Freie Universität Berlin
Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften
Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaften
Leistung:
Hausarbeit
Thema:
Opposition von Natur und Kultur?
Annäherung an den Begriff der Entfremdung.
Student:
Nicolai Grossherr
Dudenstraße 11
10965 Berlin
Dozent:
Hasko Hüning
Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaften
Ihnestraße 22
14195 Berlin
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung………………………………………………………………………………………………………………. 1
2 Entfremdung des Individuums………………………………………………………………………………….. 3
2.1 Primat der Natur………………………………………………………………………………………………. 3
2.1.1 Natur des Menschen………………………………………………………………………………….. 4
2.1.2 Gefühlswelt im Naturzustand……………………………………………………………………… 6
2.1.3 Der weiter gefasste Rahmen……………………………………………………………………….. 8
2.1.4 Konklusion………………………………………………………………………………………………10
2.2 Primat der Vernunft………………………………………………………………………………………… 12
2.2.1 Erster Einblick………………………………………………………………………………………… 13
2.2.2 Tiefer gehendes Verständnis …………………………………………………………………….. 15
2.2.3 Der darüber hinausgehende Rahmen………………………………………………………….. 17
2.2.4 Konklusion………………………………………………………………………………………………20
2.3 Weiterführende Erkenntnisse ……………………………………………………………………………23
2.3.1 Materialismus…………………………………………………………………………………………. 23
2.3.1.1 Feuerbach oder Wege zum Materialismus……………………………………………. 23
2.3.1.2 Dialektischer Materialismus………………………………………………………………. 24
2.3.1.3 Entfremdung bei Marx………………………………………………………………………. 25
2.3.1.4 Konklusion………………………………………………………………………………………. 26
2.3.2 Exkurs: Doppelte Vergesellschaftung…………………………………………………………. 26
3 Resümee………………………………………………………………………………………………………………. 29
Bibliographie…………………………………………………………………………………………………………….33
i
1 Einleitung
Opposition von Natur und Kultur?
1 Einleitung
Ihm war, als lasse nicht alles sich ganz gewöhnlich an, als beginne eine
träumerische Entfremdung, eine Entstellung der Welt ins Sonderbare um sich
zu greifen, der vielleicht Einhalt zu tun wäre, wenn er (…) aufs neue um sich
schaute.
Thomas Mann, Der Tod in Venedig
Das Interesse am Thema Entfremdung stellte sich aus verschiedenen Gründen ein. Zum einen
wurde ich im Rahmen eines Seminars über den Emotionalen Kapitalismus des häufigeren
darauf gestoßen; speziell die Diskussionen verschiedener Aspekte der Produktions- und
Reproduktionssystematik moderner Gesellschaften gab dazu Anlass. Immer blieb dabei ein
Teil meiner Fragen offen; eine der drängendsten war die nach dem Phänomen Entfremdung.
Zudem bot sich den interessierten Zeitungslesern mindestens schon das ganze Jahr 2007 eine
Debatte über Krippenplätze, Kinderbetreuung, Herdprämie, Rabenmütter und -väter sowie
Erziehungsgeld. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es dabei um die
Weichenstellungen hinsichtlich der zukünftigen Reproduktion der im Staatsgebiet der
Bundesrepublik Deutschland ansässigen Menschen ging. Nicht zu Letzt wurde auch die
Frage des neuen Feminismus diskutiert und in diesem Zusammenhang die Frage der
Gleichberechtigung neu gestellt.
Dabei hatte ich den Eindruck, dass bestimmte Argumentationslinien herauszulesen und dass
diese vor allem auch durch mangelnde Trennschärfe gekennzeichnet waren. Eines kam mir
immer wieder in den Sinn, und zwar, dass sich die Argumentation häufig an dem Gegensatz
Natur zu Kultur abarbeiteten, auch wenn dieser meistens nicht in dieser Deutlichkeit zu
entnehmen war.
Die Problematik, mit der sich die Hausarbeit beschäftigt, lässt sich im weitesten Sinne mit
Annäherung an den Begriff Entfremdung
1
1 Einleitung
Opposition von Natur und Kultur?
dem Begriffspaar Natur und Kultur umschreiben. In einem argumentativ-rhetorischem
Verständnis ist zu klären, wie die Begriffe verwendet werden; beziehungsweise verwendet
werden können. Es wird eine Argumentationslinie an dem (vermeintlichen) Gegensatzpaar
Natur Kultur verortet. Konkreter geht es in der Arbeit um das Phänomen der Entfremdung
des Individuums in der modernen Gesellschaft. Dieses lässt sich, meines Erachtens, über die
Frage, was Kultur bzw. Natur ist, herleiten. Ein genaues Verständnis dieser Kategorien ist für
eine umfassende Bearbeitung der Thematik unumgänglich.
Zu diesem Zweck, also der Präzisierung der Kategorien, beginne ich meine Annäherung an
den Begriff Entfremdung mit Jean-Jacques Rousseau. Bei ihm unterstelle ich vorab eine
Vorrangigkeit der Komponente Natur; unter anderem deshalb ist das Kapitel mit Primat der
Natur überschrieben wohlgemerkt mit einem fragenden Unterton. Es wird in Folge eben
auch darum gehen, ob sich diese Vermutung bestätigt. Außerdem soll das rousseausche
Konzept in seinen Grundzügen erarbeitet werden.
Als Antipode wird hier Hegel genommen, der so die Prämisse den Primat der Vernunft
vertritt. Vernunft ist in diesem Zusammenhang gewissermaßen die zu ergründende
Komponente Kultur; so zumindest soll das Verständnis sein. Auch hier stellt sich wiederum
die Frage, welche Erkenntnisse sich aus seinem Werk ziehen lassen, weshalb auch hier die
dazu nötigen Grundlagen erarbeitet werden.
Im letzten Kapitel werden weiterführende Erkenntnisse erarbeitet. Diese sollen eine noch
engere Eingrenzung des untersuchten Problemfeldes ermöglichen. Dabei werde ich zunächst
auf den Materialismus und dabei speziell auf Karl Marx eingehen. Insbesondere seine
Forderung nach dem Praxisbezug der Philosophie und die Betrachtung des Ökonomischen
werden kurz angeschnitten; sowie sein Begriff der Entfremdung. Abschließend wird mittels
eines Exkurses zur doppelten Vergesellschaftung die Frage nach der einseitigen
Beschränkung klassischer Theorien auf das Ökonomische gestellt.
Somit ist die zu Grunde gelegte Frage die danach, ob es eine Opposition von Natur und
Kultur gibt? Dieser Frage wird mittels der vorab beschriebenen Selektion theoretischer
Grundlagenliteratur nachgegangen. Dabei soll unter anderem eine begriffliche Klärung
erfolgen. Zugleich verfolge ich mit der Arbeit das Ziel einer Annäherung an den Begriff der
Entfremdung.
Annäherung an den Begriff Entfremdung
2
1 Einleitung
Opposition von Natur und Kultur?
2 Entfremdung des Individuums
Es werden verschiedene klassisch zu nennende Ansätze erarbeitet. Den Anfang macht dabei
Jean-Jacques Rousseau (1712 1778); daraufhin wird der Ansatz von Georg Wilhelm
Friedrich Hegel (1770 1831) untersucht. Es ist folgerichtig, dass im Anschluss an Letzteren
der Begriff im Verständnis von Karl Heinrich Marx (1818 1883) betrachtet wird.
Insbesondere durch Rousseau und Hegel wird der Versuch unternommen, sich dem
Begriffspaar Natur/Kultur sowie damit einhergehend dem Begriff Entfremdung anzunähern.
Es wird dabei Einblick gegeben in die Terminologie dieser Erläuterungen, d.h. wie und in
welchen Zusammenhängen mit welchen Begriffen gearbeitet und was darunter verstanden
wird. Zudem soll in diesem Zusammenhang verdeutlicht werden, wie unterschiedlich die
Schwerpunktsetzung der beiden ist; hierunter ist speziell der Vorrang jeweils eines der
Begriffe Natur bzw. Kultur zu verstehen. Der letzte Abschnitt wird mittels einer kurzen
Einführung in den Materialismus eine möglicherweise erweiternde Perspektive aufzeigen.
Selbiges Ziel hat der abschließende Exkurs zur Theorie der doppelten Vergesellschaftung.
2.1 Primat der Natur
Jean-Jacques Rousseau formuliert seine Arbeitshypothese in der Abhandlung über den
Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen1 wie folgt: Indem ich
dieses so beschaffene Wesen von allen übernatürlichen Gaben, die es vielleicht empfangen
hat, und von allen künstlichen Fähigkeiten, dies nur durch langwierige Fortschritte erwerben
konnte, entblöße; indem ich es, mit einem Wort, so betrachte, wie aus den Händen der Natur
hervorgegangen sein muss (…) 2; indem er also den Menschen Schritt für Schritt von den
ihm zugeordneten Eigenschaften befreit, will er erkennen was des Menschen Natur ist. Das
Ziel ist somit zu ergründen, welche der menschlichen Attribute ausschließlich auf die Natur
1
Rousseau, Jean-Jacques (1998): Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter
den Menschen. Stuttgart: Reclam
2
Ebenda, S. 35
Annäherung an den Begriff Entfremdung
3
2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
zurückzuführen sind.
Tatsächlich ist das Thema des Diskurses die Ungleichheit, sowie es auch die Preisfrage der
Akademie von Dijon zum Ausdruck bringt: Welches ist der Ursprung der Ungleichheit
unter den Menschen, und ist sie durch das natürliche Gesetz gerechtfertigt? 3 Es wird also
nötig sein, den rousseauschen Ansatz, wenn auch in der gebotenen Kürze, wiederzugeben,
um dann die unter dem Gesichtspunkt der Entfremdung interessanten Aspekte isolieren zu
können.
