Opposition von Natur und Kultur? Annäherung an den Begriff der Entfremdung. | 2008 Hausarbeit


Institution:
Freie Universität Berlin
Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften
Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaften
Leistung:
Hausarbeit
Thema:
Opposition von Natur und Kultur? 
Annäherung an den Begriff der Entfremdung.
Student:
Nicolai Grossherr
Dudenstraße 11
10965 Berlin
Dozent:
Hasko Hüning
Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaften
Ihnestraße 22
14195 Berlin
 


Inhaltsverzeichnis
 1 Einleitung………………………………………………………………………………………………………………. 1
 2 Entfremdung des Individuums………………………………………………………………………………….. 3
 2.1 Primat der Natur………………………………………………………………………………………………. 3
 2.1.1 Natur des Menschen………………………………………………………………………………….. 4
 2.1.2 Gefühlswelt im Naturzustand……………………………………………………………………… 6
 2.1.3 Der weiter gefasste Rahmen……………………………………………………………………….. 8
 2.1.4 Konklusion………………………………………………………………………………………………10
 2.2 Primat der Vernunft………………………………………………………………………………………… 12
 2.2.1 Erster Einblick………………………………………………………………………………………… 13
 2.2.2 Tiefer gehendes Verständnis …………………………………………………………………….. 15
 2.2.3 Der darüber hinausgehende Rahmen………………………………………………………….. 17
 2.2.4 Konklusion………………………………………………………………………………………………20
 2.3 Weiterführende Erkenntnisse ……………………………………………………………………………23
 2.3.1 Materialismus…………………………………………………………………………………………. 23
 2.3.1.1 Feuerbach oder Wege zum Materialismus……………………………………………. 23
 2.3.1.2 Dialektischer Materialismus………………………………………………………………. 24
 2.3.1.3 Entfremdung bei Marx………………………………………………………………………. 25
 2.3.1.4 Konklusion………………………………………………………………………………………. 26
 2.3.2 Exkurs: Doppelte Vergesellschaftung…………………………………………………………. 26
 3 Resümee………………………………………………………………………………………………………………. 29
Bibliographie…………………………………………………………………………………………………………….33
i


 1 Einleitung
Opposition von Natur und Kultur?
 1 Einleitung
Ihm   war,  als   lasse   nicht   alles   sich   ganz   gewöhnlich   an,   als   beginne   eine  
träumerische Entfremdung, eine Entstellung der Welt ins Sonderbare um sich  
zu greifen, der vielleicht Einhalt zu tun wäre, wenn er (…) aufs neue um sich  
schaute.
Thomas Mann, Der Tod in Venedig
Das Interesse am Thema Entfremdung stellte sich aus verschiedenen Gründen ein. Zum einen 
wurde ich im Rahmen eines Seminars über den  Emotionalen Kapitalismus  des häufigeren 
darauf   gestoßen;   speziell   die   Diskussionen   verschiedener  Aspekte   der   Produktions-   und 
Reproduktionssystematik moderner Gesellschaften gab dazu Anlass. Immer blieb dabei ein 
Teil meiner Fragen offen; eine der drängendsten war die nach dem Phänomen Entfremdung. 
Zudem bot sich den interessierten Zeitungslesern mindestens schon das ganze Jahr 2007 eine 
Debatte  über  Krippenplätze,  Kinderbetreuung,  Herdprämie,  Rabenmütter   und  -väter   sowie 
Erziehungsgeld.   Zusammenfassend   lässt   sich   feststellen,   dass   es   dabei   um   die 
Weichenstellungen   hinsichtlich   der   zukünftigen   Reproduktion   der   im   Staatsgebiet   der 
Bundesrepublik   Deutschland   ansässigen   Menschen   ging.   Nicht   zu   Letzt   wurde   auch   die 
Frage   des   neuen   Feminismus   diskutiert   und   in   diesem   Zusammenhang   die   Frage   der 
Gleichberechtigung neu gestellt.
Dabei hatte ich den Eindruck, dass bestimmte Argumentationslinien herauszulesen und dass 
diese vor allem auch durch mangelnde Trennschärfe gekennzeichnet waren. Eines kam mir 
immer wieder in den Sinn, und zwar, dass sich die Argumentation häufig an dem Gegensatz 
Natur   zu   Kultur   abarbeiteten,   auch   wenn   dieser   meistens  nicht   in   dieser   Deutlichkeit   zu 
entnehmen war.
Die Problematik,  mit der sich die Hausarbeit beschäftigt,  lässt sich im weitesten Sinne mit 
Annäherung an den Begriff Entfremdung
1

 1 Einleitung
Opposition von Natur und Kultur?
dem   Begriffspaar   Natur   und   Kultur   umschreiben.  In   einem   argumentativ-rhetorischem 
Verständnis ist zu klären, wie die Begriffe verwendet werden; beziehungsweise verwendet 
werden können. Es wird eine Argumentationslinie an dem (vermeintlichen) Gegensatzpaar 
Natur   Kultur verortet. Konkreter geht es in der Arbeit um das Phänomen der Entfremdung  
des Individuums in der modernen Gesellschaft. Dieses lässt sich, meines Erachtens, über die 
Frage, was Kultur bzw. Natur ist, herleiten. Ein genaues Verständnis dieser Kategorien ist für 
eine umfassende Bearbeitung der Thematik unumgänglich.
Zu diesem Zweck, also der Präzisierung der Kategorien, beginne ich meine Annäherung an 
den   Begriff   Entfremdung   mit   Jean-Jacques   Rousseau.   Bei   ihm   unterstelle   ich   vorab   eine 
Vorrangigkeit der Komponente Natur; unter anderem deshalb ist das Kapitel mit Primat der  
Natur  überschrieben     wohlgemerkt mit einem fragenden Unterton. Es wird in Folge eben 
auch   darum   gehen,   ob   sich   diese   Vermutung   bestätigt.  Außerdem   soll   das   rousseausche 
Konzept in seinen Grundzügen erarbeitet werden.
Als Antipode wird hier Hegel genommen, der   so die Prämisse   den Primat der Vernunft 
vertritt.   Vernunft   ist   in   diesem   Zusammenhang   gewissermaßen   die   zu   ergründende 
Komponente Kultur; so zumindest soll das Verständnis sein. Auch hier stellt sich wiederum 
die Frage, welche Erkenntnisse sich aus seinem Werk ziehen lassen,  weshalb  auch hier die 
dazu nötigen Grundlagen erarbeitet werden.
Im   letzten   Kapitel   werden  weiterführende   Erkenntnisse   erarbeitet.   Diese   sollen   eine   noch 
engere Eingrenzung des untersuchten Problemfeldes ermöglichen. Dabei werde ich zunächst 
auf den Materialismus   und dabei speziell auf Karl Marx   eingehen. Insbesondere seine 
Forderung nach dem Praxisbezug der Philosophie und die Betrachtung des Ökonomischen 
werden kurz angeschnitten; sowie sein Begriff der Entfremdung. Abschließend wird mittels 
eines   Exkurses   zur   doppelten   Vergesellschaftung   die   Frage   nach   der   einseitigen 
Beschränkung klassischer Theorien auf das Ökonomische gestellt. 
Somit ist  die  zu  Grunde gelegte Frage  die  danach,  ob  es eine  Opposition  von  Natur und  
Kultur  gibt?   Dieser   Frage   wird   mittels   der   vorab   beschriebenen   Selektion   theoretischer 
Grundlagenliteratur   nachgegangen.   Dabei   soll   unter   anderem   eine   begriffliche   Klärung 
erfolgen. Zugleich verfolge ich mit der Arbeit das Ziel einer Annäherung an den Begriff der  
Entfremdung.
Annäherung an den Begriff Entfremdung
2

 1 Einleitung
Opposition von Natur und Kultur?
 2  Entfremdung des Individuums
Es werden verschiedene klassisch zu nennende Ansätze erarbeitet. Den Anfang macht dabei 
Jean-Jacques   Rousseau   (1712     1778);   daraufhin   wird   der   Ansatz   von   Georg   Wilhelm 
Friedrich Hegel (1770   1831) untersucht. Es ist folgerichtig, dass im Anschluss an Letzteren 
der Begriff im Verständnis von Karl Heinrich Marx (1818   1883) betrachtet wird. 
Insbesondere   durch   Rousseau   und   Hegel   wird   der   Versuch   unternommen,  sich   dem 
Begriffspaar Natur/Kultur sowie damit einhergehend dem Begriff Entfremdung anzunähern. 
Es wird dabei Einblick gegeben in die Terminologie dieser Erläuterungen, d.h. wie und in 
welchen  Zusammenhängen mit welchen Begriffen gearbeitet und was darunter verstanden 
wird.   Zudem   soll   in   diesem   Zusammenhang   verdeutlicht   werden,  wie   unterschiedlich   die 
Schwerpunktsetzung   der   beiden   ist;  hierunter   ist  speziell   der   Vorrang   jeweils   eines   der 
Begriffe   Natur   bzw.   Kultur   zu   verstehen.   Der   letzte  Abschnitt   wird   mittels   einer   kurzen 
Einführung in den   Materialismus eine möglicherweise erweiternde Perspektive aufzeigen. 
Selbiges Ziel hat der abschließende Exkurs zur Theorie der doppelten Vergesellschaftung.
 2.1  Primat der Natur
Jean-Jacques   Rousseau   formuliert   seine   Arbeitshypothese   in   der  Abhandlung   über   den  
Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen1 wie folgt:  Indem ich  
dieses so beschaffene Wesen von allen übernatürlichen Gaben, die es vielleicht empfangen  
hat, und von allen künstlichen Fähigkeiten, dies nur durch langwierige Fortschritte erwerben  
konnte, entblöße; indem ich es, mit einem Wort, so betrachte, wie aus den Händen der Natur  
hervorgegangen sein muss (…) 2; indem er also den Menschen Schritt für Schritt von den 
ihm zugeordneten Eigenschaften befreit, will er erkennen was des Menschen Natur ist. Das 
Ziel ist somit zu ergründen, welche der menschlichen Attribute ausschließlich auf die Natur 
1
Rousseau, Jean-Jacques (1998): Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter 
den Menschen. Stuttgart: Reclam
2
Ebenda, S. 35
Annäherung an den Begriff Entfremdung
3

