvollen Rätseln gewidmet.“ Zum Lösen von Rätseln müssen jedoch
auch Regeln vorhanden sein, die die Schritte zur Lösung einschränken aber
auch die annehmbaren Lösungen definieren.
„Rätsel, die sich einer Lösung widersetzen, werden eher als Anomalie statt
als Falsifikation des Paradigmas betrachtet. Kuhn erkennt an, dass alle
Paradigmen einige Anomalien beinhalten (…) und weist jede Art von Falsi-
fikationismus zurück.“17
17 Chalmers, S. 92
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3 Paradigmenbegriff
Ursprünglich wollte Kuhn für die Frage, was eine wissenschaftliche Ge-
meinde zusammenhält, den Begriff Konsens verwenden. Allerdings stellte er
fest, dass dieser Begriff den von ihm zu beschreibenden Umstand nicht gut
und genau genug beschrieb.18
Auf der Suche nach einem neuen und passenderen Begriff wählte Kuhn in
der Folge den Begriff des Paradigmas. Der Paradigmenbegriff wurde zum
Dreh- und Angelpunkt seiner Arbeit und zugleich „zu einem der um-
strittensten Begriffe der Wissenschaftstheorie“19. Oder, in seinen eigenen
Worten, „Paradigm was a perfectly good word, until I messed it up.20“21
„Um als Paradigma angenommen zu werden, muß eine Theorie besser er-
scheinen als die mit ihr im Wettstreit liegenden, sie braucht aber nicht – und
tut es auch niemals – alle Tatsachen, mit denen sie konfrontiert wird, zu er-
klären.“22 „Paradigmata erlangen ihren Status, weil sie bei der Lösung einiger
Probleme (…) erfolgreicher sind als die mit ihnen konkurrierenden. Erfolg-
reicher sein heißt jedoch nicht, bei einem einzelnen Problem völlig erfolg-
reich oder bei einer größeren Anzahl bemerkenswert erfolgreich sein.“23
Es ist möglich „einige der typischen Komponenten, die ein Paradigma aus-
machen, zu beschreiben. Zu den Komponenten gehören (…):“24
1. „(…) Explizit formulierte Gesetze und theoretische Annahmen.“
2. „(…) Wege der Anwendung grundlegender Gesetze auf eine Vielzahl
unterschiedlicher Situationen.“
3. „(…) Das Instrumentarium sowie die instrumentellen Techniken, die
notwendig sind, um die Gesetze des Paradigmas auf die Realität an-
zuwenden.“
4. „(…) Allgemeine metaphysische Prinzipien, die die Arbeit innerhalb
eines Paradigmas leiten.“
18 vgl. Ulmann, S. 9-10
19 Ulmann, S. 10
20 Zit. nach Ulmann, S. 10, Fn. 10
21 vgl. Ulmann, S. 9-10
22 Revolutionen, S. 32
23 Revolutionen, S. 37
24 Chalmers, S. 91
Thomas S. Kuhn – Diplomprüfung – Karteikarten – Nicolai Großherr
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„`Ein Paradigma ist das, was den Mitgliedern einer wissenschaftlichen Ge-
meinschaft gemeinsam ist, und umgekehrt besteht eine wissenschaftliche
Gemeinschaft aus Menschen, die ein Paradigma teilen.´ Um den Begriff des
Paradigmas genauer zu erklären, führt Kuhn zwei neue Termini ein, den des
disziplinären Systems und den des Musterbeispiels.“
„(…) Kuhn [hat; N.G.] eingeräumt, dass er den Terminus „Paradigma“ ur-
sprünglich [, d.h. in der ersten Auflage seines Essays,; N.G.] in einem zwei-
deutigen Sinn verwandt hat.“ In der Folge, d.h. im Postscriptum der zweiten
Auflage, unterscheidet er explizit „(…) zwischen einer umfassenderen Be-
deutung des Terminus, wofür er die Bezeichnung „disziplinäres System“
(„disciplinary matrix“) einführt, und einer Bedeutung im engeren Sinne, für die
er den Terminus „Musterbeispiel“ („exemplar“) heranzieht.“25
3.1 Disziplinäres System (disciplinary matrix)
Mit dem Begriff des disziplinären Systems ersetzt Kuhn des Paradigmas im
weiten Sinn, als Gesamtheit der Gegenstände des wissenschaftlichen
Konsens. Kuhn begründet diesen Ausdruck wie folgt: „»disziplinär«, weil auf
den gemeinsamen Besitz der Fachleute einer bestimmten Disziplin hin-
gewiesen wird; »System«, weil es aus verschiedenartigen geordneten
Elementen zusammengesetzt ist, die alle genauer angegeben werden
müssen.“
Kuhn nennt 4 Elemente, wobei nicht alle 4 Elemente notwendig sind, jedes
einzelne aber hinreichend, um ein Paradigma zu sein. Die 4 Elemente sind:
1. Die symbolische Verallgemeinerung (allgemeine Sätze, die in einer
wissenschaftlichen Gemeinschaft als Naturgesetze oder als Grund-
gleichungen von Theorien anerkannt sind).