2.1.1 Natur des Menschen
Rousseau wendet sich insbesondere gegen die zu seiner Zeit vorherrschenden Auffassungen
über den Naturzustand und die damit in Zusammenhang gebrachten Aussagen zur Natur des
Menschen. Dabei waren ihm besonders folgende Vorgehensweisen ein Dorn im Auge: dem
Menschen von vornherein ein Verständnis von Recht und Unrecht zu unterstellen4; dem
Menschen Besitzstreben als Eigenschaft zuzuordnen, ohne vorab geklärt zu haben, was
Besitz ist5; und schließlich, dem Menschen Macht und damit Machtstrukturen zuzuschreiben,
um darauf die Rechtfertigung für die Regierung stützen6. Der größte Fehler ist seiner
Meinung nach allerdings, ganz allgemein, dass dem Menschen des Naturzustandes Begriffe
zugeordnet wurden, die aus der Gesellschaft, wie sie existiert, entnommen wurden.7 Insofern
ist seine Grundannahme, dass es vor ihm noch nicht richtig unternommen wurde, den
Naturzustand und die daraus zu folgernden Schlüsse herzuleiten.
Kritisch steht er auch der Unterteilung der Menschen in wilde8 und zivilisiert-bürgerliche9
Menschen gegenüber, welche seiner Ansicht nach allein aus schon vorab geprägten Urteilen
heraus gebildet zu sein scheint. Somit ist (dann) auch Rousseaus Urteil insbesondere auch
bezüglich des letzten Punktes häufig entgegengesetzt.
3
Ebenda, S. 29
4
etwa Hugo Grotius
5
speziell John Locke
6
speziell Thomas Hobbes
7
Rousseau (1998), S. 32-33
8
franz. homme sauvage
9
franz. homme civil
Annäherung an den Begriff Entfremdung
4
2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
Bei ihm wird aus dem wilden Menschen der edle Wilde 10, welcher den Menschen des
Naturzustandes repräsentiert. Rousseau schreibt ihm einerseits verschiedene Eigenschaften
und andererseits (Lebens-)Bedingungen zu. Der Mensch des Naturzustands lebt demnach frei
von jeglichen zivilisatorischen Einflüssen und ist auf Grund dessen friedlich und zufrieden.
Er kennt weder Tugend noch Laster, ebenso wenig wie Gut und Böse11, er ist gewissermaßen
unschuldig, da wie er lebt die natürliche Art zu leben ist. Rousseau geht weiterhin davon aus,
dass der Mensch in diesem Zustand materiell wie auch gefühlsmäßig autark ist. Das Leben
im Naturzustand wird von ihm zudem als durch Freiheit und Gleichheit gekennzeichnet
verstanden.12
Beinahe mit Verwunderung stellt er fest (…) um wieviel geringer der Unterschied zwischen
Mensch und Mensch im Naturzustand sein muß als im Gesellschaftszustand und um wieviel
die natürliche Ungleichheit in der menschlichen Gattung durch die gesellschaftlich
eingerichtete Ungleichheit vergrößert sein muß. 13 Daraus zieht er den Schluss, dass der
Mensch von Natur gut und nur durch die Gesellschaft schlecht geworden ist 14. Er geht dabei
allerdings nicht von der Gesellschaft als einer übergeordneten Macht aus. Den Beweis dafür
sieht er in der Erkenntnis, (…) daß die meisten unserer Leiden unser eigenes Werk sind und
daß wir fast alles hätten vermeiden können, wenn wir die Lebensweise (…) beibehalten
hätten, die uns von der Natur verordnet wurde. 15
Entgegen der allgemeinen Annahme, insbesondere einiger seiner Zeitgenossen16,
10
franz. bon sauvage
11
Hier stellt sich Rousseau insbesondere in Opposition zu Thomas Hobbes, der dem Menschen des
Naturzustandes Schlechtigkeit attestiert. So sagt Hobbes, daß (…) der [Natur-; N.G.] Zustand der
Menschen ein solcher sei (…), nämlich ein Krieg aller gegen alle. [Hobbes, Thomas (2002): Leviathan.
Stuttgart: Reclam, S. 115] Die gegensätzliche Haltung und der Bezug auf Hobbes werden von Rousseau
mehrfach auch direkt angesprochen; beispielsweise: Ziehen wir vor allem nicht mit Hobbes den Schluß,
daß der Mensch von Natur aus böse sei, weil er keine Vorstellung von der Güte hat; daß er lasterhaft sei,
weil er die Tugend nicht kennt (…). Hobbes hat sehr gut den Fehler aller modernen Definitionen gesehen;
aber die Folgerungen die er aus seiner Definition zieht, zeigen, daß er sie einem Sinn versteht, der nicht
weniger falsch ist. [Rousseau (1998), S. 60] Der nach Rousseau falsche Schluss von Thomas Hobbes ist
insbesondere in dessen Einschätzung zu finden, dass der Mensch nur durch die Vernunft den Widrigkeiten
des Naturzustandes entgehen kann und dass dabei sein Antrieb aus der Furcht erwächst.
12
Speth, Rudolf (2003): Jean-Jacques Rousseau . In: Breit, Gotthard/Massing, Peter (Hg.) (2003):
Demokratie-Theorien. Von der Antike bis zur Gegenwart. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S.
118-124; Russell, Bertrand (2007): Philosophie des Abendlandes. München: Piper, S. 696ff.
13
Rousseau (1998), S. 70
14
Russell (2007), S. 696
15
Rousseau (1998), S. 40
16
hier ist insbesondere Voltaire zu nennen; vgl. Massing/Breit (2003), S. 122
Annäherung an den Begriff Entfremdung
5
2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
proklamierte Rousseau nicht die Rückkehr zum Naturzustand. Er geht vielmehr davon aus,
dass der Naturzustand ein Zustand [ist; N.G.], den es nicht mehr gibt, den es vielleicht nie
gegeben hat und vielleicht niemals geben wird, von dem man sich aber trotzdem die richtige
Vorstellung machen muss, wenn man unseren gegenwärtigen Zustand recht beurteilen will. 17
Es genügt ihm (…), nachgewiesen zu haben, daß dies nicht der ursprüngliche Zustand des
Menschen ist, sondern daß es allein der Geist der Gesellschaft ist und die Ungleichheit,
welche jene erzeugt, die unsere natürlichen Neigungen so verändern und verderben. 18
2.1.2 Gefühlswelt im Naturzustand
Beginnen wir damit, in dem Gefühl der Liebe das Geistig-Seelische [le moral] vom
Physischen [le physique] zu unterscheiden. 19 Nach Rousseau ist nur das Physische als dem
Naturzustand zugehörig zu erachten. Es kann mit dem Sexualtrieb und dem
Selbsterhaltungstrieb assoziiert werden. Das Geistig-Seelische wiederum ist ein künstliches
Gefühl und aus der Gewohnheit der Gesellschaft entsprungen.20 Rousseau kommt zu dem
Schluss, dass auf das Physische beschränkte Menschen seltenere und weniger grausame
Streitigkeiten austragen 21 würden.
Aus dieser Erkenntnisgrundlage leitet er ab, dass die Gefühlswelt des bon sauvage im
Wesentlichen durch die Selbstliebe22 und das Mitleid23 geprägt wird. Während die Selbstliebe
direkt auf den Instinkt der Selbsterhaltung zurückgeführt werden kann24, ist Mitleid
wiederum als Korrektiv zu verstehen, d.h. es mildert das Verlangen der Selbstliebe ab.25
Das Mitleid veranlasst uns, ohne zu überlegen denjenigen Hilfe zu leisten, die wir leiden
17
zitiert nach Russell (2007), S. 696
18
Rousseau (1998), S. 113
19
Rousseau (1998), S. 66
20
Ebenda, S. 65-67
21
Ebenda, S. 67
22
franz. amour de soi-même; Verwirrender Weise wird amour de soi-même in der Sekundärliteratur zu
Rousseau unterschiedlich übersetzt, und zwar jeweils mit Eigenliebe oder Selbstliebe. [vgl. Rousseau
(1998), S. 61 oder S. 151-152 bzw. Meyer (1984), S. 65-67] Dies ist speziell deshalb ungünstig, da es sich
nicht nur hier bei den beiden Begriffen um einen Gegensatz handelt. In dieser Arbeit wird amour de soi-
même mit Eigenliebe übersetzt und verwendet.
23
franz. pitié
24
Rousseau (1998), S. 63f.
25
Ebenda, S. 64
Annäherung an den Begriff Entfremdung
6
2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
sehen; es vertritt im Naturzustand die Stelle der Gesetze, der Sitten und der Tugend (…). 26
Da das Mitleid im Naturzustand sowohl die Tugenden und die Sitten als auch die Gesetze
ersetzt, ist für Rousseau klar, dass es nur dieser Dreiklang an Gesetzen verschiedener Art27
sein kann, der für die Übel der vergesellschafteten Lebensweise verantwortlich ist.
Dabei ist ihm insbesondere der andauernde Bezug auf deren Bestimmung in der Vernunft
Beweis genug für deren schlechten Einfluss auf das Leben des einzelnen Menschen. Denn
nichts (…) wäre so elend (…) wie ein durch Aufklärung geblendeter und von Leidenschaft
geplagter Wilder, der über einen von dem seinigen verschiedenen Zustand vernünftelnd
redet. 28
Die durch Vernunft geprägte Art der Liebe jene also, die den zivilisierten Menschen betrifft
bezeichnet Rousseau mit Eigenliebe29. Sie ist nicht zu verwechseln mit der Selbstliebe; ein
natürliches Gefühl, das den Menschen in erster Linie dazu bringt, über seine eigene
Erhaltung zu wachen und in zweiter Linie die Menschlichkeit und die Tugend in ihm
hervorbringt.30 Wohingegen:
die Eigenliebe (…) nur ein relatives, künstliches und in der Gesellschaft
entstandenes Gefühl [ist; N.G.], das jedes Individuum dazu veranlaßt, sich
selbst einen größeren Wert beizulegen als jedem anderen, das den
Menschen all die Übel eingibt, die sie sich gegenseitig zufügen, und das die
wahre Quelle der Ehre ist. 31
Was sind nun die konkreteren Folgen dieser Feststellung? Der Wilde lebt in sich selbst; der
gesellschaftliche Mensch ist immer außerhalb seiner selbst und weiß nur in der Meinung der
anderen zu leben; und er bezieht sozusagen allein aus ihrem Urteil das Gefühl seiner eigenen
Existenz. 32
26
Ebenda, S. 64
27
Detel, Wolfgang (2007): Grundkurs Philosophie. Band 5: Philosophie des Sozialen. Stuttgart: Reclam, S.
50ff.