 2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
zurückzuführen sind.
Tatsächlich ist das Thema des Diskurses die Ungleichheit, sowie es auch die Preisfrage der 
Akademie   von   Dijon   zum  Ausdruck   bringt:   Welches   ist   der   Ursprung   der   Ungleichheit  
unter den Menschen, und ist sie durch das natürliche Gesetz gerechtfertigt? 3  Es wird also 
nötig sein, den rousseauschen Ansatz, wenn auch in der gebotenen Kürze, wiederzugeben, 
um dann die unter dem Gesichtspunkt der Entfremdung interessanten Aspekte isolieren zu 
können.
 2.1.1  Natur des Menschen
Rousseau wendet sich insbesondere gegen die zu seiner Zeit vorherrschenden Auffassungen 
über den Naturzustand und die damit in Zusammenhang gebrachten Aussagen zur Natur des 
Menschen. Dabei  waren  ihm besonders folgende Vorgehensweisen ein Dorn im Auge: dem 
Menschen   von   vornherein   ein   Verständnis   von   Recht   und   Unrecht   zu   unterstellen4;   dem 
Menschen   Besitzstreben   als   Eigenschaft   zuzuordnen,   ohne   vorab   geklärt   zu   haben,   was 
Besitz ist5; und schließlich, dem Menschen Macht und damit Machtstrukturen zuzuschreiben, 
um  darauf  die   Rechtfertigung   für   die   Regierung  stützen6.   Der   größte   Fehler   ist   seiner 
Meinung nach allerdings, ganz allgemein, dass dem Menschen des Naturzustandes Begriffe 
zugeordnet wurden, die aus der Gesellschaft, wie sie existiert, entnommen wurden.7 Insofern 
ist   seine   Grundannahme,   dass   es   vor   ihm   noch   nicht   richtig   unternommen   wurde,  den 
Naturzustand   und die daraus zu folgernden Schlüsse    herzuleiten. 
Kritisch steht er auch der Unterteilung der Menschen in wilde8  und zivilisiert-bürgerliche9 
Menschen gegenüber, welche seiner Ansicht nach allein aus schon vorab geprägten Urteilen 
heraus gebildet zu sein scheint. Somit ist (dann) auch Rousseaus Urteil   insbesondere auch 
bezüglich des letzten Punktes     häufig entgegengesetzt. 
3
Ebenda, S. 29
4
etwa Hugo Grotius
5
speziell John Locke
6
speziell Thomas Hobbes
7
Rousseau (1998), S. 32-33
8
franz. homme sauvage
9
franz. homme civil
Annäherung an den Begriff Entfremdung
4

 2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
Bei   ihm   wird   aus   dem   wilden   Menschen   der   edle  Wilde 10,  welcher  den   Menschen   des 
Naturzustandes repräsentiert. Rousseau schreibt ihm einerseits verschiedene Eigenschaften 
und andererseits (Lebens-)Bedingungen zu. Der Mensch des Naturzustands lebt demnach frei 
von jeglichen zivilisatorischen Einflüssen und ist auf Grund dessen friedlich und zufrieden. 
Er kennt weder Tugend noch Laster, ebenso wenig wie Gut und Böse11, er ist gewissermaßen 
unschuldig, da wie er lebt die natürliche Art zu leben ist. Rousseau geht weiterhin davon aus, 
dass der Mensch in diesem Zustand materiell wie auch gefühlsmäßig autark ist. Das Leben 
im   Naturzustand  wird   von   ihm   zudem   als  durch   Freiheit   und   Gleichheit   gekennzeichnet 
verstanden.12 
Beinahe mit Verwunderung stellt er fest  (…) um wieviel geringer der Unterschied zwischen  
Mensch und Mensch im Naturzustand sein muß als im Gesellschaftszustand und um wieviel  
die   natürliche   Ungleichheit   in   der   menschlichen   Gattung   durch   die   gesellschaftlich  
eingerichtete Ungleichheit vergrößert sein muß. 13  Daraus zieht er den Schluss, dass  der  
Mensch von Natur gut und nur durch die Gesellschaft schlecht geworden ist 14. Er geht dabei 
allerdings nicht von der Gesellschaft als einer übergeordneten Macht aus. Den Beweis dafür 
sieht er in der Erkenntnis,  (…) daß die meisten unserer Leiden unser eigenes Werk sind und  
daß   wir   fast   alles   hätten   vermeiden   können,   wenn   wir   die   Lebensweise   (…)   beibehalten 
hätten, die uns von der Natur verordnet wurde. 15 
Entgegen   der   allgemeinen   Annahme,   insbesondere   einiger   seiner   Zeitgenossen16, 
10
franz. bon sauvage
11
Hier stellt sich Rousseau insbesondere in Opposition zu Thomas Hobbes, der dem Menschen des 
Naturzustandes Schlechtigkeit attestiert. So sagt Hobbes,  daß (…) der [Natur-; N.G.] Zustand der  
Menschen ein solcher sei (…), nämlich ein Krieg aller gegen alle
.  [Hobbes, Thomas (2002): Leviathan. 
Stuttgart: Reclam, S. 115] Die gegensätzliche Haltung und der Bezug auf Hobbes werden von Rousseau 
mehrfach auch direkt angesprochen; beispielsweise:  Ziehen wir vor allem nicht mit Hobbes den Schluß,  
daß der Mensch von Natur aus böse sei, weil er keine Vorstellung von der Güte hat; daß er lasterhaft sei,  
weil er die Tugend nicht kennt (…). Hobbes hat sehr gut den Fehler aller modernen Definitionen gesehen;  
aber die Folgerungen die er aus seiner Definition zieht, zeigen, daß er sie einem Sinn versteht, der nicht  
weniger falsch ist. 
 [Rousseau (1998), S. 60] Der nach Rousseau falsche Schluss von Thomas Hobbes ist 
insbesondere in dessen Einschätzung zu finden, dass der Mensch nur durch die Vernunft den Widrigkeiten 
des Naturzustandes entgehen kann und dass dabei sein Antrieb aus der Furcht erwächst.
12
Speth, Rudolf (2003):  Jean-Jacques Rousseau . In: Breit, Gotthard/Massing, Peter (Hg.) (2003): 
Demokratie-Theorien. Von der Antike bis zur Gegenwart. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 
118-124; Russell, Bertrand (2007): Philosophie des Abendlandes. München: Piper, S. 696ff.
13
Rousseau (1998), S. 70
14
Russell (2007), S. 696
15
Rousseau (1998), S. 40
16
hier ist insbesondere Voltaire zu nennen; vgl. Massing/Breit (2003), S. 122
Annäherung an den Begriff Entfremdung
5

 2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
proklamierte Rousseau nicht die Rückkehr zum Naturzustand. Er geht vielmehr davon aus, 
dass der Naturzustand ein  Zustand [ist; N.G.], den es nicht mehr gibt, den es vielleicht nie  
gegeben hat und vielleicht niemals geben wird, von dem man sich aber trotzdem die richtige  
Vorstellung machen muss, wenn man unseren gegenwärtigen Zustand recht beurteilen will. 17 
Es genügt ihm  (…), nachgewiesen zu haben, daß dies nicht der ursprüngliche Zustand des  
Menschen   ist,   sondern   daß  es   allein  der  Geist  der   Gesellschaft  ist  und   die  Ungleichheit,  
welche jene erzeugt, die unsere natürlichen Neigungen so verändern und verderben. 18 
 2.1.2  Gefühlswelt im Naturzustand
Beginnen   wir   damit,   in   dem   Gefühl   der   Liebe   das   Geistig-Seelische   [le   moral]   vom  
Physischen [le physique] zu unterscheiden. 19 Nach Rousseau ist nur das Physische als dem 
Naturzustand   zugehörig   zu   erachten.   Es   kann   mit   dem   Sexualtrieb   und   dem 
Selbsterhaltungstrieb assoziiert werden. Das Geistig-Seelische wiederum ist ein künstliches 
Gefühl und aus der Gewohnheit der Gesellschaft entsprungen.20  Rousseau kommt zu dem 
Schluss, dass  auf das Physische beschränkte Menschen  seltenere und weniger grausame  
Streitigkeiten austragen 21 würden.
Aus   dieser   Erkenntnisgrundlage   leitet   er   ab,   dass   die   Gefühlswelt   des   bon   sauvage   im 
Wesentlichen durch die Selbstliebe22 und das Mitleid23 geprägt wird. Während die Selbstliebe 
direkt   auf   den   Instinkt   der   Selbsterhaltung   zurückgeführt   werden  kann24,  ist  Mitleid 
wiederum   als   Korrektiv   zu   verstehen,   d.h.   es   mildert   das   Verlangen   der   Selbstliebe   ab.25 
Das Mitleid veranlasst uns, ohne zu überlegen denjenigen Hilfe zu leisten, die wir leiden  
17
zitiert nach Russell (2007), S. 696
18
Rousseau (1998), S. 113
19
Rousseau (1998), S. 66
20
Ebenda, S. 65-67
21
Ebenda, S. 67
22
franz. amour de soi-même; Verwirrender Weise wird amour de soi-même in der Sekundärliteratur zu 
Rousseau  unterschiedlich übersetzt, und zwar jeweils mit Eigenliebe oder Selbstliebe. [vgl. Rousseau 
(1998), S. 61 oder S. 151-152 bzw. Meyer (1984), S. 65-67] Dies ist speziell deshalb ungünstig, da es sich   
nicht nur hier   bei den beiden Begriffen um einen Gegensatz handelt. In dieser Arbeit wird amour de soi- 
même mit Eigenliebe übersetzt und verwendet.
23
franz. pitié
24
Rousseau (1998), S. 63f.
25
Ebenda, S. 64
Annäherung an den Begriff Entfremdung
6

 2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
sehen; es vertritt im Naturzustand die Stelle der Gesetze, der Sitten und der Tugend (…). 26 
Da das Mitleid im Naturzustand sowohl die Tugenden und die Sitten als auch die Gesetze 
ersetzt, ist für Rousseau klar, dass es nur dieser Dreiklang an  Gesetzen verschiedener Art27 
sein kann, der für die Übel der vergesellschafteten Lebensweise verantwortlich ist. 
Dabei ist ihm insbesondere der andauernde Bezug auf deren Bestimmung in der Vernunft 
Beweis genug für deren schlechten Einfluss auf das Leben des einzelnen Menschen. Denn 
nichts (…) wäre so elend (…) wie ein durch Aufklärung geblendeter und von Leidenschaft  
geplagter   Wilder,   der   über   einen   von   dem   seinigen   verschiedenen   Zustand   vernünftelnd  
redet. 28 
Die durch Vernunft geprägte Art der Liebe   jene also, die den zivilisierten Menschen betrifft 
  bezeichnet Rousseau mit Eigenliebe29. Sie ist nicht zu verwechseln mit der Selbstliebe; ein 
natürliches   Gefühl,   das  den   Menschen   in   erster   Linie   dazu   bringt,  über   seine   eigene 
Erhaltung   zu   wachen  und  in   zweiter   Linie   die   Menschlichkeit   und   die   Tugend   in   ihm 
hervorbringt.30 Wohingegen: 
die Eigenliebe (…) nur ein relatives, künstliches und in der Gesellschaft  
entstandenes Gefühl [ist; N.G.], das jedes Individuum dazu veranlaßt, sich  
selbst   einen   größeren   Wert   beizulegen   als   jedem   anderen,   das   den  
Menschen all die Übel eingibt, die sie sich gegenseitig zufügen, und das die  
wahre Quelle der Ehre ist. 31 
Was sind nun die konkreteren Folgen dieser Feststellung?   Der Wilde lebt in sich selbst; der  
gesellschaftliche Mensch ist immer außerhalb seiner selbst und weiß nur in der Meinung der  
anderen zu leben; und er bezieht sozusagen allein aus ihrem Urteil das Gefühl seiner eigenen  
Existenz. 32
26
Ebenda, S. 64
27
Detel, Wolfgang (2007): Grundkurs Philosophie. Band 5: Philosophie des Sozialen. Stuttgart: Reclam, S. 
50ff.
28
Rousseau (1998), S. 58
29
franz. amour propre; Verwirrender Weise wird amour propre in verschiedenen Büchern über Rousseau 
unterschiedlich übersetzt, und zwar jeweils mit Selbstliebe oder Eigenliebe. [vgl. Rousseau (1998), S. 61 
oder S. 151-152 bzw. Meyer (1984), S. 65-67] Dies speziell deshalb ungünstig, da   nicht nur hier   es sich 
bei den beiden Begriffen um ein Gegensatz handelt. Wie dem auch sei, in dieser Arbeit wird amour propre 
mit Eigenliebe übersetzt und verwendet.
30
Rousseau (1998), S. 150ff.
31
Rousseau (1998), S. 151
32
Rousseau (1998), S. 112
Annäherung an den Begriff Entfremdung
7