2. Die Modelle (heuristische Modelle und Analogien sowie metaphysische
Modelle).
3. Die Werte (gemeinsamer Kern der Wertsysteme aller wissenschaft-
lichen Gemeinschaften).
4. Musterbeispiele (Paradigmen im engeren Sinn).
Den Begriff des disziplinären Systems hat Kuhn nach 1969 nie mehr ge-
braucht.
25 Chalmers, S. 90; Fn. 6
Thomas S. Kuhn – Diplomprüfung – Karteikarten – Nicolai Großherr
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3.2 Musterbeispiel (exemplar)
Den Begriff Musterbeispiel führt Thomas Kuhn ein für die Bedeutung von
Paradigma im engeren Sinne. Dieser Begriff ist für Kuhn auch der
entscheidende, so hat Kuhn den Begriff des Paradigmas verstanden. „Ich
meine damit ursprünglich die konkreten Problemlösungen, denen die
Studenten von Anfang ihrer wissenschaftlichen Ausbildung an begegnen, ob
in Laboratorien, in Prüfungen oder am Ende von Kapiteln wissenschaftlicher
Bücher.“ Kuhn betont, dass Paradigmen, als Musterbeispiele verstanden, das
zentrale Element seines Buches sei. Ohne Musterbeispiele hätten die vom
Studenten früher gelernten Gesetze und Theorien wenig empirischen Gehalt.
Definition: „Paradigmata sind Musterbeispiele, oder konkrete Problem-
stellungen, die in der wissenschaftlichen Ausbildung gelöst werden. Muster-
beispiele bilden die Grundlage eines jeden wissenschaftlichen Faches, weil
mit ihnen die jeweilige Wissenschaft gelernt und aufgebaut wird.“26
Man könnte zunächst meinen, dass ein Paradigma, wenn es eine so grund-
legende Rolle für die Forschung spielt, besonders gut begründet sein muss.
Aber tatsächlich ist das Gegenteil der Fall, und dafür gibt es einen rationalen
Grund: Das Paradigma liefert erst die Kriterien für eine von der Forscher-
gemeinschaft akzeptierte Begründung innerhalb eines Forschungsgebietes.
Ein Paradigma wird insofern nicht primär logisch oder durch direkte Be -
obachtung begründet, sondern dadurch, dass es sich darin bewährt, ein
Forschungsgebiet zusammenzuhalten und zu befruchten. „Paradigma“ heißt
Beispiel und ein Paradigma begründet ein Forschungsgebiet weniger, indem
es einen logischen Aufbau vorgibt, als durch seine beispielhafte Rolle an der
sich die Forscher orientieren können.
„Kuhn betont, dass ein Paradigma mehr umfasst als allein das, was in ex-
pliziten Regeln und Anweisungen ausgedrückt werden kann. Er beruft sich
auf Wittgensteins Diskussion des „Spiel“-Begriffs, um seine Vorstellungen zu
erläutern.“
„Durch das Lösen von Standardproblemen, durch Standardexperimente und
eigenständige Forschungsarbeiten unter der Anleitung eines innerhalb des
26 Kuhnzsf.pdf
Thomas S. Kuhn – Diplomprüfung – Karteikarten – Nicolai Großherr
12
jeweiligen Paradigmas bereits versierten Praktikers wird ein angehender
Wissenschaftler mit den Methoden, den Techniken und den Standards des
betreffenden Paradigmas vertraut gemacht.“ Er macht sich mit dem Para-
digma „spielerisch“ vertraut.