28
Rousseau (1998), S. 58
29
franz. amour propre; Verwirrender Weise wird amour propre in verschiedenen Büchern über Rousseau
unterschiedlich übersetzt, und zwar jeweils mit Selbstliebe oder Eigenliebe. [vgl. Rousseau (1998), S. 61
oder S. 151-152 bzw. Meyer (1984), S. 65-67] Dies speziell deshalb ungünstig, da nicht nur hier es sich
bei den beiden Begriffen um ein Gegensatz handelt. Wie dem auch sei, in dieser Arbeit wird amour propre
mit Eigenliebe übersetzt und verwendet.
30
Rousseau (1998), S. 150ff.
31
Rousseau (1998), S. 151
32
Rousseau (1998), S. 112
Annäherung an den Begriff Entfremdung
7
2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
2.1.3 Der weiter gefasste Rahmen
Einschränkend kann angemerkt werden, dass Rousseaus Theorie möglicherweise zu einem
großen Teil auf seiner persönlichen Empfindungen hinsichtlich seines Lebens aufgebaut ist.
Zumindest kann davon ausgegangen werden, dass das eine der Antriebsfeder für seine
spezifische Auffassung von der Natur des Menschen und dem Naturzustand gewesen ist. Als
Beleg dafür kann der Brief gelten den Rousseau seinem Mäzen Malesherbes im Jahr 1762
schrieb:
Erbittert durch die Ungerechtigkeiten, die ich zu erdulden hatte oder
deren Zeuge ich gewesen war, oft tief traurig über die Zerrüttung, in die
mich das Beispiel und die Macht der Verhältnisse gestürtzt hatten, faßte ich
eine Verachtung gegen mein Jahrhundert und gegen meine Zeitgenossen.
Da ich fühlte, daß ich in ihrer Mitte nie eine Stellung finden würde, die
mein Herz befrieden könnte, löste ich es allmählich los von der
menschlichen Gesellschaft und gestaltete mir selbst eine andere in meiner
Phantasie, die mich um so mehr entzückte, als ich stets ohne jede Mühe und
Gefahr in ihr weilen konnte, da sie mir stets sicher und in jeder Gestalt, in
der ich sie eben brauchte, zur Verfügung stand. 33
Je nachdem, wie man diese und andere Äußerungen bewertet, kann man entweder zu dem
Schluss kommen, dass Rousseaus Verhaltensmuster an die eines Autisten erinnern, oder aber,
dass er durch seine intensive Beschäftigung mit der Gesellschaft zu sich und seiner
Lebensweise gefunden hat.34 Ungeachtet dessen, ob man Rousseau als Mensch mit extremen,
möglicherweise auch pathologischen (krankhaften, d.h. von der Norm abweichenden)
psychischen Dispositionen begreift oder aber als Visionär, der seine Art zu Leben
verwirklicht hat, stellt sich natürlich die Frage, ob seine Theorie deswegen gleich in ihrer
Gänze als falsch oder frei von jedem Erkenntnisgewinn abgetan werden kann. Diese Frage
muss ungeachtet der Schlüsse, die man aus seiner Person und Persönlichkeit ziehen mag,
entschieden verneint werden.
33
zitiert nach Meyer, Heinz (1984): Alienation, Entfremdung und Selbstverwirklichung. Hildesheim: Georg
Olms Verlag, S. 61
34
Ebenda, S. 60ff.
Annäherung an den Begriff Entfremdung
8
2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
Wie bereits oben angeführt vertrat Rousseau keinesfalls die Meinung, es müsse der
Naturzustand wieder hergestellt werden. Stattdessen kann ganz eindeutig gesagt werden, dass
er den Primat der Natur ausgerufen und gefordert hat.
Er vertritt die Meinung, dass das Sich-Entfernen des Menschen aus dem Naturzustand zu
Entwicklungen geführt hat, die für ihn und die Gesellschaft nicht gut sind. Sein Ziel ist es,
diese Entwicklungen aufzudecken und zu zeigen, dass und wie sie mit der Entfremdung des
Menschen von seiner natürlichen Art des Seins zusammenhängen. Folglich ist bei Rousseau
Entfremdung definitiv auf die Abkehr von dieser Natur des Menschen zurückzuführen.
Dabei stellt sich für ihn weniger die Frage, wie dieser Zustand wiederhergestellt werden
kann; vielmehr versucht er zu ergründen, wie der Mensch trotz seiner sozialen,
vergesellschafteten Lebensweise glücklich sein kann. Die Antwort darauf ist insbesondere in
seinem Buch Der Gesellschaftsvertrag 35 zu finden.
Eine weitere Besonderheit ist, dass bei ihm die Frage nach den Gefühlen des Menschen
gestellt wird: Es ist eben nicht so, dass sich der Mensch auf der Vernunftsebene entfremdet,
sondern auf der Ebene der Gefühle. Folgerichtig ist das Ziel des Gesellschaftsvertrags auch
nicht, eine Balance der Vernunft zu erreichen, sondern eine der Gefühle.
Dabei spielt insbesondere die Aufgabe der Freiheit des Naturzustandes eine wichtige Rolle.
Sie wird unter anderem durch die Einführung des Eigentums symbolisiert, das den Anfang
der Gesellschaft markiert. Oder mit Rousseaus Worten: Der erste, der ein Stück Land
eingezäunt hatte und auf den Gedanken kam zu sagen ’Dies ist mein’ und der Leute fand, die
einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Begründer der zivilen Gesellschaft. 36
Damit war der Grundstock für die bürgerliche Gesellschaft gelegt; Festigung erfuhr sie durch
die Einführung des Eigentumsrechts und des Rechts im Allgemeinen37.
Mit dem Entstehen der zivilen Gesellschaft gehen aber auch die Entstehung der Ungleichheit
und der Ungerechtigkeit sowie der Entfremdung des Individuums einher. In der Tat ist
leicht zu sehen, daß unter den Unterschieden, die sich zwischen den Menschen auftun, etliche
als natürlich gelten, die allein das Werk der Gewohnheit und der verschiedenen
35
Rousseau, Jean-Jacques (1880): Der Gesellschaftsvertrag oder Die Grundsätze des Staatsrechtes.
URL: http://www.textlog.de/rousseau_vertrag.html [Stand 13. April 2008]
36
Rousseau (1998), S. 74
37
Meyer (1984), S. 67-68
Annäherung an den Begriff Entfremdung
9
2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
Lebensweisen sind, welche die Menschen in der Gesellschaft annehmen. 38 Damit diese
Unterschiede gerecht sind im Sinne der menschlichen Natur, muss der Gesellschaftsvertrag
abgeschlossen werden, der aus freien Menschen Staatsbürger macht.
Der Übergang aus dem Naturzustande in das Staatsbürgertum bringt in
dem Menschen eine sehr bemerkbare Veränderung hervor, indem in seinem
Verhalten die Gerechtigkeit an die Stelle des Instinktes tritt und sich in
seinen Handlungen der sittliche Sinn zeigt, der ihnen vorher fehlte. Erst in
dieser Zeit verdrängt die Stimme der Pflicht den physischen Antrieb und
das Recht der Begierde, so dass sich der Mensch, der bis dahin lediglich
auf sich selbst Rücksicht genommen hatte, gezwungen sieht, nach anderen
Grundsätzen zu handeln und seine Vernunft um Rat fragt, bevor er auf
seine Neigungen hört. Obgleich er in diesem Zustande mehrere Vorteile,
die ihm die Natur gewährt, aufgibt, so erhält er dafür doch so bedeutende
andere Vorteile. Seine Fähigkeiten üben und entwickeln sich, seine Ideen
erweitern, seine Gesinnungen veredeln, seine ganze Seele erhebt sich in
solchem Grade, dass er, wenn ihn die Missbräuche seiner neuen Lage nicht
oft noch unter die, aus der er hervorgegangen, erniedrigte, unaufhörlich
den glücklichen Augenblick segnen müsste, der ihn dem Naturzustande auf
ewig entriss und aus einem ungesitteten und beschränkten Tiere ein
einsichtsvolles Wesen, einen Menschen machte. 39
2.1.4 Konklusion
Welche Erkenntnis lässt sich zu guter Letzt aus der rousseauschen Philosophie in Hinblick
auf die Problematik der Entfremdung ableiten? Natürlich lässt sich das nicht pauschal
beantworten. Einerseits ist deutlich geworden, dass es an der Wahrheit vorbei ginge, ihm zu
unterstellen, dass er die gesellschaftliche Entwicklung umdrehen und zurück zum
38
Rousseau (1998), S. 69
39
Rousseau (1880), Kapitel 8: Das Staatsbürgertum
Annäherung an den Begriff Entfremdung
10
2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
Naturzustand führen wollte. Andererseits lässt sich durchaus das Wort vom Primat der Natur
aufrechterhalten, da Rousseau schließlich alles auf diese von ihm hergeleitete Natur des
Menschen bezieht. Somit ist die Entfremdung eine Entfremdung von dieser Natur und, wenn
man so will, hin zur Vernunft. Dennoch ist die beste Lebensform seiner Ansicht nach
diejenige in einer Gesellschaft, wobei diese nach bestimmten Kriterien funktionieren muss.
Diese werden, ebenso wie ihre Legitimation, im Rahmen der Entwicklung des Konzepts vom
Gesellschaftsvertrag näher dargestellt. Dieser Wandel im Werk von Rousseau lässt sich
durchaus dahingehend interpretieren, dass es ihm zunächst allein um die Kritik der
Verhältnisse ging, er dann aber die Notwendigkeit erkannte, einen Lösungsvorschlag
anzubieten. Zu Letzt bleibt allerdings immer der Bezug auf die Natur und die Verhaftung des
Menschen in dieser Natürlichkeit.
Annäherung an den Begriff Entfremdung
11
2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
2.2 Primat der Vernunft
Auch bei Hegel lassen sich Bezüge zum Thema Entfremdung finden, selbst wenn diese an
der ein oder anderen Stelle unter dem Deckmantel einer anderen Benennung zu suchen sind.
Es ist das zeitkritische Thema der Entzweiung. Für Hegel ist die moderne Zeit dadurch
ausgezeichnet, daß in ihr die Einheit aus dem Leben der Menschen verschwunden ist. Die
allumfassende Einheit des Lebens ist dem modernen Menschen nicht mehr erfahrbar (…). 40
Entzweiung oder eben Entfremdung (…) wird von Hegel zunächst ganz im Geiste
Rousseaus als ein Produkt der Bildung und der Zivilisation gedeutet. 41 Allerdings erschöpft
sich die hegelsche Auffassung über den Begriff nicht in dieser Aussage.