 2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
 2.1.3  Der weiter gefasste Rahmen
Einschränkend kann angemerkt werden,  dass  Rousseaus  Theorie möglicherweise zu einem 
großen Teil auf seiner persönlichen Empfindungen hinsichtlich seines Lebens aufgebaut ist. 
Zumindest   kann   davon   ausgegangen   werden,   dass   das   eine   der  Antriebsfeder   für   seine 
spezifische Auffassung von der Natur des Menschen und dem Naturzustand gewesen ist. Als 
Beleg dafür kann der Brief gelten den Rousseau seinem Mäzen Malesherbes im Jahr 1762 
schrieb: 
Erbittert   durch   die   Ungerechtigkeiten,   die   ich   zu   erdulden   hatte   oder  
deren Zeuge ich gewesen war, oft tief traurig über die Zerrüttung, in die  
mich das Beispiel und die Macht der Verhältnisse gestürtzt hatten, faßte ich  
eine Verachtung gegen mein Jahrhundert und gegen meine Zeitgenossen.  
Da ich fühlte, daß ich in ihrer Mitte nie eine Stellung finden würde, die  
mein   Herz   befrieden   könnte,   löste   ich   es   allmählich   los   von   der  
menschlichen Gesellschaft und gestaltete mir selbst eine andere in meiner  
Phantasie, die mich um so mehr entzückte, als ich stets ohne jede Mühe und  
Gefahr in ihr weilen konnte, da sie mir stets sicher und in jeder Gestalt, in  
der ich sie eben brauchte, zur Verfügung stand. 33 
Je nachdem,  wie man diese und andere Äußerungen bewertet, kann man  entweder  zu dem 
Schluss kommen, dass Rousseaus Verhaltensmuster an die eines Autisten erinnern, oder aber, 
dass   er   durch   seine   intensive   Beschäftigung   mit   der   Gesellschaft   zu   sich   und   seiner 
Lebensweise gefunden hat.34 Ungeachtet dessen, ob man Rousseau als Mensch mit extremen, 
möglicherweise   auch  pathologischen  (krankhaften,   d.h.   von   der   Norm   abweichenden) 
psychischen   Dispositionen  begreift  oder   aber   als   Visionär,   der   seine   Art   zu   Leben 
verwirklicht hat, stellt sich natürlich die Frage, ob seine Theorie deswegen gleich in ihrer 
Gänze als falsch oder frei von jedem Erkenntnisgewinn  abgetan  werden kann. Diese Frage 
muss  ungeachtet der Schlüsse, die man aus seiner Person und Persönlichkeit ziehen mag, 
entschieden verneint werden.
33
zitiert nach Meyer, Heinz (1984): Alienation, Entfremdung und Selbstverwirklichung. Hildesheim: Georg 
Olms Verlag, S. 61
34
Ebenda, S. 60ff.
Annäherung an den Begriff Entfremdung
8

 2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
Wie   bereits   oben   angeführt   vertrat   Rousseau   keinesfalls   die   Meinung,  es   müsse   der 
Naturzustand wieder hergestellt werden. Stattdessen kann ganz eindeutig gesagt werden, dass 
er den Primat der Natur ausgerufen und gefordert hat.
Er vertritt die Meinung,  dass das  Sich-Entfernen des Menschen  aus dem Naturzustand zu 
Entwicklungen geführt hat,  die für  ihn  und die Gesellschaft nicht gut sind. Sein Ziel ist es, 
diese Entwicklungen aufzudecken und zu zeigen, dass und wie sie mit der Entfremdung des 
Menschen von seiner natürlichen Art des Seins zusammenhängen. Folglich ist bei Rousseau 
Entfremdung definitiv auf die Abkehr von dieser Natur des Menschen zurückzuführen.
Dabei   stellt   sich   für   ihn   weniger   die   Frage,   wie   dieser   Zustand   wiederhergestellt  werden 
kann;  vielmehr   versucht   er  zu   ergründen,   wie   der   Mensch   trotz   seiner   sozialen, 
vergesellschafteten Lebensweise glücklich sein kann. Die Antwort darauf ist insbesondere in 
seinem Buch  Der Gesellschaftsvertrag 35 zu finden. 
Eine   weitere   Besonderheit  ist,   dass   bei   ihm   die   Frage   nach   den   Gefühlen   des   Menschen 
gestellt wird:  Es ist eben nicht so, dass sich der Mensch auf der Vernunftsebene entfremdet, 
sondern auf der Ebene der Gefühle. Folgerichtig ist das Ziel des Gesellschaftsvertrags auch 
nicht, eine Balance der Vernunft zu erreichen, sondern eine der Gefühle.
Dabei spielt insbesondere die Aufgabe der Freiheit des Naturzustandes eine wichtige Rolle. 
Sie wird unter anderem durch die Einführung des Eigentums symbolisiert, das den Anfang 
der   Gesellschaft   markiert.   Oder   mit   Rousseaus   Worten:   Der   erste,   der   ein   Stück   Land 
eingezäunt hatte und auf den Gedanken kam zu sagen ’Dies ist mein’ und der Leute fand, die  
einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Begründer der zivilen Gesellschaft. 36 
Damit war der Grundstock für die bürgerliche Gesellschaft gelegt; Festigung erfuhr sie durch 
die Einführung des Eigentumsrechts und des Rechts im Allgemeinen37. 
Mit dem Entstehen der zivilen Gesellschaft gehen aber auch die Entstehung der Ungleichheit 
und   der   Ungerechtigkeit   sowie   der   Entfremdung   des   Individuums   einher.   In   der   Tat  ist  
leicht zu sehen, daß unter den Unterschieden, die sich zwischen den Menschen auftun, etliche  
als   natürlich   gelten,   die   allein   das   Werk   der   Gewohnheit   und   der   verschiedenen  
35
Rousseau, Jean-Jacques (1880): Der Gesellschaftsvertrag oder Die Grundsätze des Staatsrechtes. 
URL: http://www.textlog.de/rousseau_vertrag.html [Stand 13. April 2008]
36
Rousseau (1998), S. 74
37
Meyer (1984), S. 67-68
Annäherung an den Begriff Entfremdung
9

 2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
Lebensweisen   sind,   welche   die   Menschen   in   der   Gesellschaft   annehmen. 38  Damit   diese 
Unterschiede gerecht sind im Sinne der menschlichen Natur,  muss der Gesellschaftsvertrag 
abgeschlossen werden, der aus freien Menschen Staatsbürger macht. 
Der Übergang aus dem Naturzustande in das Staatsbürgertum bringt in  
dem Menschen eine sehr bemerkbare Veränderung hervor, indem in seinem  
Verhalten   die   Gerechtigkeit   an   die   Stelle   des   Instinktes   tritt   und   sich   in  
seinen Handlungen der sittliche Sinn zeigt, der ihnen vorher fehlte. Erst in  
dieser Zeit verdrängt die Stimme der Pflicht den physischen Antrieb und  
das Recht der Begierde, so dass sich der Mensch, der bis dahin lediglich  
auf sich selbst Rücksicht genommen hatte, gezwungen sieht, nach anderen  
Grundsätzen   zu   handeln   und   seine   Vernunft   um   Rat   fragt,   bevor   er   auf  
seine Neigungen hört. Obgleich er in diesem Zustande mehrere Vorteile,  
die ihm die Natur gewährt, aufgibt, so erhält er dafür doch so bedeutende  
andere Vorteile. Seine Fähigkeiten üben und entwickeln sich, seine Ideen  
erweitern,   seine  Gesinnungen   veredeln,   seine  ganze  Seele  erhebt  sich  in 
solchem Grade, dass er, wenn ihn die Missbräuche seiner neuen Lage nicht  
oft noch unter die, aus der er hervorgegangen, erniedrigte, unaufhörlich  
den glücklichen Augenblick segnen müsste, der ihn dem Naturzustande auf  
ewig   entriss   und   aus   einem   ungesitteten   und   beschränkten   Tiere   ein  
einsichtsvolles Wesen, einen Menschen machte. 39
 2.1.4  Konklusion
Welche Erkenntnis lässt sich zu guter Letzt aus der rousseauschen Philosophie in Hinblick 
auf   die   Problematik   der   Entfremdung   ableiten?   Natürlich   lässt   sich   das   nicht   pauschal 
beantworten. Einerseits ist deutlich geworden, dass es an der Wahrheit vorbei ginge, ihm zu 
unterstellen,   dass   er   die   gesellschaftliche   Entwicklung   umdrehen   und   zurück   zum 
38
Rousseau (1998), S. 69
39
Rousseau (1880), Kapitel 8: Das Staatsbürgertum
Annäherung an den Begriff Entfremdung
10

 2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
Naturzustand führen wollte. Andererseits lässt sich durchaus das Wort vom Primat der Natur 
aufrechterhalten,  da  Rousseau  schließlich  alles   auf   diese   von   ihm   hergeleitete   Natur   des 
Menschen bezieht. Somit ist die Entfremdung eine Entfremdung von dieser Natur und, wenn 
man   so   will,   hin   zur   Vernunft.   Dennoch   ist   die   beste   Lebensform   seiner  Ansicht   nach 
diejenige  in einer Gesellschaft,  wobei  diese nach bestimmten Kriterien funktionieren  muss. 
Diese werden, ebenso wie ihre Legitimation, im Rahmen der Entwicklung des Konzepts vom 
Gesellschaftsvertrag   näher   dargestellt.   Dieser  Wandel   im   Werk   von   Rousseau  lässt   sich 
durchaus   dahingehend   interpretieren,  dass   es   ihm  zunächst  allein   um   die   Kritik   der 
Verhältnisse   ging,   er   dann   aber   die   Notwendigkeit   erkannte,  einen   Lösungsvorschlag 
anzubieten. Zu Letzt bleibt allerdings immer der Bezug auf die Natur und die Verhaftung des 
Menschen in dieser Natürlichkeit.
Annäherung an den Begriff Entfremdung
11