„Daraus folgt jedoch nicht, dass ein Wissenschaftler nicht den Versuch
machen kann, die Voraussetzungen seines Paradigmas zu formulieren, wenn
die Notwendigkeit gegeben ist.“
„In einer Wissenschaft (…) ist ein Paradigma selten ein Objekt der Wieder-
holung. Es ist vielmehr (…) ein Objekt für weitere Artikulierung und Spezi-
fizierung unter neuen oder strengeren Voraussetzungen.“27
27 Revolutionen, S. 37
Thomas S. Kuhn – Diplomprüfung – Karteikarten – Nicolai Großherr
13
Abb 1: Struktur wissenschaftlicher Revolutionen
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4 Krise
Treten in einer Normalwissenschaft Anomalien oder neue Entdeckungen auf,
die nicht mit dem augenblicklich vorherrschenden Paradigma in Einklang
gebracht werden können, so tritt eine Krise ein.
„Diese Krise kann zur Widerlegung des Paradigmas sowie zu seiner Ver-
drängung durch ein mit diesem nicht zu vereinbarenden, alternativen Para-
digma führen.“
Eine solche Krise kann in der Folge zu einer wissenschaftlichen Revolution
führen, deren Ergebnis ein sogenannter Paradigmenwechsel ist (auch als
»destruktiv-konstruktive Paradigmenveränderung« bezeichnet).
„Versuche, das Problem zu lösen, werden zunehmend radikaler, und die
durch das Paradigma gegebenen Regeln zur Lösung von Problemen werden
allmählich gelockert.“
„Die Gefahr einer Krise wird gesteigert, wenn sich ein rivalisierendes Para-
digma einstellt.“
„Wenn ein Paradigma erst in einem derartigen Ausmaß geschwächt und
unterwandert wurde, dass seine Befürworter ihr Vertrauen in das Paradigma
verlieren, ist die Zeit reif für die Revolution.“
In größerem oder kleinerem Ausmaß sind gewisse Eigenschaften
charakteristisch für alle Entdeckungen, aus denen neue Phänomene hervor-
gehen. Zu diesen Eigenschaften gehören: das vorangehende Bewusstsein
einer Anomalie, das allmähliche und gleichzeitige Auftauchen einer auf Be-
obachtung gegründeten und einer begrifflichen Anerkennung und der darauf
folgende Wechsel von Paradigma-Kategorien und -verfahren, der oft einem
gewissen Widerstand begegnet.
Am Anfang wird nur das Erwartete und Übliche wahrgenommen – selbst
unter Umständen, unter denen später Anomalien beobachtet werden. Das
Bewusstsein der Anomalie eröffnet eine Periode, in der Begriffskategorien
verändert werden, bis das anfänglich Anomale zum Erwarteten geworden ist.
An diesem Punkt ist die Entdeckung abgeschlossen.
Der Prozess vergegenwärtigt, warum die Normalwissenschaft, die nicht nach
Neuheiten trachtet und diese anfangs sogar zu unterdrücken neigt, trotzdem
Thomas S. Kuhn – Diplomprüfung – Karteikarten – Nicolai Großherr
15
so erfolgreich darin ist, ihr Auftauchen zu verursachen.
Die Normalwissenschaft führt innerhalb der Gebiete, auf welche das Para-
digma die Aufmerksamkeit der Gruppe lenkt, zu einer Genauigkeit der Be-
obachtung und Theorie, die auf keine andere Weise erreicht werden könnte.
Eine Anomalie stellt sich nur vor dem durch das Paradigma gelieferten
Hintergrund ein. Je exakter und umfassender dieses Paradigma ist, desto
empfindlicher ist es als Indikator für Anomalien und damit für die Gelegenheit
zu einem Paradigmenwechsel.
Es ist das Gefühl des Nichtfunktionierens, das zu einer Krise führt und im
weiteren die Voraussetzung für die Revolution ist.