Einleitend kann festgestellt werden, dass die Entfremdung von Hegel zurückgeführt wird auf
eine Uneinheitlichkeit des Bewusstseins mit sich selbst. Diese Uneinheitlichkeit führt dazu,
dass das Individuum nicht mehr in der Lage ist, ein einheitliches Weltbild zu errichten und
aufrecht zu erhalten. Kurz gefasst kann gesagt werden, dass verschiedene Weltbilder
verschiedene Weltverständnisse determinieren. Es lassen sich aber nicht immer alle Aspekte
der unterschiedlichen Weltverständnisse in Einklang miteinander bringen. Folglich kommt es
zum Konflikt zwischen den verschiedenen Verständnissen. Diese Problematik ist für Hegel
keineswegs ein singuläres, sondern ein charakteristisches Merkmal der modernen
Gesellschaft.42
Um diese Zusammenhänge verständlich zu machen ist es notwendig, tiefer in die hegelsche
Philosophie einzusteigen. Zumindest sollen die wesentlichen Eckpunkte, die zu den
angerissenen Erkenntnissen führen, hier erarbeitet werden, um darauf aufbauend
weiterführende Schlüsse zu ziehen. Dazu werde ich, in einem dem Zweck angemessenen
Umfang, die theoretische Begründung erarbeiten.
Die Grundlegungen seines
Theoriegebäudes, auf die ich zurückgreife, sind hauptsächlich in der Phänomenologie des
Geistes und der Wissenschaft der Logik zu finden.
40
Emundts, Dina/Horstmann, Rolf-Peter (2002): G.W.F. Hegel. Eine Einführung. Stuttgart: Reclam, S. 52
41
Ebenda, S. 53
42
Ebenda, S. 52-54
Annäherung an den Begriff Entfremdung
12
2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
2.2.1 Erster Einblick
Beginnen werde ich mit einigen Punkten aus der Phänomenologie des Geistes, die von Hegel
als notwendiges Vorwissen zu seiner Logik verstanden wird, weshalb davon auszugehen ist,
dass die beiden Werke aufeinander aufbauen. Zum Ziel seiner Philosophie lässt sich
allgemein feststellen: Hegels systematische Philosophie muß als der Versuch angesehen
werden, die gesamte Wirklichkeit in allen ihren Erscheinungsformen als Selbstdarstellung
der Vernunft zu begreifen. 43 Der den Ansatz Hegels bestimmende Grundgedanke ist die
Absolutheit der Vernunft, oder wie er es ausdrückt: die Vernunft ist wirklich, und nur das ist
eigentlich wirklich, was vernünftig ist. 44
Bei dieser Prämisse handelt es sich um die primäre Struktur der hegelschen Philosophie, sie
lässt sich in den Begriffen das Absolute oder die Vernunft zusammenfassen.45 All seine
Philosophie muss unter diesem Gesichtspunkt betrachtet werden. Natürlich wird die durch
das Absolute ausgezeichnete Vernunft von ihm noch näher in ihrer Struktur bestimmt, wobei
insbesondere die Überzeugung, dass Denken und Sein eine komplexe Einheit bilden,
hervorgehoben werden kann.46 Als letzte dieser zugrunde gelegten Vorbedingungen kann die
Überzeugung angesehen werden, dass die Wirklichkeit durch die Vernunft konstituiert wird.47
Damit seine Systematik funktionstüchtig ist, hat Hegel den Prozess der Selbsterkenntnis bzw.
Selbstrealisation der Vernunft eingeführt. Dieser ist nötig, da die Vernunft nur auf sich selbst
bezogen verstanden werden kann, was im Umkehrschluss bedeutet, dass die Erkenntnisse der
Vernunft nur auf sich selbst gerichtet sein können. Dies hat wiederum zur Folge, dass ihre
Manifestation als Einheit von Denken und Sein erst durch den Erkenntnisprozess bzw. den
Realisationsprozess tatsächlich verwirklicht wird.
Es ist unschwer zu erkennen, dass es sich hierbei um ein selbstreferenzielles System handelt.
43
Ebenda, S. 32
44
Ebenda, S. 32
45
Dabei handelt es sich nicht um einen, seines Erachtens, tiefergehend zu erklärenden Sachverhalt. Er reiht
sich damit nahtlos in die nachkantische Tradition des Idealismuses ein; diese wird insbesondere durch
Fichte, Schelling repräsentiert. Das hat zur Folge, dass dies als Voraussetzung angenommen wird.
[Emundts/Horstmann (2002), S. 32-35]
46
Emundts/Horstmann (2002), S. 34
47
Ebenda, S. 35
Annäherung an den Begriff Entfremdung
13
2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
Das ist insofern der Fall, als sich die Einzelbestandteile auf die absolute Vernunft zuspitzen
lassen und diese nur durch sich selbst beeinflusst wird. Es ist des Weiteren leicht zu
erkennen, warum der Idealismus hegelscher Ausprägung auch als absoluter Idealismus48
bezeichnet wird. In den Worten Hegels: Das Absolute ist die allgemeine und eine Idee,
welche als urteilend sich zum System der bestimmten Idee besondert. 49
Mit der Gleichsetzung des Absoluten und der Vernunft geht einher, dass wie aus obigem
Zitat deutlich wird die Idee absolut ist. Das erinnert wiederum nicht nur zufällig an Platon
und seine Ideenlehre.50
Die wahrhafte [absolute; N.G.] Idee ist die an und für sich seiende
Allgemeinheit, die nur in dem Gedanken ist, aber nicht das Abstrakte, das
leere absolute Wesen, sondern innerlich in sich so bestimmt, daß die
Negativität zugleich absolut, oder daß die Form sei, aber als unendliche
Form… Sie (d.i. die Idee) besondert sich, bringt sich als anderes ihrer
selbst hervor, verliert sich aber in diesem Anderen nicht, sondern setzt diese
als Nichtanderes und kehrt so in sich zurück. 51
Hierbei handelt es sich um ein an die formallogische Begriffspyramide angelehntes
Verständnis, welches auf den Begriffen des Allgemeinen, Einzelnen und Besonderen 52
basiert. Es geht also vom Allgemeinen über das Einzelne zum Besonderen; so zumindest das
Verständnis bei Platon, auf den das Konzept zurückzuführen ist.53
Das besondere der Interpretation bei Hegel ist, dass die drei Elemente fließend ineinander
übergehen. Sie bilden dabei ein unterschiedenes Ganzes, das in allen Unterschieden es selbst
ist. Es, das Ganze, gleicht sich selbst, ist also mit sich selbst identisch, was zur Folge hat,
dass es sich in der absoluten Idee vereint.54
Es ist festzustellen, dass Hegel selbst bei der Unterscheidung von Einzelnem und
48
Hirschberger, Johannes (2003a): Geschichte der Philosophie. Band II: Neuzeit und Gegenwart. Frankfurt
a.M.: Zweitausendeins, S. 409ff.
49
Ebenda, S. 411
50
Hirschberger, Johannes (2003b): Geschichte der Philosophie. Band I: Altertum und Mittelalter. Frankfurt
a.M.: Zweitausendeins, S. 105
51
Marcieniec, Hans-Günter : Der Begriff der Entfremdung in der Hegel’schen Philosophie
URL: http://www.marcieniec.de/download/hegel.pdf [Stand 13. April 2008], S. 31
52
häufig auch als Gattungsbegriff, Artbegriff und Einzelbegriff bezeichnet; siehe u.a. Marcieniec (1958), S. 31
53
Hirschberger (2003b), S. 106ff.
54
Marcieniec (1958), S. 31-32
Annäherung an den Begriff Entfremdung
14
2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
Besonderem nicht immer vollkommen kohärent vorgegangen ist, sodass der Eindruck
entsteht, dass er hauptsächlich zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelnen
unterscheidet.55 Ich will mir diese Vereinfachung zunutze56 machen, um den Begriff der
Negation der Negation57 näher zu erklären. Die Funktionsweise der Negation der Negation
kann letztlich aus den Ausführungen in der Wissenschaft der Logik entnommen werden.
Alles ist auf die absolute Idee zurückführbar, die sich, allgemein gesagt, mit den Dingen und
den Dingen an sich auseinander setzt; folglich tut sie das auch mit sich selbst.58 Auf die
logische Basis herunter gebrochen heißt das:
Sie [die Idee; N.G.] ist A und zugleich Non-A (oder B). Indem A B
anschaut, wird es sich seiner als A überhaupt erst bewußt. Zugleich aber
hat A auch B als sein eigenes Nichtsein an sich, denn sonst könnte es nicht
A sein. (…) Diese vereinfachte Darstellung einer sehr langen
Auseinandersetzung endet damit, daß A sich schließlich vollkommen in B
anschaut, wie B sich in A. Eines weiß sich im Anderen, so daß sie
schließlich ihre Identität erreichen, die [absolute; N.G.] Idee, oder das
Allgemeine (…). 59
Sei also das Allgemeine A und folglich seine Negation das Einzelne B, so ist die Negation
des Einzelnen B was somit die Negation der Negation ist wiederum das Allgemeine A.
Mit dem Ergebnis, dass dabei, nach Hegel, der Beweis geführt wurde, dass alles in allem ist
und somit alles das Absolute.
2.2.2 Tiefer gehendes Verständnis
Obwohl oftmals davon ausgegangen wird, dass der Geist sich allein auf die absolute Vernunft
bezieht schließlich ist diese, wie oben ausgeführt, bei Hegel alles tatsächlich ist das nicht
55
Hirschberger (2003a), S. 409ff.
56
von Nutzen ist das insbesondere da ich nur noch mit zwei Begriffen arbeiten werde
57
Für den in dieser erarbeiteten Umfang reicht es aus den Begriff der Negation der Negation zu erläutern, es
soll aber angemerkt werden, dass diese die Grundstruktur der hegelschen Dialektik wiedergibt. Diese kann
in aller Kürze mit den Begriffen These, Antithese und Synthese angegeben werden. Natürlich erschöpft sie
sich nicht darin; einen guten Einblick in ihre Verwendung gibt das von mir wiedergegebene.