 2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
 2.2  Primat der Vernunft
Auch bei Hegel lassen sich Bezüge zum Thema Entfremdung finden,  selbst  wenn diese an 
der ein oder anderen Stelle unter dem Deckmantel einer anderen Benennung zu suchen sind. 
Es ist das zeitkritische Thema der Entzweiung. Für Hegel ist die moderne Zeit dadurch  
ausgezeichnet, daß in ihr die Einheit aus dem Leben der Menschen verschwunden ist. Die  
allumfassende Einheit des Lebens ist dem modernen Menschen nicht mehr erfahrbar (…). 40 
Entzweiung   oder   eben   Entfremdung   (…)   wird   von   Hegel   zunächst   ganz   im   Geiste  
Rousseaus als ein Produkt der Bildung und der Zivilisation gedeutet. 41 Allerdings erschöpft 
sich die hegelsche Auffassung über den Begriff nicht in dieser Aussage. 
Einleitend kann festgestellt werden, dass die Entfremdung von Hegel zurückgeführt wird auf 
eine Uneinheitlichkeit des Bewusstseins   mit sich selbst. Diese Uneinheitlichkeit führt dazu, 
dass das Individuum nicht mehr in  der  Lage ist,  ein einheitliches Weltbild zu errichten und 
aufrecht   zu   erhalten.   Kurz   gefasst   kann   gesagt   werden,   dass   verschiedene   Weltbilder 
verschiedene Weltverständnisse determinieren. Es lassen sich aber nicht immer alle Aspekte 
der unterschiedlichen Weltverständnisse in Einklang miteinander bringen. Folglich kommt es 
zum Konflikt zwischen den verschiedenen Verständnissen. Diese Problematik ist für Hegel 
keineswegs   ein   singuläres,   sondern   ein  charakteristisches  Merkmal   der   modernen 
Gesellschaft.42 
Um diese Zusammenhänge verständlich zu machen ist es notwendig, tiefer in die hegelsche 
Philosophie   einzusteigen.   Zumindest  sollen  die   wesentlichen   Eckpunkte,   die   zu   den 
angerissenen   Erkenntnissen   führen,   hier   erarbeitet   werden,   um  darauf   aufbauend 
weiterführende  Schlüsse  zu   ziehen.  Dazu  werde  ich,  in   einem  dem  Zweck   angemessenen 
Umfang,   die   theoretische   Begründung   erarbeiten. 
Die   Grundlegungen   seines 
Theoriegebäudes,  auf die ich zurückgreife,  sind hauptsächlich in der  Phänomenologie des  
Geistes und der Wissenschaft der Logik zu finden. 
40
Emundts, Dina/Horstmann, Rolf-Peter (2002): G.W.F. Hegel. Eine Einführung. Stuttgart: Reclam, S. 52
41
Ebenda, S. 53
42
Ebenda, S. 52-54
Annäherung an den Begriff Entfremdung
12

 2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
 2.2.1  Erster Einblick
Beginnen werde ich mit einigen Punkten aus der Phänomenologie des Geistes, die von Hegel 
als notwendiges Vorwissen zu seiner Logik verstanden wird, weshalb davon auszugehen ist, 
dass   die  beiden   Werke   aufeinander   aufbauen.   Zum   Ziel   seiner   Philosophie   lässt   sich 
allgemein   feststellen:   Hegels   systematische   Philosophie   muß   als   der   Versuch   angesehen  
werden, die gesamte Wirklichkeit in allen ihren Erscheinungsformen als Selbstdarstellung  
der   Vernunft   zu   begreifen. 43  Der   den  Ansatz   Hegels   bestimmende   Grundgedanke   ist   die 
Absolutheit der Vernunft, oder wie er es ausdrückt:  die Vernunft ist wirklich, und nur das ist  
eigentlich wirklich, was vernünftig ist. 44 
Bei dieser Prämisse handelt es sich um die primäre Struktur der hegelschen Philosophie, sie 
lässt   sich   in   den   Begriffen  das   Absolute  oder  die   Vernunft  zusammenfassen.45  All   seine 
Philosophie muss unter diesem Gesichtspunkt betrachtet werden. Natürlich wird die durch 
das Absolute ausgezeichnete Vernunft von ihm noch näher in ihrer Struktur bestimmt, wobei 
insbesondere   die   Überzeugung,   dass   Denken   und   Sein   eine   komplexe   Einheit   bilden, 
hervorgehoben werden kann.46 Als letzte dieser zugrunde gelegten Vorbedingungen kann die 
Überzeugung angesehen werden, dass die Wirklichkeit durch die Vernunft konstituiert wird.47 
Damit seine Systematik funktionstüchtig ist, hat Hegel den Prozess der Selbsterkenntnis bzw. 
Selbstrealisation der Vernunft eingeführt. Dieser ist nötig, da die Vernunft nur auf sich selbst 
bezogen verstanden werden kann, was im Umkehrschluss bedeutet, dass die Erkenntnisse der 
Vernunft nur auf sich selbst gerichtet sein können.  Dies hat wiederum  zur Folge, dass ihre 
Manifestation als Einheit von Denken und Sein erst durch den Erkenntnisprozess bzw. den 
Realisationsprozess tatsächlich verwirklicht wird.
Es ist unschwer zu erkennen, dass es sich hierbei um ein selbstreferenzielles System handelt. 
43
Ebenda, S. 32
44
Ebenda, S. 32
45
Dabei handelt es sich nicht um einen, seines Erachtens, tiefergehend zu erklärenden Sachverhalt. Er reiht 
sich damit nahtlos in die nachkantische Tradition des Idealismuses ein; diese wird insbesondere durch 
Fichte, Schelling repräsentiert. Das hat zur Folge, dass dies als Voraussetzung angenommen wird. 
[Emundts/Horstmann (2002), S. 32-35]
46
Emundts/Horstmann (2002), S. 34
47
Ebenda, S. 35
Annäherung an den Begriff Entfremdung
13

 2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
Das ist insofern der Fall, als sich die Einzelbestandteile auf die absolute Vernunft zuspitzen 
lassen   und   diese   nur   durch   sich   selbst   beeinflusst   wird.   Es   ist   des   Weiteren   leicht   zu 
erkennen,  warum   der   Idealismus   hegelscher  Ausprägung   auch   als  absoluter   Idealismus48 
bezeichnet  wird.  In  den Worten  Hegels:   Das  Absolute ist die allgemeine und  eine Idee,  
welche als urteilend sich zum System der bestimmten Idee besondert. 49 
Mit der Gleichsetzung des Absoluten und der Vernunft geht einher, dass   wie aus obigem 
Zitat deutlich wird   die Idee absolut ist. Das erinnert wiederum nicht nur zufällig an Platon 
und seine Ideenlehre.50 
Die   wahrhafte   [absolute;   N.G.]   Idee   ist   die   an   und   für   sich   seiende  
Allgemeinheit, die nur in dem Gedanken ist, aber nicht das Abstrakte, das  
leere   absolute   Wesen,   sondern   innerlich   in   sich   so   bestimmt,   daß   die  
Negativität zugleich absolut, oder daß die Form sei, aber als unendliche  
Form…   Sie   (d.i.   die   Idee)   besondert   sich,   bringt   sich   als   anderes   ihrer  
selbst hervor, verliert sich aber in diesem Anderen nicht, sondern setzt diese  
als Nichtanderes und kehrt so in sich zurück. 51 
Hierbei   handelt   es   sich   um   ein   an   die   formallogische   Begriffspyramide   angelehntes 
Verständnis,  welches  auf   den   Begriffen   des   Allgemeinen,   Einzelnen   und   Besonderen 52 
basiert. Es geht also vom Allgemeinen über das Einzelne zum Besonderen; so zumindest das 
Verständnis bei Platon, auf den das Konzept zurückzuführen ist.53 
Das besondere der Interpretation bei Hegel ist, dass die drei Elemente fließend ineinander 
übergehen. Sie bilden dabei ein unterschiedenes Ganzes, das in allen Unterschieden es selbst 
ist. Es, das Ganze, gleicht sich selbst, ist also mit sich selbst identisch, was zur Folge hat, 
dass es sich in der absoluten Idee vereint.54
Es   ist   festzustellen,   dass   Hegel   selbst   bei   der   Unterscheidung   von   Einzelnem   und 
48
Hirschberger, Johannes (2003a): Geschichte der Philosophie. Band II: Neuzeit und Gegenwart. Frankfurt 
a.M.: Zweitausendeins, S. 409ff.
49
Ebenda, S. 411
50
Hirschberger, Johannes (2003b): Geschichte der Philosophie. Band I: Altertum und Mittelalter. Frankfurt 
a.M.: Zweitausendeins, S. 105
51
Marcieniec, Hans-Günter :  Der Begriff der Entfremdung in der Hegel’schen Philosophie  
URL: http://www.marcieniec.de/download/hegel.pdf [Stand 13. April 2008], S. 31
52
häufig auch als Gattungsbegriff, Artbegriff und Einzelbegriff bezeichnet; siehe u.a. Marcieniec (1958), S. 31
53
Hirschberger (2003b), S. 106ff.
54
Marcieniec (1958), S. 31-32
Annäherung an den Begriff Entfremdung
14

 2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
Besonderem   nicht   immer   vollkommen  kohärent  vorgegangen   ist,   sodass   der   Eindruck 
entsteht,   dass   er   hauptsächlich   zwischen   dem   Allgemeinen   und   dem   Einzelnen 
unterscheidet.55  Ich   will   mir   diese   Vereinfachung   zunutze56  machen,  um   den   Begriff   der 
Negation der Negation57  näher zu erklären. Die Funktionsweise der Negation der Negation 
kann letztlich aus den Ausführungen in der Wissenschaft der Logik entnommen werden.
Alles ist auf die absolute Idee zurückführbar, die sich, allgemein gesagt, mit den Dingen und 
den   Dingen  an   sich  auseinander   setzt;  folglich  tut  sie  das   auch   mit  sich   selbst.58  Auf   die 
logische Basis herunter gebrochen heißt das: 
Sie   [die   Idee;   N.G.]   ist   A   und   zugleich   Non-A   (oder   B).   Indem   A   B  
anschaut, wird es sich seiner als A überhaupt erst bewußt. Zugleich aber  
hat A auch B als sein eigenes Nichtsein an sich, denn sonst könnte es nicht  
A   sein.   (…)   Diese   vereinfachte   Darstellung   einer   sehr   langen  
Auseinandersetzung endet damit, daß A sich schließlich vollkommen in B  
anschaut,   wie   B   sich   in   A.   Eines   weiß   sich   im   Anderen,   so   daß   sie  
schließlich   ihre   Identität   erreichen,   die   [absolute;   N.G.]   Idee,   oder   das  
Allgemeine (…). 59 
Sei also das Allgemeine A und folglich seine Negation das Einzelne B, so ist die Negation 
des Einzelnen B   was somit die Negation der Negation ist   wiederum das Allgemeine A. 
Mit dem Ergebnis, dass dabei, nach Hegel, der Beweis geführt wurde, dass alles in allem ist 
und somit alles das Absolute. 
 2.2.2  Tiefer gehendes Verständnis 
Obwohl oftmals davon ausgegangen wird, dass der Geist sich allein auf die absolute Vernunft 
bezieht   schließlich ist diese, wie oben ausgeführt, bei Hegel alles   tatsächlich ist das nicht 
55
Hirschberger (2003a), S. 409ff.
56
von Nutzen ist das insbesondere da ich nur noch mit zwei Begriffen arbeiten werde
57
Für den in dieser erarbeiteten Umfang reicht es aus den Begriff der Negation der Negation zu erläutern, es 
soll aber angemerkt werden, dass diese die Grundstruktur der hegelschen Dialektik wiedergibt. Diese kann 
in aller Kürze mit den Begriffen These, Antithese und Synthese angegeben werden. Natürlich erschöpft sie 
sich nicht darin; einen guten Einblick in ihre Verwendung gibt das von mir wiedergegebene.
58
Marcieniec (1958), S. 32
59
Marcieniec (1958), S. 32
Annäherung an den Begriff Entfremdung
15