5 Anomalie
„Die bloße Existenz ungelöster Rätsel innerhalb eines Paradigmas macht
noch keine Krise aus. Kuhn räumt ein, dass Paradigmen stets Schwierig-
keiten beinhalten, dass stets Anomalien existieren. Nur unter einer be-
sonderen Konstellation von Umständen können sich Anomalien in einer Art
und Weise entwickeln, dass sie das Vertrauen in ein Paradigma unter-
graben.“
Hierfür lassen sich 4 Anhaltspunkte ausmachen:
1. „Eine Anomalie wird als besonders bedrohlich betrachtet, wenn sie die
entscheidenden Grundlagen eines Paradigmas berührt und dazu be-
ständig den Versuchen der Normalwissenschaft widersteht, sie zu be-
seitigen.“
2. Anomalien werden auch dann als ernsthaft betrachtet, wenn sie im
Zusammenhang mit dringlichen sozialen Erfordernissen stehen.“
3. „Auch ist die Zeitspanne bedeutsam, in der eine Anomalie den Ver-
suchen widersteht, sie zu beseitigen.“
4. „Ferner ist die Anzahl ernsthafter Anomalien ein entscheidender Faktor,
der Einfluss auf den Beginn einer Krise hat.“
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6 Wissenschaftliche Revolution und Paradigmenwechsel
Die außerordentlichen Episoden, in denen jener Wechsel der fachlichen
Bindungen vor sich geht, werden als wissenschaftliche Revolutionen be-
zeichnet. Jede wissenschaftliche Revolution fordert von der Gemeinschaft,
eine altehrwürdige wissenschaftliche Theorie zugunsten einer anderen, nicht
mehr mit ihr zu vereinbarenden, zurückzuweisen.
Der interessante Aspekt ist, wie die wissenschaftlichen Revolutionen vor sich
gehen, also die Paradigmenwechsel. Alles beginnt mit einer „Anomalie“:
Irgendeine Beobachtung passt nicht ins Schema. Solange wie möglich wird
versucht, diese Anomalie wegzuerklären (Immunisierung) oder zu ignorieren.
Schließlich kommt irgendwann ein Wissenschaftler oder eine Gruppe von
Wissenschaftlern und präsentiert ein neues Paradigma. Aber mitnichten
werden nun alle freudig dieses neue Paradigma übernehmen. Die normale
Praxis der Wissenschaft ist, dass die Mehrzahl der alten Wissenschaftler bei
ihrem alten, bewährten Paradigma bleiben wird. Und dieses Verhalten hat
auch gute rationale Gründe. Das alte Paradigma hat sich vielfach bewährt,
und in aller Regel wird das neue Paradigma noch längst nicht so gut aus -
gearbeitet sein, dass es mit dem alten konkurrieren kann. Dazu kommt, dass
die beiden Paradigmen nicht wirklich miteinander vergleichbar sind. Jedes
Paradigma begründet sozusagen seine eigene Welt. Die Ablösung des alten
Paradigmas durch das neue ist daher kein rational gesteuerter Vorgang,
sondern sie geschieht eher in der Form eines Generationenwechsels. In der
Regel wird ein kleiner Teil der alten Wissenschaftler und ein größerer Teil der
neu heranwachsenden Wissenschaftler im neuen Paradigma forschen, und
irgendwann sind die ausgestorben, die im alten Paradigma zu Hause waren.
„Diese Umwandlungen der Paradigmata (…) sind wissenschaftliche
Revolutionen, und der fortlaufende Übergang von einem Paradigma zu
einem anderen auf dem Wege der Revolution ist das übliche Entwicklungs-
schema einer reifen Wissenschaft.“28
„Wenn in der Entwicklung einer Naturwissenschaft ein einzelner oder eine
Gruppe erstmalig eine Synthese hervorbringt, die in der Lage ist, die meisten
28 Revolutionen, S. 27
Thomas S. Kuhn – Diplomprüfung – Karteikarten – Nicolai Großherr
17
Fachleute der nächsten Generation anzuziehen, verschwinden allmählich die
alten Schulen. […] Das neue Paradigma impliziert eine neue und strengere
Definition des Gebietes.“
Entsprechend beschreibt Kuhn ein Paradigma auch als ein „Objekt für
weitere Artikulierung und Spezifizierung unter neuen und oder strengeren
Voraussetzungen.“
Bezüglich der prinzipiellen Funktion von wissenschaftlichen Revolutionen
lässt sich das Folgende zusammenfassend feststellen: „Folglich sollte
Wissenschaft die Möglichkeit beinhalten, aus einem Paradigma in ein
anderes, besseres auszubrechen. Dies ist die Funktion von Revolutionen.