58
Marcieniec (1958), S. 32
59
Marcieniec (1958), S. 32
Annäherung an den Begriff Entfremdung
15
2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
der Fall. Vielmehr verhält es sich so, dass sich der Geist nach Hegel im Werden, im
Einzelnen, verwirklicht, was immer auch Entfremden impliziert. Daraus folgt auch, dass sich
das Individuum erst durch den Bezug auf das Einzelne verwirklicht. Somit ist das Sein des
Geistes das Bewusstsein.60
Eine solche Darstellung macht (…) den ersten Teil aus, weil das Dasein des Geistes als
erstes nichts anderes als das Unmittelbare oder der Anfang, der Anfang aber noch nicht sein
Rückkehr in sich ist. 61 Obwohl das Ziel die Rückkehr in den Geist das Allgemeine ist,
muss also der erste Schritt die Betrachtung der Abkehr zum Einzelnen von diesem sein. Diese
Abkehr ist das Bewusstsein als unmittelbare Manifestation des Geistes. Das unmittelbare
Dasein des Geistes, das Bewußtsein, hat die zwei Momente des Wissens und der dem Wissen
negativen Gegenständlichkeit. 62 Das Bewusstsein, als einfache Negation des Geistes, hat
demnach schon zwei implizite Wissensbegriffe: einerseits vom Allgemeinen und andererseits
vom Einzelnen. Das Zusammenspiel und Widerstreiten dieser Wissen kann als die Erfahrung
des Bewusstseins gesehen werden.
(…) Erfahrung, die das Bewußtsein macht; die Substanz wird betrachtet,
wie sie und ihre Bewegung sein Gegenstand ist. Das Bewußtsein weiß und
begreift nichts, als was in seiner Erfahrung ist; denn was in dieser ist, ist
nur die geistige Substanz, und zwar als Gegenstand ihres Selbsts. 63
Somit ist das Bewusstsein die Ausgleich suchende Manifestation des Geistes, der nur durch
diesen Vorgang überhaupt als komplett und in sich geschlossen gesehen werden kann. Der
Geist wird aber Gegenstand, denn er ist diese Bewegung, sich ein anderes, d.h. Gegenstand
seines Selbsts zu werden, und dieses Anderssein aufzuheben. 64 Die Erfahrung ist der Prozess
dieser Bewegung und damit auch das, was wir mit Entfremdung bezeichnet haben.
Und die Erfahrung wird eben diese Bewegung genannt, worin das
Unmittelbare, das Unerfahrne, d.h. das Abstrakte, es sei des sinnlichen
Seins oder des nur gedachten Einfachen, sich entfremdet, und dann aus
60
Meyer (1984), S. 93
61
Hegel, G.W.F. (2004): Phänomenologie des Geistes URL:
http://www.scribd.com/doc/884414/Phaenomenologie-des-Geistes-by-Georg-Wilhelm-Friedrich-Hegel
[Stand 13. April 2008], S. 20
62
Ebenda, S. 20
63
Ebenda, S. 20
64
Ebenda, S. 20
Annäherung an den Begriff Entfremdung
16
2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
dieser Entfremdung zu sich zurückgeht, und hiermit sitzt erst in seiner
Wirklichkeit und Wahrheit dargestellt wie auch Eigentum des Bewußtseins
ist. 65
Der Vorgang des Entfremdens, mithin des Erfahrens, ist notwendig. Ohne ihn wäre es nicht
möglich, dass der Geist sich fortentwickelte.
Die Ungleichheit, die im Bewußtsein zwischen dem Ich und der Substanz,
die sein Gegenstand ist, stattfindet, ist ihr Unterschied, das Negative
überhaupt. Es kann als der Mangel beider angesehen werden, ist aber ihre
Seele oder das Bewegende derselben (…). Wenn nun dies Negative zunächst
als Ungleichheit des Ichs zum Gegenstande erscheint, so ist es ebensosehr
die Ungleichheit der Substanz zu sich selbst. 66
Ich ist hier synonym zum Geist zu verstehen; Substanz zu Bewusstsein. Folglich besteht die
Möglichkeit der Uneinheitlichkeit des Bewusstseins mit sich selbst, was nach dem bislang
Erarbeiteten nur als ein reflexives Selbst Selbstbewusstsein, d.h. Bewusstsein vom
Bewusstsein bezeichnet werden kann.
2.2.3 Der darüber hinausgehende Rahmen
Das Bewußtsein wird sein Verhältnis zum Anderssein oder seinem Gegenstande auf
verschiedene Weise bestimmen, je nachdem es gerade auf einer Stufe des sich
bewußtwerdenden Weltgeistes steht. 67 Trotz allen Anklangs in Richtung Individualisierung
und Individuum muss immer im Hinterkopf behalten werden, dass es Hegel um den
Nachweis geht, dass der Geist Anfang und Ende von allem ist. (…) So ist es das allgemeine
Individuum, welches nicht nur als frei von jeder Gliederung der Gattung, sondern auch als
ihre Macht zu betrachten ist. 68 Zwar ist die individuelle Bewusstseinsbildung notwendig
und unumgänglich, aber letztlich führt auch sie nur zu allgemeineren, geistigen
Erkenntnissen, sodass die Abstraktion des Individuums nur noch als Teil des Allgemeinen
65
Ebenda, S. 20
66
Ebenda, S. 21
67
Hegel (2004), S. 103
68
Ebenda, S.
Annäherung an den Begriff Entfremdung
17
2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
gesehen werden kann. Dieses allgemeine Individuum ist Teil des Geistes.
Die Verallgemeinerung des Geistes wiederum ist der Weltgeist, da sich erst in diesem das
Absolute verwirklicht. Eh daher der Geist nicht an sich, nicht als Weltgeist sich vollendet,
kann er nicht als selbstbewußter Geist seine Vollendung erreichen. 69 So ist dann auch bei
der Betrachtung des Individuums das allgemeine Individuum im Endeffekt gleichzusetzen
mit dem Weltgeist. Die Aufgabe aber, das Individuum von seinem ungebildeten Standpunkte
aus zum Wissen zu führen, war in ihrem allgemeinen Sinn zu fassen, und das allgemeine
Individuum, der Weltgeist, in seiner Bildung zu betrachten. 70
Die Rückführbarkeit auf den (Welt-)Geist ist gewissermaßen allumfassend. Wie schon vorab
ausgeführt wurde, ist der Geist, die Vernunft, eine von Hegel angenommene Vorbedingung,
die seines Erachtens durch die anderen Vertreter des Idealismus ausreichend begründet wurde
und deshalb von ihm nicht mehr belegt werden muss. So kommt er dann auch zu dem
Schluss: Das unmittelbare An-sich des Geistes, der sich die Gestalt des Selbstbewußtseins
gibt, heißt nichts anderes, als daß der wirkliche Weltgeist zu diesem Wissen von sich gelangt
ist; dann erst tritt dies Wissen auch in sein Bewußtsein, und als Wahrheit ein. 71
Die Absolutheit des Geistes ermöglicht es auch, dass der Ansatz auf jeden erdenklichen
Bereich angewendet werden kann. Besonders hervorzuheben sind dabei die folgenden
übergeordneten Bereiche Religion, Natur, Geschichte und Staat. Bezüglich der Religion lässt
sich sagen, dass Hegel den absoluten Geist mit Gott gleichgesetzt hat. Gott ist der absolute
Geist, d.h. er ist das reine Wesen, das sich zum Gegenstande macht, aber darin nur sich
selbst anschaut; oder in seinem Anderswerden schlechthin in sich selbst zurückkehrt und sich
selbst gleich ist. 72 So gibt es dann auch Stellen, die quasi einen Grundriss der
Schöpfungsgeschichte, aus hegelscher Sicht natürlich, der Bibel bieten:
Der also nur ewige oder abstrakte Geist wird sich ein Anders oder tritt in
das Dasein und unmittelbar in das unmittelbare Dasein. Er erschafft also
eine Welt. Dieses Erschaffen ist das Wort der Vorstellung für den Begriff
selbst nach seiner absoluten Bewegung, oder dafür, daß das als absolut
69
Ebenda, S.
70
Ebenda, S.
71
Ebenda, S.
72
Meyer (1984), S. 104
Annäherung an den Begriff Entfremdung
18
2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
ausgesagte Einfache oder reine Denken, weil es das abstrakte ist, vielmehr
das Negative und hiermit sich Entgegengesetzte oder Andre ist; oder weil,
um dasselbe noch in einer andern Form zu sagen, weil das als Wesen
gesetzte die einfache Unmittelbarkeit oder das Sein ist, aber als
Unmittelbarkeit oder Sein des Selbsts entbehrt und also, der Innerlichkeit
ermangelnd, passiv oder Sein für Anderes ist. Dies Sein für Anderes ist
zugleich eine Welt; der Geist in der Bestimmung des Seins für Anderes ist
das ruhige Bestehen der vorhin in das reine Denken eingeschlossenen
Momente, also die Auflösung ihrer einfachen Allgemeinheit und das
Auseinandergehen derselben in ihre eigne Besonderheit. 73
Somit ist zwar klar, dass die anderen Begriffe letztlich auch in Gott, also dem absoluten
Geist, aufgehen, aber dennoch soll ein kurzer Blick auf diese Besonderheiten des
Allgemeinsten geworfen werden. Bezüglich der Natur lässt sich feststellen, dass sie die
absolute Idee in der Gestalt des Anderssein überhaupt ist 74 Sie ist die Erschaffung
Gestaltwerdung einer Welt. Oder anders formuliert, ist der Geist das Hervorgehen
vermittels der Natur, d.h. er hat an ihr seinen Gegensatz durch dessen Aufhebung er für sich
und Geist ist. 75 Aus diesem Blickwinkel betrachtet ist die Natur der größtmögliche
Gegensatz zur reinen Vernunft, ohne aber in dem allumfassenden Zusammenhang des Geistes
komplett von der Vernunft getrennt zu sein.