 2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
der   Fall.   Vielmehr   verhält   es   sich   so,   dass  sich   der   Geist  nach   Hegel   im   Werden,   im 
Einzelnen, verwirklicht, was immer auch Entfremden impliziert. Daraus folgt auch, dass sich 
das Individuum erst durch den Bezug auf das Einzelne verwirklicht. Somit ist das Sein des 
Geistes das Bewusstsein.60
Eine solche Darstellung macht (…) den ersten Teil aus, weil das Dasein des Geistes als  
erstes nichts anderes als das Unmittelbare oder der Anfang, der Anfang aber noch nicht sein  
Rückkehr in sich ist. 61 Obwohl das Ziel die Rückkehr in den Geist   das Allgemeine   ist, 
muss also der erste Schritt die Betrachtung der Abkehr zum Einzelnen von diesem sein. Diese 
Abkehr ist das Bewusstsein als unmittelbare Manifestation des Geistes.   Das unmittelbare 
Dasein des Geistes, das Bewußtsein, hat die zwei Momente des Wissens und der dem Wissen  
negativen  Gegenständlichkeit. 62  Das  Bewusstsein,  als einfache  Negation   des  Geistes,  hat 
demnach schon zwei implizite Wissensbegriffe: einerseits vom Allgemeinen und andererseits 
vom Einzelnen. Das Zusammenspiel und Widerstreiten dieser Wissen kann als die Erfahrung 
des Bewusstseins gesehen werden. 
(…) Erfahrung, die das Bewußtsein macht; die Substanz wird betrachtet,  
wie sie und ihre Bewegung sein Gegenstand ist.  Das Bewußtsein weiß und  
begreift nichts, als was in seiner Erfahrung ist; denn was in dieser ist, ist  
nur die geistige Substanz, und zwar als Gegenstand ihres Selbsts. 63
Somit ist das Bewusstsein die Ausgleich suchende Manifestation des Geistes, der nur durch 
diesen Vorgang überhaupt als komplett und in sich geschlossen gesehen werden kann.  Der  
Geist wird aber Gegenstand, denn er ist diese Bewegung, sich ein anderes, d.h. Gegenstand  
seines Selbsts zu werden, und dieses Anderssein aufzuheben. 64 Die Erfahrung ist der Prozess 
dieser Bewegung und damit auch das, was wir mit Entfremdung bezeichnet haben. 
Und   die   Erfahrung   wird   eben   diese   Bewegung   genannt,   worin   das  
Unmittelbare,   das   Unerfahrne,   d.h.   das   Abstrakte,   es   sei   des   sinnlichen  
Seins  oder  des  nur  gedachten  Einfachen,  sich  entfremdet,  und  dann  aus  
60
Meyer (1984), S. 93
61
Hegel, G.W.F. (2004):  Phänomenologie des Geistes  URL: 
http://www.scribd.com/doc/884414/Phaenomenologie-des-Geistes-by-Georg-Wilhelm-Friedrich-Hegel 
[Stand 13. April 2008], S. 20
62
Ebenda, S. 20
63
Ebenda, S. 20
64
Ebenda, S. 20
Annäherung an den Begriff Entfremdung
16

 2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
dieser   Entfremdung   zu   sich   zurückgeht,   und   hiermit   sitzt   erst   in   seiner  
Wirklichkeit und Wahrheit dargestellt wie auch Eigentum des Bewußtseins  
ist. 65
Der Vorgang des Entfremdens, mithin des Erfahrens, ist notwendig. Ohne ihn wäre es nicht 
möglich, dass der Geist sich fortentwickelte. 
Die Ungleichheit, die im Bewußtsein zwischen dem Ich und der Substanz,  
die   sein   Gegenstand   ist,   stattfindet,   ist   ihr   Unterschied,   das   Negative  
überhaupt.  Es kann als der Mangel beider angesehen werden, ist aber ihre  
Seele oder das Bewegende derselben (…). Wenn nun dies Negative zunächst  
als Ungleichheit des Ichs zum Gegenstande erscheint, so ist es ebensosehr  
die Ungleichheit der Substanz zu sich selbst. 66 
Ich ist hier synonym zum Geist zu verstehen; Substanz zu Bewusstsein. Folglich besteht die 
Möglichkeit der  Uneinheitlichkeit des Bewusstseins mit  sich selbst, was nach dem  bislang 
Erarbeiteten   nur   als   ein   reflexives   Selbst     Selbstbewusstsein,   d.h.   Bewusstsein   vom 
Bewusstsein   bezeichnet werden kann.
 2.2.3  Der darüber hinausgehende Rahmen
Das   Bewußtsein   wird   sein   Verhältnis   zum   Anderssein   oder   seinem   Gegenstande   auf  
verschiedene   Weise   bestimmen,   je   nachdem   es   gerade   auf   einer   Stufe   des   sich 
bewußtwerdenden Weltgeistes steht. 67  Trotz allen Anklangs in Richtung Individualisierung 
und   Individuum   muss   immer  im  Hinterkopf   behalten   werden,  dass  es   Hegel   um   den 
Nachweis geht, dass der Geist Anfang und Ende von allem ist.  (…) So ist es das allgemeine  
Individuum, welches nicht nur als frei von jeder Gliederung der Gattung, sondern auch als  
ihre Macht zu betrachten  ist. 68  Zwar  ist die individuelle Bewusstseinsbildung  notwendig 
und   unumgänglich,   aber   letztlich   führt   auch   sie   nur   zu   allgemeineren,  geistigen 
Erkenntnissen, sodass die Abstraktion des Individuums nur noch als Teil des Allgemeinen 
65
Ebenda, S. 20
66
Ebenda, S. 21
67
Hegel (2004), S. 103
68
Ebenda, S.
Annäherung an den Begriff Entfremdung
17

 2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
gesehen werden kann. Dieses allgemeine Individuum ist Teil des Geistes.
Die Verallgemeinerung des Geistes wiederum ist der Weltgeist, da sich erst in diesem das 
Absolute verwirklicht.  Eh daher der Geist nicht an sich, nicht als Weltgeist sich vollendet,  
kann er nicht als selbstbewußter Geist seine Vollendung erreichen. 69  So ist dann auch bei 
der Betrachtung des Individuums das allgemeine Individuum im Endeffekt gleichzusetzen 
mit dem Weltgeist.  Die Aufgabe aber, das Individuum von seinem ungebildeten Standpunkte  
aus zum Wissen zu führen, war in ihrem allgemeinen Sinn zu fassen, und das allgemeine  
Individuum, der Weltgeist, in seiner Bildung zu betrachten. 70
Die Rückführbarkeit auf den (Welt-)Geist ist gewissermaßen allumfassend. Wie schon vorab 
ausgeführt wurde, ist der Geist, die Vernunft, eine von Hegel angenommene Vorbedingung, 
die seines Erachtens durch die anderen Vertreter des Idealismus ausreichend begründet wurde 
und   deshalb   von   ihm   nicht   mehr   belegt   werden   muss.   So   kommt   er   dann   auch   zu   dem 
Schluss:  Das unmittelbare An-sich des Geistes, der sich die Gestalt des Selbstbewußtseins  
gibt, heißt nichts anderes, als daß der wirkliche Weltgeist zu diesem Wissen von sich gelangt  
ist; dann erst tritt dies Wissen auch in sein Bewußtsein, und als Wahrheit ein. 71 
Die  Absolutheit   des   Geistes   ermöglicht   es   auch,   dass   der  Ansatz   auf   jeden   erdenklichen 
Bereich   angewendet   werden   kann.   Besonders   hervorzuheben   sind   dabei   die   folgenden 
übergeordneten  Bereiche Religion, Natur, Geschichte und Staat. Bezüglich der Religion lässt 
sich sagen, dass Hegel den absoluten Geist mit Gott gleichgesetzt hat.  Gott ist der absolute  
Geist, d.h. er ist das reine Wesen, das sich zum Gegenstande macht, aber darin nur sich  
selbst anschaut; oder in seinem Anderswerden schlechthin in sich selbst zurückkehrt und sich  
selbst   gleich   ist. 72  So   gibt   es   dann   auch   Stellen,  die   quasi   einen   Grundriss   der 
Schöpfungsgeschichte, aus hegelscher Sicht natürlich, der Bibel bieten: 
Der also nur ewige oder abstrakte Geist wird sich ein Anders oder tritt in  
das Dasein und unmittelbar in das unmittelbare Dasein.  Er erschafft also  
eine Welt.   Dieses Erschaffen ist das Wort der Vorstellung für den Begriff  
selbst  nach  seiner  absoluten  Bewegung,  oder  dafür,  daß  das  als  absolut  
69
Ebenda, S.
70
Ebenda, S.
71
Ebenda, S.
72
Meyer (1984), S. 104
Annäherung an den Begriff Entfremdung
18

 2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
ausgesagte Einfache oder reine Denken, weil es das abstrakte ist, vielmehr  
das Negative und hiermit sich Entgegengesetzte oder Andre ist; oder weil,  
um   dasselbe   noch   in   einer   andern   Form   zu   sagen,   weil   das   als   Wesen  
gesetzte   die   einfache   Unmittelbarkeit   oder   das   Sein   ist,   aber   als  
Unmittelbarkeit oder Sein des Selbsts entbehrt und also, der Innerlichkeit  
ermangelnd,   passiv   oder  Sein   für  Anderes   ist.   Dies   Sein   für  Anderes  ist  
zugleich eine Welt; der Geist in der Bestimmung des Seins für Anderes ist  
das   ruhige   Bestehen   der   vorhin   in   das   reine   Denken   eingeschlossenen  
Momente,   also   die   Auflösung   ihrer   einfachen   Allgemeinheit   und   das  
Auseinandergehen derselben in ihre eigne Besonderheit. 73
Somit  ist  zwar   klar,  dass   die  anderen  Begriffe  letztlich  auch  in   Gott,   also   dem  absoluten 
Geist,   aufgehen,   aber   dennoch   soll   ein   kurzer   Blick   auf   diese   Besonderheiten   des 
Allgemeinsten   geworfen   werden.  Bezüglich  der  Natur   lässt  sich  feststellen,  dass  sie   die  
absolute   Idee   in   der   Gestalt   des   Anderssein   überhaupt   ist 74  Sie   ist   die   Erschaffung    
Gestaltwerdung     einer   Welt.   Oder   anders   formuliert,   ist   der   Geist   das   Hervorgehen  
vermittels der Natur, d.h. er hat an ihr seinen Gegensatz durch dessen Aufhebung er für sich  
und   Geist   ist. 75  Aus   diesem   Blickwinkel   betrachtet   ist   die   Natur   der   größtmögliche 
Gegensatz zur reinen Vernunft, ohne aber in dem allumfassenden Zusammenhang des Geistes 
komplett von der Vernunft getrennt zu sein.
Das Geschäft der Geschichte ist nur, daß die Religion als menschliche Vernunft erscheine,  
daß das religiöse Princip, das den Herzen der Menschen inwohnt, auch als weltliche Freiheit  
hervorgebracht werde. 76  Damit ist die Geschichte eben kein autonomer Bereich, sondern 
Gestaltung des Geistes in Form des Geschehens. 77 Es wird deutlich, dass auch Geschichte 
Teil des Weltgeistes ist und sein muss; von besonderem Interesse ist aber der direkte Bezug 
der Geschichte zu Gott. So sieht Hegel:  In der Geschichte des Inhalts Gottes (…) wesentlich  
auch die Geschichte der Menschheit. 78
Zu guter Letzt noch eine Betrachtung der hegelschen Vorstellung vom Staat: Auch diese kann 
73
Hegel (2004), S. ;Hervorhebung nicht im Orginal
74
Meyer (1984), S. 106
75
Ebenda, S. 106
76
Ebenda, S. 106-107
77
Ebenda, S. 106
78
Ebenda, S. 106
Annäherung an den Begriff Entfremdung
19