Alle Paradigmen sind in gewissem Maße unzureichend, soweit es die An-
passung an die Realität betrifft. Wenn das Paradigma eine zu geringe
Übereinstimmung mit der Wirklichkeit aufweist, d.h., wenn sich eine Krise
entwickelt, dann wird der revolutionäre Schritt, das Ersetzen des gesamten
Paradigmas durch ein anderes für den Fortschritt der Wissenschaft ent-
scheidend.“ „Gerade weil ein Paradigma einen derartig tiefgreifenden Ein-
fluss auf die Wissenschaft hat, die in ihrem Rahmen betrieben wird, muss ein
Paradigmenwechsel revolutionär sein.“
Thomas S. Kuhn – Diplomprüfung – Karteikarten – Nicolai Großherr
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7 Inkommensurabilität
Versucht man, eine Normalwissenschaft vor und nach einem Paradigmen-
wechsel miteinander zu vergleichen (…), so ist dies im Extremfall unmöglich,
da die zugrunde liegenden Paradigmen voneinander grundverschieden und
damit inkommensurabel geworden sind.
„Innerhalb des neuen Paradigmas treten alte Ausdrücke, Begriffe und
Experimente in ein neues Verhältnis zueinander.“ Aus den Änderungen ergibt
sich laut Kuhn ein grundlegendes „Missverständnis zwischen den
konkurrierenden Schulen“.
„Rivalisierende Paradigmen erachten unterschiedliche Arten von Fragen als
legitim oder bedeutsam.“ „So wie unterschiedliche Paradigmen unterschied-
liche Arten von Fragen aufwerfen, so umfassen sie unterschiedliche und sich
gegenseitig ausschließende Standards.“
„Kuhn betont, dass Anhänger rivalisierender Paradigmen im gewissen Sinne
„in verschiedenen Welten leben“.“ „Kuhn vergleicht den Wechsel einzelner
Wissenschaftler von einem Paradigma zu einem mit diesem unvereinbaren,
alternativen Paradigma mit einem „Gestaltwandel“ oder einer religiösen
Konversion.“
Kuhn nennt im wesentlichen zwei Gründe dafür, dass sich der Wechsel des
Wissenschaftlers nicht mit logischen Argumenten erklären lässt. Diese zei
Gründe sind:
1. „Ein Grund, warum ein solcher Beweis nicht möglich ist, ist die Tat-
sache, dass an dem Urteil eines Wissenschaftlers über den Wert einer
wissenschaftlichen Theorie eine Vielzahl von Faktoren beteiligt ist. Die
Entscheidung des einzelnen Wissenschaftlers hängt von der Priorität
ab, die er einem der unterschiedlichen Faktoren einräumt. Die Faktoren
umfassen solche Kriterien wie Einfachheit, die Dringlichkeit sozialer
Notwendigkeiten, die Fähigkeit spezielle Arten von Problemen zu lösen
etc.“
Thomas S. Kuhn – Diplomprüfung – Karteikarten – Nicolai Großherr
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2. Ein zweiter Grund, warum es keinen logisch zwingenden Beweis für die
Überlegenheit eines Paradigmas über ein anderes gibt, ergibt sich aus
der Tatsache, dass die Vertreter rivalisierender Paradigmen unter-
schiedliche Standards oder metaphysische Prinzipien anerkennen. (…)
Anhänger rivalisierender Programme erkennen die jeweiligen Voraus-
setzungen nicht an, und so sind auch die gegenseitigen Beweise für sie
nicht stringent.“
Es „erweist sich die Wahl zwischen „konkurrierenden Paradigmen als eine
Wahl zwischen unvereinbaren Lebensweisen der Gemeinschaft“, und kein
Argument kann „logisch oder auch nur probabilistisch zwingend“ sein.“ Zwar
„(…) gibt [es] miteinander in Beziehung stehende Gründe, wann und warum
ein Paradigma mit einem anderen konkurriert; es gibt [aber] kein logisch
zwingendes Argument, das vorschreibt, dass ein von der Vernunft geleiteter
Wissenschaftler das eine für das andere aufgeben sollte.“ „Damit ist (…) der
Sachverhalt, der hinter Kuhns Aussage steht, dass rivalisierende Paradigmen
inkommensurabel sind, zusammengefasst.“
Ein Vergleich ist hierdurch nach Kuhn bestenfalls durch Übersetzung der
theoriespezifischen Vokabularien möglich (…), da „Normen und Definitionen
der Wissenschaft voneinander abweichen“.
Die These ist nicht, dass Theorien nicht übersetzt werden können, sondern
dass es sehr schwierig ist, eine überzeugende Übersetzung zu etablieren. Es
gibt immer mehrere Möglichkeiten und viele Interpretationen.
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