Das Geschäft der Geschichte ist nur, daß die Religion als menschliche Vernunft erscheine,
daß das religiöse Princip, das den Herzen der Menschen inwohnt, auch als weltliche Freiheit
hervorgebracht werde. 76 Damit ist die Geschichte eben kein autonomer Bereich, sondern
Gestaltung des Geistes in Form des Geschehens. 77 Es wird deutlich, dass auch Geschichte
Teil des Weltgeistes ist und sein muss; von besonderem Interesse ist aber der direkte Bezug
der Geschichte zu Gott. So sieht Hegel: In der Geschichte des Inhalts Gottes (…) wesentlich
auch die Geschichte der Menschheit. 78
Zu guter Letzt noch eine Betrachtung der hegelschen Vorstellung vom Staat: Auch diese kann
73
Hegel (2004), S. ;Hervorhebung nicht im Orginal
74
Meyer (1984), S. 106
75
Ebenda, S. 106
76
Ebenda, S. 106-107
77
Ebenda, S. 106
78
Ebenda, S. 106
Annäherung an den Begriff Entfremdung
19
2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
wieder unmittelbar auf die Religion zurückgeführt werden. Insbesondere fällt seine
grundlegende Überzeugung zur Zwangsläufigkeit des Staates auf, es sei nämlich der Gang
Gottes in der Welt, daß der Staat ist: sein Grund ist die Gewalt der sich als Wille
verwirklichenden Vernunft. 79 Dabei sieht er die Religion als Bewahrer der Freiheit, da das
sittliche Recht im Staate nur die Ausführung dessen ist, was das Grundprinzip der Religion
ausmacht. 80
2.2.4 Konklusion
Wie sich letzten Endes herausgestellt hat, ist bei Hegel alles reine Vernunft; also der absolute
Geist, der Gott ist. Die selbstreferenzielle Geschlossenheit dieses Systems macht es in sich
logisch und stabil; einschränkend kann allerdings bemerkt werden, dass die Voraussetzungen
nicht der traditionellen Logik entsprechen und deshalb vielfach als falsch angesehen
79
Ebenda, S. 107
80
Ebenda, S. 107
Annäherung an den Begriff Entfremdung
20
2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
werden81. Zudem gilt sein Werk als eines der kompliziertesten überhaupt82.
Trotz dieser zumindest nach herkömmlichen Maßstäben falschen Logik können seinem Werk
dennoch, wenn auch nur auf einer rein theoretischen Ebene, mancherlei Erkenntnis
abgewonnen werden. Oder in den Worten eines seiner Kritiker: Das [die Grundlegung der
Logik, N.G.] war ein Irrtum, und auf diesem Irrtum baute sich das ganze imponierende
Gebäude seines Systems auf. Hier zeigt sich eine bedeutsame Wahrheit: Je fehlerhafter die
Logik, um so interessanter die sich aus ihr ergebenden Konsequenzen. 83
Kommen wir zurück zu einer dieser Konsequenzen und zum Ausgangspunkt meiner
Erläuterung, der Entfremdung die aus der Uneinheitlichkeit des Bewusstseins entsteht. Dazu
muss nochmals gesagt werden, dass das Bewusstsein Ausdruck des Geistes ist. Der Geist
kann synonym verstanden werden zu dem Absoluten oder der Vernunft, mithin also mit dem
Allgemeinen oder der Idee. Die Entfremdung entsteht, wie festgestellt wurde, aus dem
Konflikt zwischen verschiedenen Weltverständnissen, die notwendig sind, um die
81
Das folgende Beispiel soll (…) zur Erläuterung der Dialektik dienen (…). Als erstes sagen wir: Die
Wirklichkeit ist ein Onkel. Das ist die Thesis. Aber die Existenz eines Onkels schließt die eines Neffen ein.
Da nichts wirklich ist außer dem Absoluten und wir uns nun der Existenz eines Neffen gegenüber sehen,
müssen wir schließen: Das Absolute ist ein Neffe. Das ist die Antithesis. Aber hier muß der gleiche Einwand
gemacht werden wie bei der Ansicht, das Absolute sei ein Onkel; so kommen wir zwangsläufig zu der
Ansicht, daß das Absolute das aus Onkel und Neffe zusammengesetzte Ganze ist. Das ist die Synthesis. Aber
diese Synthesis befriedigt noch nicht, da ein Mann nur dann Onkel sein kann, wenn er einen Bruder oder
eine Schwester hat, deren Sohn der Neffe ist. Wir müssen also unser Universum so erweitern, daß es den
Bruder und seine Frau oder eine Schwester mit ihrem Mann einbegreift. Auf diese Weise, heißt es, gelangen
wir allein mit Hilfe der Logik von jedem beliebigen Prädikat des Absoluten zum letzten Schluss der
Dialektik, zur sogenannten absoluten Idee. Dem ganzen Vorgang liegt durchweg die Voraussetzung
zugrunde, daß nicht wirklich wahr sein kann, was sich nicht auf die Wirklichkeit als Ganzes bezieht. Diese
Voraussetzung wurzelt in der traditionellen Logik, die davon ausgeht, daß jeder Satz ein Subjekt und ein
Prädikat besitzt. Nach dieser Auffassung besteht jedes Faktum aus etwas, das eine Eigenschaft hat. Daraus
folgt, daß Beziehungen nicht wirklich sein können, da sie zwei Dinge und nicht nur ein Ding voraussetzen.
Onkel ist eine Beziehung, und ein Mann kann Onkel werden, ohne es zu wissen. In diesem Fall bleibt der
Mann, empirisch gesehen, unbeeinflusst davon, daß er Onkel wird; er hat keine Eigenschaft, die er nicht
zuvor besessen hätte, wenn wir unter Eigenschaften etwas verstehen, das nötig ist, um ihn so zu beschreiben,
wie er an sich ist, abgesehen von seine Beziehungen zu anderen Leuten und Dingen. Bei Anwendung der
Subjekt-Prädikat-Logik diese Schwierigkeiten zu umgehen, ist allein unmöglich, wenn man sagt, daß die
Wahrheit eine Eigenschaft nicht nur des Onkels oder nur des Neffen, sondern des aus Onkel und Neffen
bestehenden Ganzen ist. Da alles mit Ausnahme des Ganzen Beziehungen zu äußeren Dingen hat, so folgt
daraus, daß nichts ganz Wahres über einzelne Dinge ausgesagt werden kann und daß tatsächlich nur das
Ganze wirklich ist. Dies ergibt sich direkt aus dem Faktum, daß A und B sind zwei kein Subjekt-Prädikat-
Satz ist; deshalb kann es nach der traditionellen Logik einen solchen Satz nicht geben. Deshalb kann es
auch immer nur weniger als zwei Dinge auf der Welt geben; und deshalb ist allein das Ganze, als Einheit,
wirklich. [Russell (2007), S. 740-741]
82
vgl. etwa Russell (2007), S. 738
83
Russell (2007), S. 752
Annäherung an den Begriff Entfremdung
21
2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
dazugehörigen Weltbilder zu erzeugen. Keine Entfremdung wäre demnach ausschließlich für
den Fall eines einheitlichen Weltbildes zu erwarten.
Die verschiedenen im Konflikt zueinander stehenden Weltbilder können als dem Einzelnen
zugehörig verstanden werden; genau genommen als verschiedene Einzelne, die noch nicht
wieder im Allgemeinen aufgegangen sind. Dies kann durch die Negation der Negation
überwunden werden, denn sie ist diese sich wiederherstellende Gleichheit oder die
Reflexion (d.i. das Zurückkehren) im Anderssein in sich selbst. 84 Sie stellt also sicher, dass
alles auf das letzte Ziel, die Vernunft, bezogen wird. Denn die Vernunft hat damit das ihr
Fremde hinweggearbeitet, hat das Besondere [das Einzelne, N.G.] in sich zurückgenommen,
hat die ’Entfremdung überwunden’. 85
84
Marcieniec (1958), S. 33
85
Ebenda, S. 33
Annäherung an den Begriff Entfremdung
22
2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
2.3 Weiterführende Erkenntnisse
Weder der rousseausche noch der hegelsche Ansatz zur Entfremdung sind unumstritten.
Mögliche Punkte, an denen die Kritik ansetzt, habe ich bereits angesprochen. Natürlich sind
das bei Weitem nicht alle gewesen, da für eine umfassende Kritik der Umfang dieser Arbeit
auch nicht ausreichend ist und es vorrangig um die Erschließung der theoretischen
Grundlagen ging. Bevor Rückschlüsse aus den beiden im extremen Gegensatz zueinander
stehenden Theorien gezogen werden, soll in diesem Kapitel auf Rousseau und Hegel
folgende Theoretiker und Theorien eingegangen werden. Insbesondere auch weil das die
weiterführende Analyse erleichtern wird.
2.3.1 Materialismus
Im Anschluss an und in Konfrontation zu Hegel entwickelte sich der Materialismus. Bis es zu
dem in der heutigen Zeit mit Materialismus verbundenen Verständnis kam, mussten aber auch
in dieser Denkrichtung zunächst Kämpfe ausgetragen werden.
2.3.1.1 Feuerbach oder Wege zum Materialismus
Als einer seiner Vorreiter kann Ludwig Feuerbach (1804-1872) gesehen werden, der Hegel
schon in frühen Jahren kritisierte, (gesehen werden). Dabei stieß er sich insbesondere an dem
Absoluten, denn dies (…) sei nichts anderes als der Abgeschiedene Geist der Theologie, der
in Hegels Philosophie umgehe. 86 Insbesondere seine Einseitigkeit in Richtung der Vernunft
ist der grundlegende Kritikpunkt. Feuerbachs Ziel war die Hervorhebung des Sinnlich-
Materiellen, das er von Hegel nur als Begriff verstanden sieht. So lautet seine These: In
Wirklichkeit ist alle Existenz nicht begrifflich, sondern sinnlich zu verstehen. 87
Der Geist wird demzufolge durch den Leib beeinflusst, sodass es heißen müsste Leib-Geist-
Bewusstsein statt, wie bei Hegel, Geist-Bewusstsein-Leib. Daraus folgt: das Unendliche der
86
Hirschberger (2003b), S. 470
87
Ebenda, S. 470
Annäherung an den Begriff Entfremdung
23
2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
Religion ist in Wirklichkeit nichts anderes als ein Endliches, Sinnliches, Bestimmtes; aber
mystifiziert. 88 Die Religion als übergeordnete Instanz ist in Folge dessen abzulehnen. Es
kommt zu Umkehrschluss nach dem das Menschliche das Göttliche ist 89, oder anders
gesagt, das Absolute ist der Mensch.90
2.3.1.2 Dialektischer Materialismus
Feuerbach war der Schrittmacher für Karl Marx (1818 1883), der zusammen mit
Friedrich Engels [1820 1895; N.G.] der eigentliche Begründer des historischen und
dialektischen Materialismus ist. 91 Allerdings war Marx mit der Interpretation Feuerbachs
alles andere als einverstanden: insbesondere seinen Elf Thesen über Feuerbach 92 lässt sich
diese Kritik entnehmen. Zwar habe Feuerbach die religiöse Vorstellungswelt in ihre
sinnlichen Elemente aufgelöst, er habe es aber des Weiteren versäumt, den Materialismus zu
Ende zu denken.
Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus den Feuerbachschen
mit eingerechnet ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit,
nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird; nicht
aber als menschlich sinnliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv. Daher
geschah es, daß die tätige Seite, im Gegensatz zum Materialismus, vom
Idealismus entwickelt wurde aber nur abstrakt, da der Idealismus
natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt. 93
Zwei Dinge kann man aus diesem Ausschnitt der ersten These mehr als deutlich herauslesen:
Erstens, dass laut Marx der Materialismus bzw. die ihn entwickelnden Philosophen zu
diesem Zeitpunkt den Fehler begangen hat, dass er eine rein theoretische Konstruktion
88
Ebenda, S. 471
89
Ebenda, S. 471
90
homo homini deus [Hirschberger (2003b), S. 471]
91
Hirschberger (2003b), S. 472
92
Engels, Friedrich (1968): Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie.
Berlin: Dietz, S. 73-78
93
Ebenda, S. 73
Annäherung an den Begriff Entfremdung
24
2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
darstellt, womit seine Brauchbarkeit allein auf die bürgerliche Gesellschaft beschränkt ist. Im
marxschen Sinne der praktischen Anwendung und Verwendbarkeit der Theorie ist das Ziel
jedoch darüber hinausgehend, nämlich die Abschaffung der bürgerlichen Gesellschaft.
Insofern gipfelt seine Kritik in der elften These, die lautet: Die Philosophen haben die Welt
nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern. 94
Zweitens kann festgestellt werden, dass Marx die Rückschlüsse des Idealismus zwar
ablehnte, nichts desto trotz aber der Meinung war, dass dieser in Teilen etwa bei der
Betrachtung der Tätigkeit weiter durchdacht wurde als der bisherige Materialismus.
Insbesondere die Methode der Dialektik hält er für richtig. So kommt er zu dem Schluss:
Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegelschen
nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil. Für Hegel ist der
Denkprozeß, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges
Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere
Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts anderes als das
im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle. 95
Er hält die komplette Ablehnung Hegels für eine, zumindest bezügliche der Methode, falsche
und dazu allein vom Zeitgeist angetriebene Modeerscheinung und bekannte sich daher
offen als Schüler jenes großen Denkers (…).96 Er bezeichnet sich aber selbst als
umgestülpten Hegelianer, denn Dialektik steht bei ihm auf dem Kopf. Man muß sie
umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken. 97
2.3.1.3 Entfremdung bei Marx
Der Ursprung der Entfremdung liegt nach Karl Marx im Ökonomischen; erst aus den
wirtschaftlichen Verhältnissen resultieren die zwischenmenschlichen.98 Insbesondere in den
Ökonomisch-philosophischen Manuskripten arbeitet er sein Verständnis der Entfremdung
aus. Dabei unterscheidet die folgenden vier Sphären99 der Entfremdung:
94
Ebenda, S. 78
95
MEW 23, S. 27
96
MEW 23, S. 27
97
MEW 23, S. 27
98
Meyer (1984), S. 125
99
Ebenda, S. 124-125
Annäherung an den Begriff Entfremdung
25
2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
1. Das Arbeitsprodukt als eine dem Arbeiter fremde, unabhängige Macht.
2. Die produzierende Arbeit als an sich entfremdet Betätigung.
3. Zudem entfremdet die Arbeit den Menschen von seiner Natur.
4. Daraus resultiert die Entfremdung des Menschen von den Menschen. 100
Einerseits lässt sich leicht erkennen, in welchem Ausmaß der Ökonomie Gewicht zugeordnet
wird. Speziell die letzten beiden Punkte verdeutlichen, dass die marxsche Auffassung von
Entfremdung in direktem Zusammenhang zu der Philosophie Rousseaus zu sehen ist; und
eben nicht nur zu der von Hegel.
2.3.1.4 Konklusion
Vereinfacht gesagt ist der Materialismus die Umkehrung des Idealismus. Die dazugehörige
Argumentation wurde hier kurz wiedergegeben. Bezüglich der Entfremdung wurde
festgestellt, dass sie als Entfremdung durch die ökonomischen Verhältnisse verstanden
werden kann. Zudem wird durch Marx die Praxistauglichkeit der Theorien gefordert; diese
dürfen nicht nur die Möglichkeit zur Interpretation der Wirklichkeit liefern, sie müssen auch
zu tatsächlichen sozialen Veränderungen führen können. Da nur dann Veränderung, im Sinne
des Überkommens alter Strukuren, möglich sind. Dabei ist maßgeblich, dass es Marx nicht
auf allein auf das alleinige Verändern dieser Strukturen ankommte, sondern er einen Weg für
deren totale Abschaffung, durch Revolution, sucht. Dadurch ergibt sich nämlich erst die
Möglichkeit neue gerechtere und ausgewogenere Strukturen zu schaffen.
2.3.2 Exkurs: Doppelte Vergesellschaftung
Die Theorie der doppelten Vergesellschaftung101 kann als Neben- bzw. Endprodukt des
Gedankengangs, dass klassische (soziologische) Theorien nur prinzipiell geschlechtsneutral
100
Ebenda, S. 125
101
die Theorie ist erstmals bekannt geworden als Hannoveraner Ansatz [Morel, Bauer u.a. (2001):
Soziologische Theorie. Abriß der Ansätze ihrer Hauptvertreter. 7. Auflage. München: Oldenbourg, S. 268]
Annäherung an den Begriff Entfremdung
26
2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
konzipiert sind, verstanden werden. Der Hannoveraner Ansatz wird auch als Theorie der
doppelten Vergesellschaftung der Frau gesehen. Als die Hauptvertreterinnen der Theorie
können Regina Becker-Schmidt, die den Ansatz auch 1985 eingeführt und in der Folge
bekannt gemacht hat,102 und Gudrun-Axeli Knapp gesehen werden.
Die Grundzüge des Ansatzes können wie folgt zusammengefasst werden. Vergesellschaftung
hat einen Doppelcharakter: Sie beruht nicht nur auf (vermeintlich) geschlechtsneutralen
sozialen (Produktions-)Verhältnissen, sondern erfolgt zugleich im Rahmen von
Geschlechterbeziehungen 103 und die diese regelnden Geschlechterverhältnisse 104, wobei
beide Dimensionen der Vergesellschaftung in Wechselbeziehung miteinander stehen.
Der Wahrheitsgehalt der Einschätzung, dass Geschlechterbeziehungen und -verhältnisse bei
der Betrachtung der Gesellschaft mit zu berücksichtigen sind, ist unmittelbar einsichtig. Es
soll weiterhin festgehalten werden, dass in besondere in den klassischen aber auch in vielen
modern zu nennenden sozialwissenschaftlichen Theorien dieser Aspekt unberücksichtigt
geblieben ist. Speziell das vorherrschende patriarchalische Welt- und Menschenbild kann
dafür verantwortlich gemacht werden.105
Als problematisch kann die einseitige Orientierung der Theorie als doppelte
Vergesellschaftung der Frau gesehen werden. Zwar ist hier anzumerken, dass es laut ihrer
Vertreterinnen auch eine derartige Vergesellschaftung des Mannes gäbe, diese sei aber zu
vernachlässigen. Insofern taugt die Theorie nur bedingt als universelle Erweiterung;
verdeutlicht jedoch zum wiederholten Male, mit dem speziellen Bezug zur Genus-Gruppe
Frau, dass viele klassische Theorien äußerst einseitig ausgelegt sind.
102
Becker-Schmidt, Regina (1987): Die doppelte Vergesellschaftung die doppelte Unterdrückung:
Besonderheiten der Frauenforschung in den Sozialwissenschaften. In: Unterkirchner, Lilo/ Wagner, Ina
(Hg.): Die andere Hälfte der Gesellschaft. Soziologische Befunde zu geschlechtsspezifischen Formen der
Lebensbewältigung. Österreichischer Soziologentag 1985. Wien: ÖGB-Verlag, S, 10-25
103
… sind alle Beziehungen zwischen Männern und Frauen, … persönliche und sachliche, solche des
Austausches (von Arbeit, Leistungen, Bedürfnisbefriedigung) und solche des Ausschlusses (von Räumen,
Praxisfeldern, Ressourcen, Ritualen) [Morel (2001), S. 271]
104
… bezeichnen das ganze Feld der Regelungen, Machtverhältnisse, denen die Geschlechterbeziehungen
unterliegen, sowie die Muster ihrer Legitimation. Der Vorstellungsinhalt schließt dabei auch die
Ordnungsprinzipien ein, durch die die beiden Genus-Gruppen (Männer und Frauen als sozial konstituierte
Gruppen) gesellschaftlich zueinander in Verhältnis gesetzt werden, nämlich: Trennung und
Hierarchisierung oder Egalität und Komplementarität . Das Geschlechterverhältnis bestimmt daher auch
die soziale Position bzw. Funktion, den sozialen Status bzw. die Ausstattung, die Ressourcen und die soziale
Macht sowie das Ausmaß der sozialen Wertschätzung der Genus-Gruppe. [Morel (2001), S. 271-272]
105
Becker-Schmidt, Regina/Knapp, Gudrun-Axeli (2007): Feministische Theorie zur Einführung. 4. Auflage,
Hamburg: Junius, S. 14ff.