 2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
wieder   unmittelbar   auf   die   Religion   zurückgeführt   werden.   Insbesondere   fällt   seine 
grundlegende Überzeugung zur Zwangsläufigkeit des Staates auf, es sei nämlich  der Gang  
Gottes   in   der   Welt,   daß   der   Staat   ist:   sein   Grund   ist   die   Gewalt   der   sich   als   Wille  
verwirklichenden Vernunft. 79 Dabei sieht er die Religion als Bewahrer der Freiheit, da  das  
sittliche Recht im Staate nur die Ausführung dessen ist, was das Grundprinzip der Religion  
ausmacht. 80
 2.2.4  Konklusion
Wie sich letzten Endes herausgestellt hat, ist bei Hegel alles reine Vernunft; also der absolute 
Geist, der Gott ist. Die selbstreferenzielle Geschlossenheit dieses Systems macht es in sich 
logisch und stabil; einschränkend kann allerdings bemerkt werden, dass die Voraussetzungen 
nicht   der   traditionellen   Logik   entsprechen   und   deshalb   vielfach   als   falsch   angesehen 
79
Ebenda, S. 107
80
Ebenda, S. 107
Annäherung an den Begriff Entfremdung
20

 2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
werden81. Zudem gilt sein Werk als eines der kompliziertesten überhaupt82.
Trotz dieser zumindest nach herkömmlichen Maßstäben falschen Logik können seinem Werk 
dennoch,   wenn   auch   nur   auf   einer   rein   theoretischen   Ebene,     mancherlei   Erkenntnis 
abgewonnen werden. Oder in den Worten eines seiner Kritiker:  Das [die Grundlegung der  
Logik,   N.G.]   war   ein   Irrtum,   und   auf   diesem   Irrtum   baute  sich   das   ganze   imponierende  
Gebäude seines Systems auf. Hier zeigt sich eine bedeutsame Wahrheit: Je fehlerhafter die  
Logik, um so interessanter die sich aus ihr ergebenden Konsequenzen. 83
Kommen   wir   zurück   zu   einer   dieser   Konsequenzen   und   zum   Ausgangspunkt   meiner 
Erläuterung, der Entfremdung die aus der Uneinheitlichkeit des Bewusstseins entsteht. Dazu 
muss nochmals gesagt werden, dass das Bewusstsein Ausdruck des Geistes ist. Der Geist 
kann synonym verstanden werden zu dem Absoluten oder der Vernunft, mithin also mit dem 
Allgemeinen   oder   der   Idee.   Die   Entfremdung   entsteht,   wie   festgestellt   wurde,   aus   dem 
Konflikt   zwischen   verschiedenen   Weltverständnissen,   die   notwendig   sind,  um   die 
81
Das folgende Beispiel soll   (…) zur Erläuterung der Dialektik dienen (…). Als erstes sagen wir: Die  
Wirklichkeit ist ein Onkel. Das ist die Thesis. Aber die Existenz eines Onkels schließt die eines Neffen ein.  
Da nichts wirklich ist außer dem Absoluten und wir uns nun der Existenz eines Neffen gegenüber sehen,  
müssen wir schließen: Das Absolute ist ein Neffe. Das ist die Antithesis. Aber hier muß der gleiche Einwand  
gemacht werden wie bei der Ansicht, das Absolute sei ein Onkel; so kommen wir zwangsläufig zu der  
Ansicht, daß das Absolute das aus Onkel und Neffe zusammengesetzte Ganze ist. Das ist die Synthesis. Aber  
diese Synthesis befriedigt noch nicht, da ein Mann nur dann Onkel sein kann, wenn er einen Bruder oder  
eine Schwester hat, deren Sohn der Neffe ist. Wir müssen also unser Universum so erweitern, daß es den  
Bruder und seine Frau oder eine Schwester mit ihrem Mann einbegreift. Auf diese Weise, heißt es, gelangen  
wir allein mit Hilfe der Logik von jedem beliebigen Prädikat des Absoluten zum letzten Schluss der  
Dialektik, zur sogenannten absoluten Idee. Dem ganzen Vorgang liegt durchweg die Voraussetzung  
zugrunde, daß nicht wirklich wahr sein kann, was sich nicht auf die Wirklichkeit als Ganzes bezieht. Diese  
Voraussetzung wurzelt in der traditionellen Logik, die davon ausgeht, daß jeder Satz ein Subjekt und ein  
Prädikat besitzt. Nach dieser Auffassung besteht jedes Faktum aus etwas, das eine Eigenschaft hat. Daraus  
folgt, daß Beziehungen nicht wirklich sein können, da sie zwei Dinge und nicht nur ein Ding voraussetzen.  
Onkel ist eine Beziehung, und ein Mann kann Onkel werden, ohne es zu wissen. In diesem Fall bleibt der  
Mann, empirisch gesehen, unbeeinflusst davon, daß er Onkel wird; er hat keine Eigenschaft, die er nicht  
zuvor besessen hätte, wenn wir unter Eigenschaften etwas verstehen, das nötig ist, um ihn so zu beschreiben,  
wie er an sich ist, abgesehen von seine Beziehungen zu anderen Leuten und Dingen. Bei Anwendung der  
Subjekt-Prädikat-Logik diese Schwierigkeiten zu umgehen, ist allein unmöglich, wenn man sagt, daß die  
Wahrheit eine Eigenschaft nicht nur des Onkels oder nur des Neffen, sondern des aus Onkel und Neffen  
bestehenden Ganzen ist. Da alles mit Ausnahme des Ganzen Beziehungen zu äußeren Dingen hat, so folgt  
daraus, daß nichts ganz Wahres über einzelne Dinge ausgesagt werden kann und daß tatsächlich nur das  
Ganze wirklich ist. Dies ergibt sich direkt aus dem Faktum, daß A und B sind zwei kein Subjekt-Prädikat-
Satz ist; deshalb kann es nach der traditionellen Logik einen solchen Satz nicht geben. Deshalb kann es  
auch immer nur weniger als zwei Dinge auf der Welt geben; und deshalb ist allein das Ganze, als Einheit,  
wirklich. 
[Russell (2007), S. 740-741]
82
vgl. etwa Russell (2007), S. 738
83
Russell (2007), S. 752
Annäherung an den Begriff Entfremdung
21

 2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
dazugehörigen Weltbilder zu erzeugen. Keine Entfremdung wäre demnach ausschließlich für 
den Fall eines einheitlichen Weltbildes zu erwarten.
Die verschiedenen im Konflikt zueinander stehenden Weltbilder können als dem Einzelnen 
zugehörig verstanden werden;  genau genommen als verschiedene Einzelne,  die noch nicht 
wieder   im  Allgemeinen   aufgegangen   sind.  Dies   kann   durch   die   Negation   der   Negation 
überwunden   werden,   denn   sie   ist   diese   sich   wiederherstellende   Gleichheit   oder   die  
Reflexion (d.i. das Zurückkehren) im Anderssein in sich selbst. 84 Sie stellt also sicher, dass 
alles auf das letzte Ziel, die Vernunft,  bezogen  wird. Denn  die Vernunft  hat damit das ihr  
Fremde hinweggearbeitet, hat das Besondere [das Einzelne, N.G.] in sich zurückgenommen,  
hat die ’Entfremdung überwunden’. 85
84
Marcieniec (1958), S. 33
85
Ebenda, S. 33
Annäherung an den Begriff Entfremdung
22

 2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
 2.3  Weiterführende Erkenntnisse 
Weder   der   rousseausche   noch   der   hegelsche  Ansatz   zur   Entfremdung   sind   unumstritten. 
Mögliche Punkte, an denen die Kritik ansetzt, habe ich bereits angesprochen. Natürlich sind 
das bei Weitem nicht alle gewesen, da für eine umfassende Kritik der Umfang dieser Arbeit 
auch   nicht   ausreichend   ist   und   es  vorrangig  um   die   Erschließung   der   theoretischen 
Grundlagen ging. Bevor Rückschlüsse aus den beiden im extremen Gegensatz zueinander 
stehenden   Theorien   gezogen   werden,   soll   in   diesem   Kapitel   auf   Rousseau   und   Hegel 
folgende   Theoretiker   und   Theorien   eingegangen   werden.   Insbesondere   auch   weil   das   die 
weiterführende Analyse erleichtern wird.
 2.3.1  Materialismus
Im Anschluss an und in Konfrontation zu Hegel entwickelte sich der Materialismus. Bis es zu 
dem in der heutigen Zeit mit Materialismus verbundenen Verständnis kam, mussten aber auch 
in dieser Denkrichtung zunächst Kämpfe ausgetragen werden.
 2.3.1.1  Feuerbach oder Wege zum Materialismus
Als einer seiner Vorreiter kann Ludwig Feuerbach (1804-1872)  gesehen werden, der Hegel 
schon in frühen Jahren kritisierte,  (gesehen werden). Dabei stieß er sich insbesondere an dem 
Absoluten, denn dies  (…) sei nichts anderes als der Abgeschiedene Geist der Theologie, der  
in Hegels Philosophie umgehe. 86 Insbesondere seine Einseitigkeit in Richtung der Vernunft 
ist   der  grundlegende  Kritikpunkt.   Feuerbachs   Ziel   war   die   Hervorhebung   des   Sinnlich-
Materiellen, das er von Hegel nur als Begriff verstanden sieht. So lautet seine These:   In  
Wirklichkeit ist alle Existenz nicht begrifflich, sondern sinnlich zu verstehen. 87
Der Geist wird demzufolge durch den Leib beeinflusst, sodass es heißen müsste Leib-Geist-
Bewusstsein statt, wie bei Hegel, Geist-Bewusstsein-Leib. Daraus folgt:  das Unendliche der  
86
Hirschberger (2003b), S. 470
87
Ebenda, S. 470
Annäherung an den Begriff Entfremdung
23