Annäherung an den Begriff Entfremdung
27
2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
Versteht man diese Feststellung nicht ganz so einseitig, lassen sich daraus für uns interessante
Konsequenzen folgern. Zusammenfassend lassen sich die Konsequenzen mit dem Begriff
(soziale) Rolle. Dabei kann etwa zwischen Rollenbildern Mann und Frau unterschieden
werden, oder aber, zwischen Rollenaufgaben bzw. -anforderungen aus den Bereichen der
Produktions- bzw. der Reproduktionsverhältnisse. Letzteres kann, meines Erachtens, auf
beide Genus-Gruppen angewendet werden; wenn auch mit Unterschieden, die es aber auch
interindividuelle gibt.106
106
vgl. Esser Bd. 5, S. 143ff. und Esser Bd. 6, S. 415ff.
Annäherung an den Begriff Entfremdung
28
Opposition von Natur und Kultur?
3 Resümee
Im Anschluss an das letzte Kapitel kann festgestellt werden, dass der Umfang dieser Arbeit
nicht ausreicht, um die bearbeitete Problematik umfassend darzustellen, zumal nicht davon
ausgegangen werden kann, dass durch Rousseau und Hegel jede mögliche Interpretation des
Thematik abgedeckt ist. Gewisse Schwächen wurden schon im abschließenden Kapitel
angeschnitten. Im Folgenden soll das bisher Erarbeitete kurz zusammengefasst werden.
Bezüglich Rousseau lässt sich das Fazit ziehen, dass dieser dem Anspruch gerecht wird, als
Vertreter des und Streiter für den Primaten der Natur zu gelten. Einschränkend kann
allerdings gesagt werden, dass es sich dabei um eine, auch seiner Meinung nach, theoretische
Konstruktion handelt. Innerhalb dieses Konstruktes lässt sich allerdings alles auf den
Ursprung in der Natur zurückführen. Auch wenn dies im Rahmen des Gesellschaftsvertrages
häufig wie auf Vernunft basierend erscheint, geht es letztlich doch darum, dass die Rechte,
Freiheit und Gleichheit des Naturzustandes bestmöglich umgesetzt in den vergesellschafteten
Zustand übertragen werden. Dabei geht ihm insbesondere auch um die Gefühle der
Menschen im Naturzustand oder anders gesagt darum, dass diese Gefühlswelt in der
Zivilisation zu Unzufriedenheit führen würde, wenn nicht ein Verfahren verwendet wird, dass
diese negativen Folgen verhindert. Rousseaus Kritik setzt dann auch direkt an den bisher
entwickelten Verfahrensweisen an, die er für fehlerhaft hält. Seine Theorie soll diese Fehler
früherer Theorien beheben. Das lässt sich insbesondere auch von der Entfremdung, die als
Entfremdung von der Natur des Menschen versteht, sagen. Die Frage nach der Opposition
von Natur und Kultur betreffend verhält es sich so, dass sich diese Problematik zirkulär
auflöst. Konkret heißt das: es geht letztlich darum, eine Kultur entsprechend der
menschlichen Natur zu schaffen.
Das Phänomen des zirkulären Schlusses trifft auch auf die Theorie Hegels zu. Ihr
Ausgangspunkt ist die Absolutheit der Vernunft das Allgemeine; eine Prämisse die nach
Hegel nicht einmal mehr bewiesen werden muss. Sein Ziel ist es nachzuweisen, dass alles
Annäherung an den Begriff Entfremdung
29
3 Resümee
Opposition von Natur und Kultur?
unter diesem Allgemeinen subsumiert werden kann. Dabei kennt er auch eine individuelle
Komponente: das Einzelne. Der Prozess der Selbstrealisation ermöglicht es, dass die
Einzelaspekte der Vernunft wieder in deren Ganzheit überführt werden. Dieser Prozess ist bei
ihm das Bewusstsein; bei der auf das Bewusstsein gerichteten Betrachtung des Bewusstseins
folgerichtig das Selbstbewusstsein. Das Ziel des Prozesses ist, wieder im Geist, der dem
Bewusstsein als das Allgemeine übergeordnet ist, aufzugehen. Die größtmögliche
Verallgemeinerung, der allem gemeinsame Nenner, ist der Weltgeist; dieser kann in Diktion
Hegels auch als Gott bezeichnet werden. Die von ihm entwickelte Systematik ist die
Dialektik, bestehend aus These, Antithese und Synthese. Sie hat prozessualen Charakter, was
ihm etwa die dialektische Herleitung eines Staats- oder Naturbegriffs ermöglicht. Diese
lassen sich aber immer auf die von ihm dialektisch hergeleitete Religion zurückführen, was
zu einer gewissen, wenn auch in sich logischen, Einseitigkeit führt. So ist es nicht
verwunderlich, dass die erste und heftigste Kritik an seinem System an diesem Punkt
ansetzte. Entfremdung ist laut Hegel das Abweichen vom Absoluten; also der
transzendentalen Vernunft Gottes. Der in der Dialektik enthaltene Lösungsansatz zur
Überwindung der Entfremdung ist die Negation der Negation. Es wird aber auch deutlich,
dass die Entfremdung unumgänglich ist, da sie Bestandteil der Selbsterkenntnis des
Absoluten ist. Bei Hegel geht letzten Endes alles darin auf, sodass es keine Opposition von
Natur und Kultur geben kann; beides ist ja Teil eines Ganzen.
In der Entwicklung hin zum Materialismus sollte gerade die religiöse Komponente der
hegelschen Philosophie revidiert werden. Der Ansatz, um dies zu begründen, war der Bezug
zum Sinnlich-Materiellen, weswegen es zu einer parallelen Entwicklung von Sensualismus
und Materialismus kam. Eine in diesem Umfeld lebende und denkende Persönlichkeit habe
ich vorgestellt: Ludwig Feuerbach. Er erhob den Menschen in den Bereich des Göttlichen
und machte ihn zu Maßstab aller weiteren Überlegungen.
Daran anschließend kann die Entwicklung des (dialektischen) Materialismus durch Karl
Marx und Friedrich Engels gesehen werden. Sie teilten die Ablehnung bezüglich Hegels
Beurteilung des Absoluten, verwarfen aber ebenso die durch Feuerbach vertretene These der
Absolutheit ab, da auch diese nur dazu geführt hatte, ein theoretisierendes Gedankenspiel zu
schaffen. Insbesondere Karl Marx forderte aber eine Philosophie bzw. Philosophen die
Annäherung an den Begriff Entfremdung
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3 Resümee
Opposition von Natur und Kultur?
auch den Anspruch haben sollte, reale Veränderungen hervorzurufen. Dabei kehrte er die
dialektische Methode Hegels ins Gegenteil um, sodass nach Marx das Materielle der
Ursprung und das letzte Ziel ist. Im Anschluss an diese Veränderung der Dialektik
entwickelte er sein sozial-ökonomisches Gesellschaftssystem. Dabei ist er insbesondere auch
auf den Punkt der Entfremdung eingegangen, welche ihm zufolge ihren Ursprung im Bereich
des Ökonomischen zu haben schien; erst im Anschluss daran lassen sich auch ihre
zwischenmenschlichen Aspekte entwickeln.
Zur Verdeutlichung gerade auch der einseitigen ökonomischen Betrachtung wurde ein
kurzer Abriss der doppelten Vergesellschaftung gegeben. Der Ansatz stellt in erster Linie
heraus, dass auch die Geschlechterbeziehungen und -verhältnisse zu beachten sind; im
übergeordneten Sinne macht er zudem deutlich, dass eine derart eindimensionale Betrachtung
gesellschaftlichen Zusammenlebens und Interagierens nicht möglich ist. Der Exkurs endet
deshalb auch mit einem Verweis auf den Begriff der soziale Rolle, was als Hinweis darauf zu
verstehen ist, wie es möglich sein könnte, von der philosophischen Debatte über
Entfremdung Natur und Kultur zu einem praxisnahem Analyseinstrumentarium zu
kommen.
Schließlich muss ich resümieren, die Erkenntnis gewonnen zu haben, dass es entscheidend
ist, auf welcher Grundlage ein System aufbaut. So haben sowohl Rousseau als auch Hegel
ausgehend von ihren Überzeugungen eine Systematik entwickelt. Beide haben sich dadurch
letzten Endes in ihren Überzeugungen selbst bestätigt. Nichts desto trotz, sind die daraus
entwickelten Systeme nicht in ihrer Gänze falsch, der jeweilig mögliche Erkenntnisgewinn
ist, wie ich hoffentlich zeigen konnte, enorm.
Daraus lassen sich mehrere Schlussfolgerungen ableiten. Zum einen ist es, wenn man nur
genügend abstrahiert, gleichgültig, ob der Vorrang in der Natur oder der Kultur gesehen wird.
Erst genanntes wird üblicherweise aus einer anthropologischen Sichtweise erarbeitet,
insbesondere mit Bezug der Entwicklung des Menschen weg von Instinktiv-animalischen-
Wesen zum Menschen; letzteres wird meist mit der Veranlagung des Menschen zur Vernunft
hergeleitet. Zum anderen muss der häufig angestrebte Universalitätscharakter solcher
Theorien, zumindest in Hinsicht auf ihre praktische Verwendbarkeit, aufgebrochen werden.
Annäherung an den Begriff Entfremdung
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3 Resümee
Opposition von Natur und Kultur?
Offensichtlich kann das durch weitere Differenzierung und Funktionalisierung gelingen. Nur
dürfen dabei nicht die psychologischen Aspekte Gefühle unberücksichtigt bleiben. Die
Differenzierung sich also nicht nur strukturell-systematische Aspekte beziehen. Da, wie
gezeigt wurde, der Mensch eben nicht nur Bestandteil eines System ist und auch nicht sein
kann.
Das Urteil kann also nur sein, dass Entfremdung in mannigfaltigen Formen auftritt. Zudem
ist deutlich geworden, dass sie tatsächlich über das Begriffspaar Natur-Kultur hergeleitet
werden kann; bei der Herleitung handelt es sich allerdings um eine philosophische. Daran
anknüpfend ist erkennbar geworden, dass die Philosophie Systeme gut darstellen kann; die
Frage, welches System verwendet werden sollte wurde nicht beantwortet. Die einzelnen
daraus entwickelten Merkmale sind zur Verwendung und Konkretisierung den anderen
Humanwissenschaften (etwa Politikwissenschaften, Soziologie und Psychologie) zu
übergeben.
Annäherung an den Begriff Entfremdung
32
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