 2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
Religion ist in Wirklichkeit nichts anderes als ein Endliches, Sinnliches, Bestimmtes; aber  
mystifiziert. 88  Die  Religion  als  übergeordnete Instanz  ist in  Folge  dessen  abzulehnen.  Es 
kommt   zu   Umkehrschluss   nach   dem   das   Menschliche   das   Göttliche   ist 89,   oder   anders 
gesagt, das Absolute ist der Mensch.90 
 2.3.1.2  Dialektischer Materialismus
Feuerbach   war   der   Schrittmacher   für   Karl   Marx   (1818     1883),   der   zusammen   mit  
Friedrich   Engels   [1820     1895;   N.G.]   der   eigentliche   Begründer   des   historischen   und  
dialektischen Materialismus ist. 91  Allerdings war  Marx  mit der Interpretation Feuerbachs 
alles andere als einverstanden: insbesondere seinen  Elf Thesen über Feuerbach 92 lässt sich 
diese   Kritik   entnehmen.   Zwar   habe   Feuerbach   die   religiöse   Vorstellungswelt   in   ihre 
sinnlichen Elemente aufgelöst, er habe es aber des Weiteren versäumt, den Materialismus zu 
Ende zu denken.
Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus   den Feuerbachschen  
mit eingerechnet   ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit,  
nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird; nicht  
aber   als   menschlich   sinnliche   Tätigkeit,   Praxis,   nicht   subjektiv.   Daher  
geschah   es,   daß   die  tätige  Seite,   im  Gegensatz  zum   Materialismus,   vom  
Idealismus   entwickelt   wurde     aber   nur   abstrakt,   da   der   Idealismus  
natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt. 93
Zwei Dinge kann man aus diesem Ausschnitt der ersten These mehr als deutlich herauslesen: 
Erstens, dass laut Marx der Materialismus   bzw. die ihn entwickelnden Philosophen   zu 
diesem   Zeitpunkt   den   Fehler   begangen   hat,   dass   er   eine   rein   theoretische   Konstruktion 
88
Ebenda, S. 471
89
Ebenda, S. 471
90
homo homini deus [Hirschberger (2003b), S. 471]
91
Hirschberger (2003b), S. 472
92
Engels, Friedrich (1968): Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie. 
Berlin: Dietz, S. 73-78
93
Ebenda, S. 73
Annäherung an den Begriff Entfremdung
24

 2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
darstellt, womit seine Brauchbarkeit allein auf die bürgerliche Gesellschaft beschränkt ist. Im 
marxschen Sinne der praktischen Anwendung und Verwendbarkeit der Theorie ist das Ziel 
jedoch   darüber   hinausgehend,   nämlich   die   Abschaffung   der   bürgerlichen   Gesellschaft. 
Insofern gipfelt seine Kritik in der elften These, die lautet:  Die Philosophen haben die Welt 
nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern. 94 
Zweitens   kann   festgestellt   werden,   dass   Marx   die   Rückschlüsse   des   Idealismus   zwar 
ablehnte,  nichts   desto   trotz  aber   der   Meinung   war,   dass   dieser   in   Teilen     etwa   bei   der 
Betrachtung   der   Tätigkeit     weiter   durchdacht   wurde   als   der   bisherige   Materialismus. 
Insbesondere die Methode der Dialektik hält er für richtig. So kommt er zu dem Schluss:
Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegelschen  
nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil. Für Hegel ist der  
Denkprozeß,   den   er   sogar   unter   dem   Namen   Idee   in   ein   selbständiges  
Subjekt   verwandelt,   der   Demiurg   des   Wirklichen,   das   nur   seine   äußere 
Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts anderes als das  
im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle. 95
Er hält die komplette Ablehnung Hegels für eine, zumindest bezügliche der Methode, falsche 
und   dazu   allein   vom   Zeitgeist   angetriebene   Modeerscheinung   und   bekannte   sich   daher  
offen   als   Schüler   jenes   großen   Denkers   (…).96   Er   bezeichnet   sich   aber   selbst   als 
umgestülpten   Hegelianer,   denn  Dialektik   steht   bei   ihm   auf   dem   Kopf.   Man   muß   sie  
umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken. 97
 2.3.1.3  Entfremdung bei Marx
Der   Ursprung   der   Entfremdung   liegt   nach   Karl   Marx   im   Ökonomischen;   erst   aus   den 
wirtschaftlichen Verhältnissen resultieren die zwischenmenschlichen.98  Insbesondere in den 
Ökonomisch-philosophischen Manuskripten  arbeitet er sein Verständnis der Entfremdung 
aus. Dabei unterscheidet die folgenden vier Sphären99 der Entfremdung:
94
Ebenda, S. 78
95
MEW 23, S. 27
96
MEW 23, S. 27
97
MEW 23, S. 27
98
Meyer (1984), S. 125
99
Ebenda, S. 124-125
Annäherung an den Begriff Entfremdung
25

 2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
1. Das Arbeitsprodukt als eine dem Arbeiter fremde, unabhängige Macht.
2. Die produzierende Arbeit als an sich entfremdet Betätigung.
3. Zudem entfremdet die Arbeit den Menschen von seiner Natur.
4. Daraus resultiert die  Entfremdung des Menschen von den Menschen. 100
Einerseits lässt sich leicht erkennen, in welchem Ausmaß der Ökonomie Gewicht zugeordnet 
wird.   Speziell die letzten beiden Punkte  verdeutlichen, dass die marxsche Auffassung von 
Entfremdung in direktem Zusammenhang zu der Philosophie Rousseaus zu sehen ist; und 
eben nicht nur zu der von Hegel.
 2.3.1.4  Konklusion
Vereinfacht gesagt  ist der Materialismus die Umkehrung des Idealismus. Die dazugehörige 
Argumentation   wurde   hier   kurz   wiedergegeben.   Bezüglich   der   Entfremdung   wurde 
festgestellt,   dass   sie   als   Entfremdung   durch   die   ökonomischen   Verhältnisse   verstanden 
werden kann. Zudem wird durch Marx die Praxistauglichkeit der Theorien gefordert; diese 
dürfen nicht nur die Möglichkeit zur Interpretation der Wirklichkeit liefern, sie müssen auch 
zu tatsächlichen sozialen Veränderungen führen können. Da nur dann Veränderung, im Sinne 
des Überkommens alter Strukuren, möglich sind. Dabei ist maßgeblich, dass es Marx nicht 
auf allein auf das alleinige Verändern dieser Strukturen ankommte, sondern er einen Weg für 
deren   totale  Abschaffung,   durch   Revolution,   sucht.   Dadurch   ergibt   sich   nämlich   erst   die 
Möglichkeit neue gerechtere und ausgewogenere Strukturen zu schaffen.
 2.3.2  Exkurs: Doppelte Vergesellschaftung
Die   Theorie   der  doppelten   Vergesellschaftung101  kann   als   Neben-   bzw.   Endprodukt   des 
Gedankengangs, dass klassische (soziologische) Theorien nur prinzipiell geschlechtsneutral 
100
Ebenda, S. 125
101
die Theorie ist erstmals bekannt geworden als  Hannoveraner Ansatz  [Morel, Bauer u.a. (2001): 
Soziologische Theorie. Abriß der Ansätze ihrer Hauptvertreter. 7. Auflage. München: Oldenbourg, S. 268]
Annäherung an den Begriff Entfremdung
26

 2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
konzipiert   sind,  verstanden   werden.   Der   Hannoveraner  Ansatz   wird   auch   als  Theorie   der 
doppelten   Vergesellschaftung   der   Frau   gesehen.  Als   die   Hauptvertreterinnen   der   Theorie 
können   Regina   Becker-Schmidt,  die   den  Ansatz   auch   1985   eingeführt   und   in   der   Folge 
bekannt gemacht hat,102 und Gudrun-Axeli Knapp gesehen werden.
Die Grundzüge des Ansatzes können wie folgt zusammengefasst werden. Vergesellschaftung 
hat  einen  Doppelcharakter:   Sie   beruht   nicht   nur   auf   (vermeintlich)   geschlechtsneutralen 
sozialen   (Produktions-)Verhältnissen,  sondern  erfolgt   zugleich   im   Rahmen   von 
Geschlechterbeziehungen 103  und die diese regelnden  Geschlechterverhältnisse 104, wobei 
beide Dimensionen der Vergesellschaftung in Wechselbeziehung miteinander stehen.
Der Wahrheitsgehalt der Einschätzung, dass Geschlechterbeziehungen und -verhältnisse bei 
der Betrachtung der Gesellschaft  mit zu berücksichtigen sind, ist unmittelbar einsichtig. Es 
soll weiterhin festgehalten werden, dass in besondere in den klassischen   aber auch in vielen 
modern  zu   nennenden    sozialwissenschaftlichen  Theorien  dieser Aspekt unberücksichtigt 
geblieben   ist.   Speziell   das   vorherrschende   patriarchalische  Welt-   und   Menschenbild   kann 
dafür verantwortlich gemacht werden.105
Als   problematisch   kann  die  einseitige   Orientierung   der   Theorie   als   doppelte 
Vergesellschaftung der Frau gesehen werden. Zwar ist hier anzumerken,  dass es laut  ihrer 
Vertreterinnen  auch   eine derartige Vergesellschaftung  des  Mannes  gäbe,  diese sei aber  zu 
vernachlässigen.   Insofern   taugt   die   Theorie   nur   bedingt   als   universelle   Erweiterung; 
verdeutlicht jedoch zum wiederholten Male,  mit dem speziellen Bezug zur Genus-Gruppe 
Frau, dass viele klassische Theorien äußerst einseitig ausgelegt sind.
102
Becker-Schmidt, Regina (1987): Die doppelte Vergesellschaftung   die doppelte Unterdrückung: 
Besonderheiten der Frauenforschung in den Sozialwissenschaften. In: Unterkirchner, Lilo/ Wagner, Ina 
(Hg.): Die andere Hälfte der Gesellschaft. Soziologische Befunde zu geschlechtsspezifischen Formen der 
Lebensbewältigung. Österreichischer Soziologentag 1985. Wien: ÖGB-Verlag, S, 10-25
103
… sind alle Beziehungen zwischen Männern und Frauen,  … persönliche und sachliche, solche des  
Austausches (von Arbeit, Leistungen, Bedürfnisbefriedigung) und solche des Ausschlusses (von Räumen,  
Praxisfeldern, Ressourcen, Ritualen)  
[Morel (2001),  S. 271]
104
… bezeichnen das ganze Feld der Regelungen, Machtverhältnisse, denen die Geschlechterbeziehungen 
unterliegen, sowie die Muster ihrer Legitimation. Der Vorstellungsinhalt schließt dabei auch die 
Ordnungsprinzipien  ein, durch die die beiden Genus-Gruppen (Männer und Frauen als sozial konstituierte 
Gruppen) gesellschaftlich zueinander in Verhältnis gesetzt werden, nämlich:  Trennung und 
Hierarchisierung  oder  Egalität und Komplementarität . Das Geschlechterverhältnis bestimmt daher auch 
die soziale Position bzw. Funktion, den sozialen Status bzw. die Ausstattung, die Ressourcen und die soziale 
Macht sowie das Ausmaß der sozialen Wertschätzung der Genus-Gruppe. [Morel (2001),  S. 271-272]
105
Becker-Schmidt, Regina/Knapp, Gudrun-Axeli (2007): Feministische Theorie zur Einführung. 4. Auflage, 
Hamburg: Junius, S. 14ff.
Annäherung an den Begriff Entfremdung
27

 2 Entfremdung des Individuums
Opposition von Natur und Kultur?
Versteht man diese Feststellung nicht ganz so einseitig, lassen sich daraus für uns interessante 
Konsequenzen   folgern.  Zusammenfassend   lassen   sich   die  Konsequenzen  mit   dem   Begriff 
(soziale)   Rolle.   Dabei   kann   etwa   zwischen   Rollenbildern   Mann   und   Frau   unterschieden 
werden,   oder   aber,  zwischen   Rollenaufgaben   bzw.  -anforderungen   aus   den   Bereichen   der 
Produktions-   bzw.   der   Reproduktionsverhältnisse.   Letzteres   kann,   meines   Erachtens,   auf 
beide Genus-Gruppen angewendet werden; wenn auch mit Unterschieden, die es aber auch 
interindividuelle gibt.106
106
vgl. Esser Bd. 5, S. 143ff. und Esser Bd. 6, S. 415ff.
Annäherung an den Begriff Entfremdung
28

Opposition von Natur und Kultur?
 3  Resümee
Im Anschluss an das letzte Kapitel kann festgestellt werden, dass der Umfang dieser Arbeit 
nicht ausreicht,  um die bearbeitete Problematik umfassend darzustellen, zumal nicht davon 
ausgegangen werden kann, dass durch Rousseau und Hegel jede mögliche Interpretation des 
Thematik   abgedeckt   ist.   Gewisse   Schwächen   wurden   schon   im   abschließenden   Kapitel 
angeschnitten. Im Folgenden soll das bisher Erarbeitete kurz zusammengefasst werden.
Bezüglich Rousseau lässt sich das Fazit ziehen, dass dieser dem Anspruch gerecht wird, als 
Vertreter   des   und   Streiter   für   den   Primaten   der   Natur   zu   gelten.   Einschränkend   kann 
allerdings gesagt werden, dass es sich dabei um eine, auch seiner Meinung nach, theoretische 
Konstruktion   handelt.   Innerhalb   dieses   Konstruktes   lässt   sich   allerdings   alles   auf   den 
Ursprung in der Natur zurückführen. Auch wenn dies im Rahmen des Gesellschaftsvertrages 
häufig wie auf Vernunft basierend erscheint, geht  es  letztlich doch darum, dass die Rechte, 
Freiheit und Gleichheit des Naturzustandes bestmöglich umgesetzt in den vergesellschafteten 
Zustand   übertragen   werden.   Dabei   geht   ihm   insbesondere   auch   um   die   Gefühle   der 
Menschen   im   Naturzustand   oder   anders   gesagt   darum,   dass   diese   Gefühlswelt   in   der 
Zivilisation zu Unzufriedenheit führen würde, wenn nicht ein Verfahren verwendet wird, dass 
diese negativen Folgen verhindert. Rousseaus Kritik setzt dann auch direkt an den bisher 
entwickelten Verfahrensweisen  an, die er für fehlerhaft hält. Seine Theorie soll diese Fehler 
früherer Theorien  beheben. Das lässt sich insbesondere auch von der Entfremdung, die als 
Entfremdung von der Natur des Menschen versteht, sagen.  Die Frage nach der Opposition 
von   Natur   und   Kultur  betreffend   verhält   es   sich  so,   dass   sich   diese   Problematik   zirkulär 
auflöst.   Konkret   heißt   das:   es   geht   letztlich   darum,  eine   Kultur   entsprechend   der 
menschlichen Natur zu schaffen. 
Das   Phänomen   des   zirkulären   Schlusses   trifft   auch   auf   die   Theorie   Hegels   zu.   Ihr 
Ausgangspunkt ist die Absolutheit der Vernunft   das Allgemeine; eine Prämisse die nach 
Hegel nicht  einmal mehr bewiesen werden muss. Sein Ziel ist es nachzuweisen, dass alles 
Annäherung an den Begriff Entfremdung
29

 3 Resümee
Opposition von Natur und Kultur?
unter diesem Allgemeinen subsumiert werden kann. Dabei kennt er auch eine individuelle 
Komponente:   das   Einzelne.   Der   Prozess   der   Selbstrealisation   ermöglicht   es,   dass   die 
Einzelaspekte der Vernunft wieder in deren Ganzheit überführt werden. Dieser Prozess ist bei 
ihm das Bewusstsein; bei der auf das Bewusstsein gerichteten Betrachtung des Bewusstseins 
folgerichtig   das   Selbstbewusstsein.   Das   Ziel   des   Prozesses   ist,  wieder   im   Geist,   der   dem 
Bewusstsein   als   das   Allgemeine   übergeordnet   ist,   aufzugehen.   Die   größtmögliche 
Verallgemeinerung, der allem gemeinsame Nenner, ist der Weltgeist; dieser kann in Diktion 
Hegels   auch   als   Gott   bezeichnet   werden.   Die   von   ihm   entwickelte   Systematik   ist   die 
Dialektik, bestehend aus These, Antithese und Synthese. Sie hat prozessualen Charakter, was 
ihm   etwa  die   dialektische   Herleitung   eines   Staats-   oder   Naturbegriffs  ermöglicht.   Diese 
lassen sich aber immer auf die von ihm dialektisch hergeleitete Religion zurückführen, was 
zu   einer   gewissen,   wenn   auch   in   sich   logischen,   Einseitigkeit   führt.   So   ist   es   nicht 
verwunderlich,   dass   die   erste  und   heftigste   Kritik   an   seinem   System   an   diesem   Punkt 
ansetzte.   Entfremdung   ist   laut   Hegel   das  Abweichen   vom   Absoluten;   also   der 
transzendentalen   Vernunft   Gottes.   Der   in   der   Dialektik   enthaltene   Lösungsansatz   zur 
Überwindung der Entfremdung ist die Negation der Negation. Es wird aber auch deutlich, 
dass   die   Entfremdung   unumgänglich   ist,   da   sie   Bestandteil   der   Selbsterkenntnis   des 
Absoluten ist. Bei Hegel geht letzten Endes alles darin auf, sodass es keine Opposition von 
Natur und Kultur geben kann; beides ist ja Teil eines Ganzen.
In   der   Entwicklung   hin   zum   Materialismus   sollte   gerade   die  religiöse   Komponente   der 
hegelschen Philosophie revidiert werden. Der Ansatz, um dies zu begründen, war der Bezug 
zum Sinnlich-Materiellen,  weswegen es  zu einer parallelen  Entwicklung von Sensualismus 
und Materialismus  kam. Eine in diesem Umfeld lebende und denkende Persönlichkeit habe 
ich  vorgestellt:  Ludwig Feuerbach. Er erhob den Menschen in den Bereich des Göttlichen 
und machte ihn zu Maßstab aller weiteren Überlegungen.
Daran   anschließend   kann   die   Entwicklung   des   (dialektischen)   Materialismus   durch   Karl 
Marx   und   Friedrich   Engels   gesehen   werden.   Sie   teilten   die  Ablehnung   bezüglich  Hegels 
Beurteilung des Absoluten, verwarfen aber ebenso die durch Feuerbach vertretene These der 
Absolutheit ab, da auch diese nur dazu geführt hatte, ein theoretisierendes Gedankenspiel zu 
schaffen. Insbesondere Karl Marx forderte aber eine Philosophie   bzw. Philosophen   die 
Annäherung an den Begriff Entfremdung
30

 3 Resümee
Opposition von Natur und Kultur?
auch   den  Anspruch   haben   sollte,  reale Veränderungen   hervorzurufen.   Dabei  kehrte   er   die 
dialektische   Methode   Hegels   ins   Gegenteil   um,   sodass   nach   Marx   das   Materielle   der 
Ursprung   und   das   letzte   Ziel   ist.   Im   Anschluss   an   diese   Veränderung   der   Dialektik 
entwickelte er sein sozial-ökonomisches Gesellschaftssystem. Dabei ist er insbesondere auch 
auf den Punkt der Entfremdung eingegangen, welche ihm zufolge ihren Ursprung im Bereich 
des   Ökonomischen   zu   haben  schien;   erst   im   Anschluss   daran   lassen   sich   auch   ihre 
zwischenmenschlichen Aspekte entwickeln.
Zur Verdeutlichung   gerade auch der einseitigen ökonomischen Betrachtung   wurde ein 
kurzer  Abriss   der   doppelten  Vergesellschaftung   gegeben.   Der  Ansatz  stellt   in   erster   Linie 
heraus,   dass   auch   die   Geschlechterbeziehungen   und   -verhältnisse   zu   beachten   sind;  im 
übergeordneten Sinne macht er zudem deutlich, dass eine derart eindimensionale Betrachtung 
gesellschaftlichen Zusammenlebens und Interagierens nicht möglich ist. Der Exkurs endet 
deshalb auch mit einem Verweis auf den Begriff der soziale Rolle, was als Hinweis darauf zu 
verstehen  ist,   wie   es   möglich   sein   könnte,  von   der   philosophischen   Debatte   über 
Entfremdung     Natur   und   Kultur     zu   einem   praxisnahem   Analyseinstrumentarium   zu 
kommen.
Schließlich muss ich resümieren, die Erkenntnis gewonnen zu haben,  dass  es entscheidend 
ist,  auf welcher Grundlage ein System aufbaut. So haben sowohl Rousseau als auch Hegel 
ausgehend von ihren Überzeugungen eine Systematik entwickelt. Beide haben sich dadurch 
letzten  Endes  in  ihren  Überzeugungen  selbst  bestätigt.  Nichts desto trotz,  sind die daraus 
entwickelten Systeme  nicht in ihrer Gänze falsch, der jeweilig mögliche Erkenntnisgewinn 
ist, wie ich hoffentlich zeigen konnte, enorm. 
Daraus lassen sich mehrere Schlussfolgerungen ableiten.  Zum einen ist es, wenn man nur 
genügend abstrahiert, gleichgültig, ob der Vorrang in der Natur oder der Kultur gesehen wird. 
Erst   genanntes   wird   üblicherweise   aus   einer   anthropologischen   Sichtweise   erarbeitet, 
insbesondere mit Bezug der Entwicklung des Menschen weg von Instinktiv-animalischen-
Wesen zum Menschen; letzteres wird meist mit der Veranlagung des Menschen zur Vernunft 
hergeleitet.   Zum   anderen   muss   der   häufig   angestrebte   Universalitätscharakter   solcher 
Theorien, zumindest in Hinsicht auf ihre praktische Verwendbarkeit, aufgebrochen werden. 
Annäherung an den Begriff Entfremdung
31

 3 Resümee
Opposition von Natur und Kultur?
Offensichtlich kann das durch weitere Differenzierung und Funktionalisierung gelingen. Nur 
dürfen dabei nicht die psychologischen Aspekte   Gefühle   unberücksichtigt bleiben. Die 
Differenzierung   sich   also   nicht   nur   strukturell-systematische  Aspekte   beziehen.   Da,   wie 
gezeigt wurde, der Mensch eben nicht nur Bestandteil eines System ist   und auch nicht sein 
kann.
Das Urteil kann also nur sein, dass Entfremdung in mannigfaltigen Formen auftritt. Zudem 
ist   deutlich   geworden,   dass   sie   tatsächlich   über   das   Begriffspaar   Natur-Kultur   hergeleitet 
werden kann; bei der Herleitung handelt es sich allerdings um eine philosophische. Daran 
anknüpfend ist erkennbar geworden, dass die Philosophie Systeme gut darstellen kann; die 
Frage,   welches   System   verwendet   werden   sollte   wurde   nicht   beantwortet.   Die   einzelnen 
daraus   entwickelten   Merkmale   sind   zur   Verwendung   und   Konkretisierung   den   anderen 
Humanwissenschaften   (etwa   Politikwissenschaften,   Soziologie   und   Psychologie)   zu 
übergeben.
Annäherung an den Begriff Entfremdung
32

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